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27.10.2005

Das Ziel ist das Ziel. – Warum sich die Politik endlich an ihren Ergebnissen messen lassen sollte

Referat von Bundesrat Christoph Blocher gehalten am Donnerstag, 27. Oktober 2005, anlässlich des 9. Gewerbekongresses des Kantonalen Gewerbeverbandes Zürich. 27.10.2005, Zürich Zürich, 27.10.2005. Bundesrat Christoph Blocher nahm heute am 9. Gewerbekongress des Kantonalen Gewerbeverbandes Zürich teil. In seinem Referat sprach der Justizminister über das Bundeshaushaltsdefizit, den Anstieg von über 25 Milliarden Franken Schulden seit dem Volks-Ja zur Schuldenbremse und nahm Stellung zu der ihm vorgeworfenen „Sparwut“. Es gilt das gesprochene Wort Es gilt sowohl das schriftliche wie das gesprochene Wort. Der Referent behält sich vor, allenfalls auch stark vom Manuskript abzuweichen. «Der Weg ist das Ziel» Sie kennen sicher alle den Satz „Der Weg ist das Ziel“. Es wird einem dabei ganz wolhig zumute. Darum hört man ihn auch so oft. Wer immer diesen Gedanken einbringt, erntet zustimmendes Gemurmel. Der „Weg ist das Ziel“ meint: Nicht auf das Erreichen des Ziels kommt es an. Wir sollten es schön miteinander haben. Der „Weg ist das Ziel“ meint: Wir sollten mehr Wert auf die Zusammenarbeit legen und einen angenehmen Umgangston pflegen und nicht alles an der Zielerreichung messen. Der „Weg ist das Ziel“ meint, es ist nicht so wichtig, wohin wir gehen; vielleicht weiss man nicht einmal, ob der Weg überhaupt an ein Ziel führt. Hauptsache, man ist unterwegs und hat es gut miteinander. Unter uns gesagt: Es handelt sich genau besehen um einen der dümmsten Sätze. Vielleicht gilt die Devise für den Sonntagsspaziergang mit der Familie. Aber auch dort nur bedingt und wenn, dann für die Eltern. Die Kinder wissen meist genau, wohin sie wollen – Richtung Ausflugsrestaurant. Mein Verständnis von erfolgreicher Arbeit ist ein anderes: Auf die Zielerreichung, den Erfolg, die Auftragserfüllung allein kommt es an. Nicht die persönliche Befindlichkeit ist in den Mittelpunkt zu stellen. Sonst scheitert man unweigerlich, sobald ein Entscheid unangenehm ist oder Zumutungen mit sich bringt. Führen heisst, im Interesse der Sache Unannehmlichkeiten auf sich nehmen. Tut das der oberste Chef nicht, so tun es seine Mitarbeiter noch viel weniger und damit bleibt das ganze Unternehmen auf der Strecke. Oder jede andere Einrichtung, die Resultate erbringen sollte. Was nützt mir der schönste Weg, wenn das Resultat nicht stimmt? Angenommen ein Schreiner montiert Ihnen eine Türe, dann erwarten Sie doch auch, dass diese Türe einwandfrei gefertigt wurde und sich anstandslos öffnen und schliessen lässt. Kein Handwerker wird Ihnen vorschwärmen können, wie toll das Arbeitsklima in seinem Betrieb gewesen wäre und wie integrativ die Zusammenarbeit, um so allfällige Mängel wegzuschwatzen. Sie werden mit Recht darauf bestehen, dass das Ergebnis stimmen muss. Der Prozess ist zweitrangig. Denn der Weg ist nur ein Bestandteil des Ergebnisses, aber nie das Ergebnis selber. Sie alle haben zumindest geschmunzelt über das Beispiel mit dem Schreiner und der Türe. Im Gewerbe, in der Industrie, im freien Markt weiss jeder, dass die Resultate zählen. Und wer es nicht weiss, dem wird dieses Prinzip durch den Markt, das heisst durch die Konsumenten und Kunden unsanft beigebracht. Leider feiert «Der Weg ist das Ziel» in anderen Bereichen regelrechte Triumphe. Unsere Schulen wurden jahrelang nach diesem Grundsatz geführt. Mit dem Ergebnis, dass Schulabgänger Mühe haben, überhaupt einen deutschen Text zu verstehen. Dabei gehörten solche Grundfertigkeiten zu den selbstverständlichen und auch verbindlichen Zielen im Bildungswesen. Über Rechtschreibung und mathematische Fähigkeiten wollen wir hier gar nicht reden. Eine Pädagogik – und ich rede jetzt nicht nur von Schulen, sondern auch vom Elternhaus -, die nur über den Weg palavert, von Atmosphäre und Wohlfühlen, betrügt die Kinder um andere, ebenso wichtige Eigenschaften: Durchhaltewillen, Verantwortungsbewusstsein, Leistungsbereitschaft, Zielorientierung. Primäres Ziel: Haushaltssanierung Und wie steht es in der Politik? „Die Schweiz muss ihre Stärken pflegen und ihre Schwächen beheben, um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können… Zu behebende Schwächen: der Bundeshaushalt ist dauerhaft auszugleichen.“ So steht es in der Legislaturplanung des Bundesrates. Immer nach den nationalen Parlamentswahlen verabschiedet der Gesamtbundesrat ein Papier, das die wichtigsten Ziele für die kommenden vier Jahre benennt. 2003 entschied sich der Bundesrat dafür, die Sanierung der öffentlichen Finanzen an oberste Stelle zu setzen. Kein einfacher Job. Aber ein klares Ziel. Über den Weg, dieses Ziel zu erreichen, ist freilich zu diskutieren. Man hat den besten Weg zu wählen. Aber nicht, weil er das Ziel ist, sondern, weil er zum Ziel führt. Jeder Weg muss zumindest eines garantieren – das Erreichen der gesetzten Ziele. Die Sanierung der Haushalte ist allerdings ein altes Postulat. Schon bei seinem Amtsantritt als Finanzminister hielt Kaspar Villiger 1996 die gleichen Ziele fest. Ich zitiere wörtlich: - „Das Haushaltsdefizit ist innerhalb von wenigen Jahren zu beseitigen.“ (Das war 1996!) - „Steuer- und Abgabenquoten müssen im internationalen Vergleich tief bleiben.“ (Das war 1996!) - „Jede kleine Sparmöglichkeit muss energisch genützt werden.“ (Auch dieses Ziel datiert aus dem Jahre 1996!) Neun Jahre später können wir bilanzieren: Keines der Ziele wurde auch nur annähernd erreicht. Die Haushaltsdefizite sind nach wie vor traurige Realität. Seit 1996 sind sogar 40 Milliarden Franken Schulden dazugekommen. Zu den Steuer- und Abgabenquoten: In keinem westlichen Industrieland sind von 1990 bis 2002 die Steuern so stark gewachsen wie in der Schweiz. Dazu kommen all die verstecken Abgaben, die ungebremst ansteigen. Ich erinnere an die Krankenkassenprämien oder den ganzen Gebührendschungel von Bund, Kantonen und Gemeinden. Kommen wir zu Villigers dritter Forderung: „Jede kleine Sparmöglichkeit muss energisch genützt werden.“ Ich spüre nichts davon. Die Politik verwendet ihre Energie vor allem darauf, an möglichst viele Geldquellen zu kommen. Leider mit Erfolg. Das war schon vor 1996 so. Und danach nicht anders. Auch seit 2003 sieht die Sache leider nicht besser aus. Das Legislaturziel 2003/07 sollte bezüglich des Bundeshaushaltes eine Wegmarke setzen. In diesem Sommer wurde nun das Finanzdepartement beauftragt, die Staatsausgaben zu „überdenken“, um diese bis zu 20 Prozent zu reduzieren. Ich muss sie nicht daran erinnern, dass darauf selbst Regierungsmitglieder an die Öffentlichkeit traten, um die allgemeine „Sparwut“ zu beklagen. Noch bevor irgendwo ein Franken effektiv eingespart wurde! Es wird schon über rein hypothetische Folgen präventiv gejammert. Wer nur den Weg sieht, der beschwerlich sein kann und manchmal beschwerlich sein muss, bringt natürlich die Kraft nicht auf, an ein Ziel zu gelangen. Wer grundsätzlich jede Verantwortung verweigert, wird sich auch jedem verbindlichen Ziel verweigern. Wer die eigene Wehleidigkeit zum Massstab nimmt – was eine Spezialität der 68er zu sein scheint – wird nichts erreichen… ausser ein paar persönliche Vorteile. Weil auch die Politiker um ihre eigenen Schwächen wissen, schuf man die Schuldenbremse, um gewissermassen eine gesetzliche Verpflichtung zur Sanierung des Haushaltes herbeizuführen. Im Jahr 2001 haben schliesslich Volk und Stände mit 84,7 Prozent dieser Vorlage zugestimmt und damit die Politik auf ein klares Ziel hin verpflichtet: Keine neuen Schulden. Wollen Sie wissen, wie viele Milliarden allein der Bund seit diesem denkwürdigen Urnengang angehäuft hat? Sie wollen es lieber nicht wissen, aber ich sage es Ihnen trotzdem: Die Schulden werden 2006 132,6 Milliarden Franken betragen. Weitere Defizite sind schon budgetiert. Damit haben wir seit dem Ja zur Schuldenbremse einen Anstieg von über 25 Milliarden Franken Schulden zu verzeichnen – was umgerechnet rund 5 Milliarden Franken zusätzliche Schulden jährlich ergeben. 5 Milliarden pro Jahr. Trotz Schuldenbremse. So sehen die Ergebnisse aus. Trotz Verfassungsauftrag. Trotz klarer Ziele. Allerdings hat schon wenige Monate nach dem Ja zur Schuldenbremse die damalige Präsidentin der SP, Christiane Brunner, öffentlich erklärt: „Ich bin überzeugt, dass der Bundesrat nochmals über die Bücher muss. Er muss die Einführung der Schuldenbremse verschieben und darf nicht gleich in eine Sparhysterie verfallen.“ (Tages-Anzeiger, 19.2. 2002) In „Sparhysterie verfallen“... offenbar hat sich der Bundesrat an Christiane Brunners Ratschläge gehalten. Und auch das Parlament: Schon die Schlagzeilen der Budgetdebatte aus dem Jahr 2001 sprechen Bände: Die Berner Zeitung titelte „Nationalrat von Sparkurs abgewichen“. Die Aargauer Zeitung berichtete: „SVP-Kürzungswünsche gebodigt“. Die Neue Zürcher Zeitung konstatierte: „Budgetdebatte jenseits der Schuldenbremse – Begehrlichkeiten zuhauf“. Finanzreferendum? Das Ziel ist das Ziel. Warum sich auch die Politik an ihren Ergebnissen messen lassen sollte. 25 Milliarden Franken neue Schulden seit 2001. Und ein Ausgabenwachstum, das weit über dem realen Wirtschaftswachstum inklusive Teuerung liegt. In den nächsten vier Jahren nehmen die Ausgaben in der ordentlichen Rechnung um 14,5 Prozent zu. Das sind durchschnittlich 3,4 Prozent im Jahr. Können Sie sich noch erinnern, wann die Schweizer Wirtschaft letztmals um 3,4 Prozent gewachsen ist? Die Schuldenbremse war der erste Versuch der Politik, sich selbst zu überlisten. Ein anderer Versuch wurde diesen Sommer wieder einmal ins Gespräch gebracht: Die Einführung eines Finanzreferendums. Eine gute Idee – aber nicht ganz neu. Mit dem Finanzreferendum sollte eine verfassungsrechtliche Möglichkeit geschaffen werden, Budgetposten über das Referendum zu bekämpfen. Jede Ausgabe, die einen bestimmten Betrag überschreitet (zum Beispiel 10 Millionen Franken) könnte mit Hilfe der direkten Demokratie hinterfragt und eventuell erfolgreich verhindert werden. Schon formierte sich der Widerstand. Der Präsident der nationalrätlichen Finanzkommission und CVP-Nationalrat, Felix Walker, ist nach eigenen Worten „kein Fan des Finanzreferendums“: „Das Parlament wird vom Volk gewählt und hat den Auftrag, für ein ausgewogenes Budget zu sorgen.“ Mit dem Finanzreferendum werde der Entscheid an das Volk delegiert, das Parlament flüchte sich also aus der Verantwortung. Na bitte: Besser man delegiert die Verantwortung, als dass man sie laufend nicht wahrnimmt. Das Parlament hat es schliesslich trotz Verfassungsauftrag, trotz Schuldenbremse nicht geschafft, für einen ausgeglichenen Haushalt zu sorgen. Die CVP-Präsidentin fürchtet sogar, mit einem Finanzreferendum könnte das Parlament geschwächt werden. Nicht geschwächt, nur bevormundet… durch den Souverän. Wobei allein schon ein drohendes Referendum in der Politik Wunder wirken kann. Das weiss jeder, der die innere Mechanik des schweizerischen Systems kennt. Dass die SP am Vehementesten gegen das Finanzreferendum wettert, braucht uns nicht weiter zu wundern. Ihr ganzes Programm läuft ja darauf hinaus, Steuergelder, also das hart erarbeitete Geld der anderen auszugeben, umzuverteilen, in die eigenen Gärtchen zu leiten. Aber sind es wirklich nur die Linken? Diese verfügen ja nicht über die Mehrheit. Nein, an der Zielverfehlung sind auch viele bürgerliche Politiker, die Mitteparteien, und die meisten Wirtschaftsverbände (dazu gehört in den letzten zwanzig Jahren leider auch der Gewerbeverband) mitschuldig! Kosten senken – Leistung steigern Sie haben sich eine Gegenüberstellung von Verwaltung und Unternehmen gewünscht. Im Unterschied zu vielen anderen Politikern sehe ich eine Verwaltung gar nicht als Gegensatz zu einem Unternehmen. Es braucht an beiden Orten eine deutliche Führungsstruktur, die klare Ziele erreicht durch Effizienz und ausgeprägtes Kostenbewusstsein. Führungsstruktur Was die Führungsstruktur betrifft: Den Kurs gibt die Politik vor – die Verwaltung setzt um. Oder um es noch einfacher zu sagen: Die Politik führt – die Verwaltung führt aus. Das heisst: So sollte es sein. Eine Aufgabenteilung, die nicht immer einfach zu bewerkstelligen ist. Gelegentlich muss man gegen die Eigenmächtigkeit der Verwaltung antreten. Oft politisiert sie auch lieber, als dass sie umsetzt. Und genauso oft muss man sich selber vor der Versuchung schützen, sich ganz in die umsorgenden Händen der Verwaltung zu begeben. Kostenbewusstsein Zum Kostenbewusstsein: Dieses ist in der Bundesverwaltung erschreckend mangelhaft ausgeprägt. Weder besteht eine Kostenrechnung, noch weiss man, welche Leistung im Staat wie viel kostet. Was für einen Gewerbetreibenden wie Sie alles Selbstverständlichkeiten wären. Sie finden Standardantworten bis in die obersten Etagen hinauf, die zum Beispiel so lauten: „Im Bund muss man weder mit Abschreibungen noch Zinsen rechnen. Und auch die Personalkosten muss man nicht rechnen, denn die Leute sind ja sowieso da!“ Gezielte Kostensenkungen können auf dieser Basis gar nicht durchgeführt werden. Ich spreche von Kostensenkungen, die keinen Leistungsabbau bringen. In der laufenden Verwaltungsreform sollen darum die Kostenrechnung und die Kostenbewirtschaftung rasch verwirklicht werden. Die Schaffung eines Kostenbewusstseins ist überlebenswichtig für die Schweiz, damit wir überhaupt eine vernünftige Grundlage bekommen, um auch beim Staat wirtschaftlich arbeiten zu können. Angenehm wird diese Aufgabe nicht sein. Ich hoffe nicht, dass man am Schluss mit Zufriedenheit lediglich feststellt: „Der Weg war das Ziel“! und nichts erreicht hat. In meinem Departement habe ich eine kleine Reorganisation der zentralen Dienste eingeleitet und in diesem Sommer zum Abschluss gebracht. Diese Reorganisation ist intern umgesetzt worden. Dabei wurden die Bereiche Information, Informatik, Finanzen, Personal, Betriebe und Logistik und das Sekretariat durchleuchtet. Es ist eine normale Entwicklung, dass jede Abteilung (in der Verwaltung: jedes Amt) ihr eigenes kleines Reich schafft. Das ergibt eine Menge Doppelspurigkeiten. In einer ersten Phase wurde für jeden Mitarbeiter – ich betone, für jede der insgesamt 585 Vollzeitstellen – sein Aufgabenbereich definiert und durch einen Wertanalytiker bestimmt, wie viele Tage Arbeit jede Aufgabe im Jahr beansprucht. Die Daten wurde ausgewertet und entsprechende Gespräche geführt. In einer zweiten Phase fragten wir uns, wo mehr Effizienz möglich ist, wo Reduktionen angebracht sind und wo noch andere Verantwortungsbereiche zugewiesen werden können. Wir haben festgestellt, dass unsere Zentralen Dienste die gleiche Leistung mit 116 Stellen weniger erfüllen können. Also mit rund 20 Prozent weniger Personal. Wie gesagt, die Reorganisation ist abgeschlossen. Natürlich haben wir nicht einfach 116 Personen auf die Strasse gesetzt. Vakante Stellen wurden nicht ersetzt, befristete Anstellungen nicht erneuert, Pensen reduziert, Pensionierungen vorgenommen. Den restlichen Mitarbeitenden stehen sechs Monate Zeit zur Verfügung, in Zusammenarbeit mit Vorgesetzten und dem Personaldienst für eine neue Beschäftigung zu suchen. Danach besteht allerdings die Möglichkeit zur Kündigung. Das Ziel ist das Ziel Das Ziel ist das Ziel. Unser erklärtes Ziel ist mehr Effizienz in der Verwaltung und damit weniger Kosten für die Allgemeinheit. Die Aufgabenverzichtplanung des Bundesrates sah für das EJPD Einsparungen in der Höhe von 19 Millionen Franken vor – erreicht wurden 28 Millionen. Das Budget 2004 sah für den Gesamtbereich Justizdepartement Ausgaben in der Höhe von 1493 Millionen vor – wir schlossen mit 1422 Millionen ab. 70 Millionen darunter. In diesem Jahr ist eine Budgetunterschreitung von ca. 120 Millionen Franken vorgesehen. Und wir sind auf guten Wegen. Bis ins Jahr 2008 sollen die Ausgaben von heute 1490 auf 1150 Millionen gesenkt werden. Das Ziel ist gesetzt. Der Weg ist nicht leicht. Aber er ist auch nicht das Ziel. Damit wären die Ausgaben dann um 23 Prozent tiefer. Und dies ohne, dass nur eine einzige Aufgabe gestrichen worden wäre. Auf die ganze Bundesverwaltung übertragen, könnten Kostensenkungen in der Höhe von 14 Milliarden erreicht werden. Steuersenkungen im grossen Stil wären angesagt. Das Ziel ist gesetzt.

08.10.2005

«Ich bin verpflichtet, zu sagen, wie es ist»

Blocher über Rechtsextremismus 08.10.2005, Berner Zeitung (Heinerika Eggermann) Justizminister Christoph Blocher verwahrt sich gegen den Vorwurf, er sei auf dem rechten Auge blind. Und bezichtigt die Medien, insbesondere den «Blick», Aufmärsche von Rechtsextremen zu provozieren. Herr Bundesrat Blocher, wie halten Sie es mit dem Rechtsextremismus? (lacht) Weshalb fragen Sie mich das? Haben Sie das Gefühl, ich hätte etwas mit denen zu tun? Die Frage taucht auf angesichts deren Aufmarsch am Rütli und an der Feier in Brig. Da wird Ihnen von einigen Medien vorgeworfen, Sie hätten geschwiegen. Sie meinen den «Blick». Seit zwei Jahren läuft dessen Kampagne gegen mich, die mich verunglimpft und auch viele Unwahrheiten enthält. Auf dieses Blatt gehe ich nicht ein. Die Frage des Rechtsextremismus ist durchaus ernsthaft. Es gibt in der extremistischen Szene in der Schweiz rassistische Tendenzen und Rassisten, die auch mit den ausländischen Szenen vernetzt sind. Dies seit Jahren. Die Zahl in der Schweiz ist relativ konstant. Es sind zirka 1000 Personen. Sie sagen «konstant»: Auf welchen Zeitraum beziehen Sie das? Seit vier, fünf Jahren haben wir festgestellt, dass die rechtsextreme Szene nicht massgeblich wächst. Und es sind vorwiegend jüngere Leute. Polizeilich gesehen stellt sich nicht die Frage nach deren Gesinnung, sondern ob sie Straftaten begehen. Im Wallis glauben wir, dass sie gegen den Rassismusartikel verstossen haben. Darum sind auch Strafklagen gegen einzelne dieser Leute eingereicht worden. Gewalttätig werden sie vor allem, wenn sie mit Gegenströmungen, insbesondere aus der linksextremen Szene, zusammentreffen. Daher versucht die Polizei, zu verhindern, dass die beiden Gruppierungen in der Schweiz aufeinander treffen. Die linksextreme Szene ist grösser, rund 2000 Personen, sie ist besser organisiert und ebenfalls gewalttätig. Das sah man am 1.August in Winterthur und Luzern, als 'sie Sachbeschädigungen und Körperverletzungen begingen. Aber es ist klar, wir müssen beide Strömungen polizeilich im Griff haben, das heisst erstens, es sind Straftaten zu verhindern, und wir wollen zweitens nicht, dass sie Anlässe durchführen, an denen sie zu Straftaten aufrufen. Ihnen wird vorgeworfen, dass Sie die Gewalt von rechts verharmlosen, während Sie der Iinken Szene mehr Gewaltbereitschaft und Organisation zuschreiben. Ich bin als Bundesrat verpflichtet, zu sagen, wie es ist. Ich kann nicht das sagen, was man gerne hören würde. Ich stütze mich auf die Berichte der Polizei, insbesondere den Extremismusbericht, der auch in der Parlamentskommission zur Kenntnis genommen wurde. Die Frage ist auch: Wird sich deren extremistisches Gedankengut ausdehnen? Ich denke, dass weder die Rechtsextremen noch die Linksextremen auf Sympathie in der Schweizer Bevölkerung zählen können. Da besteht also keine Ansteckungsgefahr. Die Rechtsextremen findet man abstossend und will mit ihnen nichts zu tun haben, mit den Linksextremen genauso wenig. Es sind Extremisten, die wir gut beobachten müssen, um Straftaten zu verhindern. Handelt es sich dabei um eine einzige gewalttätige Gruppierung? Das sind keine homogenen Gruppen. Die Rechtsextremen sind locker organisiert. Sie verfügen auch nicht über einen eigentlichen Chef oder eine «Regierung». Bei den Linksextremen ist die Organisation besser, aber auch dort gibt es keine einheitliche Gruppe. Seit Wochen wurde im Internet auf das Konzert und Treffen der Rechtsextremen aufmerksam gemacht. Die Walliser Kantonspolizei wurde aber sehr spät informiert. Hat der Inlandnachrichtendienst schlecht recherchiert? Nein, auch wenn der «Blick» das seit Tagen schreibt. Sehr früh war in den Nachrichtenbulletins auf den 17. September aufmerksam gemacht worden. Am 9. September wurden die Kantone informiert, dass der 17. September als Anlass für «Konzerte» gebraucht werden könnte. Wo, war noch nicht bekannt. Sobald der Ort feststand, am Abend vor dem Konzert, wurden die dortigen Behörden informiert. Der genaue Ort wurde erst am 17. bekannt. Die Rechtsextremen reservieren diverse Lokale unter harmlosen Privatnamen und sagen erst im letzten Moment, wo sie sich treffen werden. Heute ist bekannt, wie die Einladungen erfolgen: Sie ziehen die Musikgruppen an einem bestimmten Treffpunkt in der Schweiz zusammen und bestellen sie erst am Auftrittstag in das entsprechende Lokal. Ihre Anhänger laden sie via SMS ebenfalls erst an diesem Tag ein, im letzten Augenblick. Von dem Moment an, wo die Kantonspolizei informiert ist, liegt es in deren Hand, den Anlass allenfalls zu verbieten, zu beobachten oder einzuschreiten, wenn Straftaten begangen werden. Das Wallis liess das Konzert zu - wohl, weil es dachte, es werde nicht randaliert. Aber Straftaten gegen den Rassismusartikel wurden offenbar begangen. In welchem Umfang, muss nun die Justiz klären. Wird dieses Konzert nun als Privatanlass oder als öffentlicher Anlass gewertet? Juristisch sind das heikle Fragen; darüber müssen letztlich die Gerichte entscheiden. Wir sind der Meinung, dass bei so vielen Anwesenden der private Rahmen gesprengt wurde. Gewisse Kantone verbieten solche Anlässe generell, andere warten ab und beobachten. Wie beurteilen Sie diese unterschiedlichen Vorgehensweisen? Das sind Beurteilungen. In der Schweiz müssen Gründe vorliegen, um etwas zu verbieten. Es sind Musikgruppen an der Grenze abgewiesen worden, weil sie extremistisches Material einführen wollten. Jeder Anlass ist besonders zu beurteilen. Oft wird verharmlosend behauptet, die Neonazis seien pubertierende Jugendliche. «Pubertierend» ist zu harmlos ausgedrückt. Aber es stimmt, dass vor allem Jugendliche beteiligt sind. Das zeigt sich auch daran, dass die Szene relativ konstant bleibt: Wenn laufend Junge neu dazukämen, müsste die Gruppe auch zunehmend ältere Mitglieder aufweisen. Das ist aber nicht der Fall. Sie haben auch gesagt, diese jungen suchten Aufmerksamkeit. Wie können die Gesellschaft und die Politikerinnen und Politiker diese Entwicklung verhindern? Sie wollen Aufmerksamkeit, und wenn sie diese erhalten, wird es für sie erst interessant. Der «Blick» ist zweifellos mitschuldig am Rütli-Aufmarsch der Rechtsextremen. Während Wochen war zu lesen: Die kommen am 1. August aufs Rütli. So wurde es natürlich für die Rechtsextremen interessant, dahin zu gehen. Sie wurden direkt eingeladen. Versetzen Sie sich einmal in junge Menschen, die in Opposition sind zu der herrschenden Gesellschaft: Da gibt es doch nichts Schöneres als mediale Aufmerksamkeit. Ich war eine Woche vor dem 1. August auf dem Rütli. Da vergass der «Blick» seinen Aufruf — an diesem Anlass waren praktisch keine Rechtsextremen. Das Gleiche ist vom 1. Mai für die Linksextremen zu sagen. Was ist Ihr Vorschlag, damit es künftig nicht mehr zu solchen Aufmärschen kommt? Die Medien müssen zur Kenntnis nehmen, dass sie den Rechtsextremen nicht auf diese Art und Weise Aufmerksamkeit schenken sollten. Und die Gesellschaft als Ganzes muss den Jugendlichen beibringen, worin der Unsinn und die Grausamkeit jener Theorien liegen, die die Extremisten vertreten. Eine allzu grosse Dämonisierung hilft sicher nicht weiter; denn für solche Jugendliche liegt darin der eigentliche Reiz. Wichtig ist auch, dass Straftaten geahndet werden.

06.10.2005

Realitätsverweigerung ist keine Politik

Referat von Bundesrat Christoph Blocher am Sigriswil-Forum 06.10.2005, Sigriswil Sigriswil (BE), 06.10.2005. Bundesrat Christoph Blocher sprach am Sigriswil-Forum über die Finanzpolitik des Bundes, die schweizerische Aussenpolitik, die Frage nach den Schwächen eines überdimensionierten Sozialstaates sowie die SVP und deren Position im politischen Spektrum. Auf Anfragen aus dem Publikum hat Bundesrat Blocher auch zum Thema Rechtsextremismus Stellung genommen. Es gilt das gesprochene Wort Meine Damen und Herren, Die Hauptprobleme eigentlich aller westeuropäischer Staaten sind bekannt: 1. Die Staaten leben über ihre Verhältnisse. Seit Jahren vermögen die dauernd gestiegenen Abgaben der Bürger an den Staat die Ausgaben nicht mehr zu decken. 2. Die unmässig gestiegenen Staatsausgaben rissen in den meisten europäischen Staaten die Steuern in die Höhe und dehnten die lähmende Bürokratie aus. Beides vermindert die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und führt zu schleppendem Wachstum und damit zu mehr Arbeitslosigkeit und weniger Wohlfahrt. So weit die Analyse. Leider bildet die Schweiz bei diesen Hauptproblemen keine Ausnahme. Und es ist zu fragen: Ist die Schweiz den sich daraus ergebenden Herausforderungen gewachsen? Erlauben Sie, dass ich die Frage anders stelle: Hat die Schweiz diese Herausforderungen überhaupt in ihrer Tragweite erkannt? Diese Frage zu stellen ist wichtig, denn nur eine ungeschminkte Analyse der Wirklichkeit kann zu brauchbaren Lösungen führen. Schon alleine die richtige Fragestellung und die schonungslose Benennung der Probleme ergeben oft mehr als die halbe Lösung. Und ich stelle fest, dass zurzeit den wichtigsten Fragen meistens ausgewichen wird und ein wenig ausgeprägtes Problembewusstsein besteht, obwohl viele überzeugt sind, sie wüssten bestens Bescheid. Was aber noch schlimmer ist: Die Probleme werden nicht nur nicht erkannt, sie werden sogar geleugnet, oder es wird einfach das Gegenteil behauptet. Gewisse Kreise in der Politik haben ihren Realitätssinn völlig verloren. Und das wirkt sich dramatisch und verheerend aus auf die nötigen Aufgaben, die wir eigentlich zu bewältigen hätten. Zur Verdeutlichung des Problems werde ich auf vier Bereiche eingehen: Die Finanzpolitik des Bundes. Die Aussenpolitik. Die Frage nach den Schwächen eines überdimensionierten Sozialstaates und zuletzt komme ich noch auf die SVP und ihre Position im politischen Spektrum zu sprechen. 1. Märchen: Der momentan absolut beliebteste Politikersatz (von links) heisst: In unserem Land herrsche «Sparwut» bzw. «Sparhysterie». Wer die Zahlen betrachtet - und Zahlen sind unbestechlich - erkennt eine ganz andere Realität: Die finanzpolitische Lage des Landes ist desolat. Trotz aller Reden über das Sparen steigen die Staatsausgaben munter weiter. Hier ein paar konkrete Zahlen: In den nächsten vier Jahren nehmen die Ausgaben trotz aller Sparprogramme (Entlastungsprogramm 03, Entlastungsprogramm 04, Aufgabenverzichtsplanungen etc.) in der ordentlichen Rechnung des Bundes um 14,5 Prozent zu. Das sind durchschnittlich 3,4 Prozent im Jahr, was mehr ist als das Wirtschaftswachstum und die Teuerung! Mit andern Worten, wir leben deutlich über unseren Verhältnissen. Im Übrigen sind darin grosse Beträge nicht enthalten, die man über die Vermögensrechnung abbucht. Ein Ende ist nicht abzusehen. Die geplanten Ausgaben 2009 sind beinahe doppelt so hoch wie 1990. Die Schulden werden 2006 132,6 Milliarden betragen. Das ist ein Anstieg von über 25 Milliarden im Zeitraum von 2001 bis 2006. Wer hier von «Sparwut» spricht, hat den Realitätsbezug vollkommen verloren! Und dieser Anstieg geschieht trotz Schuldenbremse: 84,7 Prozent der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger haben am 2. Dezember 2001 für einen ausgeglichenen Haushalt votiert. Dieser Verfassungsauftrag wird laufend missachtet, ausgetrickst und gebrochen. Was wir tun müssen, ist das Ruder drehen, solange wir noch souverän mit eigener Kraft über den Kurs bestimmen können. Mit tiefen Kosten eine höhere Leistung zu erbringen, ist eine anspruchsvolle Führungsaufgabe. Dies ist nichts für Leute, die nach Beliebtheit trachten. Am schwersten ist die Aufgabe an der Spitze. Schwache Führungskräfte lösen jede Aufgabe einfach mit mehr Geld. Und im Bund heisst dies mit Geld, das der Wirtschaft und den Bürgern entzogen wird. Führen heisst, im Interesse anderer Unannehmlichkeiten auf sich zu nehmen! Tut das der oberste Chef nicht, so führt dies im Unternehmen zum Ruin. Wer als Eltern in der Kindererziehung nicht die Kraft aufbringt, auch Verzicht zu verlangen, erweist seinen Kindern einen schlechten Dienst. Was wir wollen: Die Schweiz muss auf einem gesunden finanziellen Fundament stehen. Dazu braucht es eine blühende, konkurrenzfähige Volkswirtschaft. Diese ist erwiesenermassen nur möglich, wenn die Bürger und Unternehmen wieder freier über ihr Geld verfügen können. Eine solche Entlastung kann nur durch niedrigere Steuern und Abgaben für die Bürger und über weniger Ausgaben der öffentlichen Hand erreicht werden. Durch diesen Verzicht entstehen mehr private Investitionen, mehr Arbeitsplätze, mehr Wachstum, mehr Konsum und damit mehr Wohlstand für alle. Dazu braucht es Realitätssinn. Und dazu braucht es Rückgrat: Denn Veränderungen sind oft auch Zumutungen. Aber nur über diesen Weg gelangen wir insgesamt wieder auf einen Wachstumspfad. Wo könnte der Bund seinen Beitrag leisten? Zum Beispiel bei der Reorganisation der Verwaltung. Die Departemente haben voranzugehen. Zu viele Doppelspurigkeiten prägen die Verwaltung. Im EJPD sind sämtliche zentralen Dienste auf ihre Aufgaben und ihre Notwendigkeit überprüft worden. Die Reorganisation der zentralen Dienste mit Kostensenkungen von 22% wird Ende Jahr abgeschlossen sein. Ohne Leistungsabbau - weder für den Bürger noch sonst jemanden. Ich erinnere daran, dass als oberstes Legislaturziel 2003/2007 die Sanierung der Bundesfinanzen beschlossen wurde. Vom Gesamtbundesrat! Erst in diesem Sommer - also schon fast in der Mitte der laufenden Legislatur - wurde das Finanzdepartement beauftragt, die Staatsausgaben zu überdenken, um diese bis zu 20 Prozent zu reduzieren. Wir sollten nicht erst die Fehler in Deutschland wiederholen und dann einen mühseligen Umkehrprozess einleiten. Dazu gehört aber auch, dass wir den Realitäten schonungslos in die Augen sehen. Wer angesichts von beinahe 250 Milliarden Franken Gesamtschulden der öffentlichen Haushalte und angesichts der massiv steigenden Staatsausgaben von «Sparwut» schwafelt, sollte politisch zur Verantwortung gezogen werden. 2. Märchen: «Die Schweiz betreibt eine Abschottungspolitik.» Seit Jahren wird gebetsmühlenartig wiederholt, die Schweiz schotte sich gegenüber dem Ausland ab. Ein äusserst beliebter Satz im politischen Hickhack. Der allerdings ähnlich realitätsbezogen ist, wie wenn man behaupten würde, die Schweiz bestünde nur aus Bergen, Schoggi, Heidis und Alphörner. Die schweizerische Aussenpolitik bleibt ein parteienübergreifender Zankapfel, der die Innenpolitik auf schädliche Weise beeinflusst. Zur Kampfrhetorik gehört, die Schweiz sei abgeschottet. Das können nur Leute sagen, die das Ausland oder die Schweiz oder beides nicht kennen. Unser Land war schon immer wirtschaftlich und kulturell mit der ganzen Welt verbunden. Die Schweiz ist im Vergleich zu anderen Staaten ausserordentlich weltoffen! Die EU ist für uns ein guter und wichtiger Partner. Aber nicht der einzige. Wir haben uns viel zu lange nur auf den europäischen Raum fokussiert. Die dynamischsten Märkte befinden sich zurzeit in Ostasien und den USA. Wir tun gut daran, unsere Politik auch auf diese Regionen auszurichten. Die schweizerische Aussenpolitik (besonders die Europa-Politik) ist völlig emotionalisiert. Hier bedarf es ein paar grundsätzlicher Richtigstellungen: Wenn eine Partei die Vorzüge der Schweiz betont und diese zu erhalten trachtet (sei es die direkte Demokratie, die Steuerhoheit oder auch nur das Bankgeheimnis oder ganz grundsätzlich ihre Unabhängigkeit), dann ist das nicht «nationalistisch». Sondern ein absolut natürlicher Patriotismus. Wenn eine Partei die Aussenpolitik in erster Linie als «Interessenpolitik» definiert, so ist dies nichts Verwerfliches sondern ein selbstverständlicher Vorgang. Jedes vernünftige (und notabene erfolgreiche) Land hält es so. Auch die EU vertritt ihre Interessen. Sie erwartet von der Schweiz gar nichts anderes, als dass auch sie ihre Interessen wahrnimmt. Es ist deshalb richtig, dass die SVP als konsequente Vertreterin der Interessenpolitik auftritt. Wenn eine Partei darum schlecht ausgehandelte Verträge kritisiert, ist sie deswegen noch lange nicht «europafeindlich». Ich habe schon in meiner Zeit als Nationalrat auf die schwachen Ergebnisse der Bilateralen I hingewiesen. Was die Verkehrsdossiers betrifft, ist uns allen klar, dass der Transitpreis, die 40-Tonnen-Limite oder der gekündigte Staatsvertrag für den Flughafen Kloten nichts ist, worüber wir uns wirklich freuen könnten. Die SVP soll weiterhin ohne falsche Rücksichten den Finger auf offene Wunden legen. Im Weiteren bildet auch heute noch die integrale Neutralität die beste Überlebensstrategie eines Kleinstaates. Mögen uns die Gegner auch «ein überholtes Geschichtsbild» vorwerfen. Neutralität schützt uns vor Kriegsbegeisterung und voreiliger Parteinahme. Sie bietet uns auch einen zeitgemässen Schutz im Zeitalter des Terrorismus. Das heisst nicht, dass die Neutralität uns totale Sicherheit garantiert. Aber sie ist ein wichtiger Faktor, den wir nicht leichtfertig aufgeben sollten. Darum bin ich stolz auf die SVP als Neutralitätspartei. Wenn seit 1990 brutto 1,3 Millionen Menschen in die Schweiz gekommen sind, ist es ebenso absurd von «Abschottung» zu sprechen. Wenn nun meine Partei meint, das Land komme langsam an die Grenzen ihrer Integrationsfähigkeit und Integrationsbereitschaft, dann hat das auch nichts mit «Ausländerfeindlichkeit» oder «Abschottungspolitik» zu tun, sondern mit einer echten Sorge um die Stabilität der Gesellschaft. Mit den abgeschlossenen bilateralen Verträgen sind mittlerweile alle wichtigen Dossiers mit der Europäischen Union geklärt. Natürlich sucht die Verwaltung geradezu mit Feldstecher und Lupe nach weiteren Verhandlungsgegenständen. Ich bin aber der Meinung, das führt zu nichts ausser einer weiteren Schwächung unserer Position. Wir sollten unsere Eigenständigkeit betonen und deshalb plädiere ich für einen raschen Rückzug des Gesuches. Warum? Die Schweiz muss auf ihre eigenen Stärken setzen. Wie jedes Unternehmen auch. Unsere Wirtschaft funktioniert dort am besten, wo sie als hochqualitativer Anbieter auftreten kann. Dieser Grundsatz sollte uns auch politisch leiten. Wir müssen aufhören mit diesem kopflosen autonomen Nachvollzug und der sich daraus ergebenden Verschlechterung unseres Wirtschafts- und Lebensraumes. Das heisst, wir müssen auch gegenüber der EU wettbewerbsfähig sein. Nachlaufen, nachäffen, nachmachen war noch nie ein Erfolg versprechender Weg. Wir wollen eine eigene Gesetzgebung, die besser ist für unseren Kleinstaat. Dazu brauchen wir einen souveränen und handlungsfähigen Staat. 3. Märchen: «Es gibt keinen Missbrauch. Weder im Asylwesen, noch bei der Invalidenversicherung oder der Fürsorge.» Ein Sozialstaat, der von der Mehrheit der Bevölkerung mitgetragen wird, muss eng definiert sein. Es darf nicht sein, dass immer weniger Bürger arbeiten, Sozialabgaben leisten, Steuern zahlen und das Gefühl bekommen, sie seien in der Gesellschaft die Dummen. Heute fliesst fast jeder dritte in der Schweiz erwirtschaftete Franken in den Sozial- und Versorgungsstaat. Wegen diesem unrealistischen, weit über der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit liegenden Ausbau ist heute der Wohlfahrtsstaat als Gesamtkonstrukt in Frage gestellt: Dies zeigt sich in der miserablen Finanzsituation von Bund und vieler Kantone. Die etatistische Grundstimmung - vor allem der 80-er und 90-er Jahre, die übrigens auch nichtlinke Parteien erfasste - hat der Schweiz einen perfektionierten Dienstleistungsstaat beschert, der den Bürgern eine Totalversorgung zum Nulltarif vortäuscht - dabei finanziert er sich über dauernd höhere Zwangsabgaben und Milliardenschulden. Jahr für Jahr. Schauen wir uns die grössten Baustellen des Sozialstaates etwas genauer an: Allein die Gesundheitskosten betragen über 50 Milliarden Franken im Jahr. Die Invalidenversicherung wird dieses Jahr etwa 12 Milliarden Franken verschlingen. In den Städten nimmt die Zahl der Fürsorgeabhängigen im zweistelligen Prozentbereich zu. Unser Sozialstaat kommt an seine Grenzen. Und wir müssen uns fragen, wie sozial dieser Sozialstaat überhaupt noch ist. Dass knapp 20jährige bereits Fürsorgegelder kassieren, halte ich für völlig verfehlt. Wer sich in so jungen Jahren schon an den Versorgungsstaat gewöhnt, wird letztlich über Jahrzehnte der Allgemeinheit zur Last fallen. Man muss diesen Umstand so drastisch formulieren. Es ist nicht nur immer der Blick auf ein vielleicht betrübliches Einzelschicksal zu lenken. Auch die grosse, arbeitende Mehrheit hat ein Recht, dass man sie vor dieser wachsenden Anspruchsmentalität beschützt. Es kann nicht sein, dass immer mehr Menschen den Rest der Bevölkerung für ihre gescheiterten Lebensentwürfe in die finanzielle Pflicht nehmen. Wenn wir grundsätzlich die untersten zehn Prozente der Bevölkerung für «arm» erklären, wird es immer Arme geben. Es werden hier von Interessengruppen mit fragwürdigen Standards Bedürftige geschaffen. Es werden Ansprüche legitimiert, die letztlich das gesellschaftliche Gefüge unterhöhlen. Der Sozialstaat soll jenen unter die Arme greifen, die es wirklich nötig haben. In der IV zeigt sich die Fragwürdigkeit unseres Systems am Deutlichsten. Die SVP hat den explosionsartigen Anstieg von IV-Rentnern erstmals thematisiert - und grossen Protest geerntet. Macht nichts. Das zeigte nur, dass wir auf dem richtigen Weg waren. Die Zahl der IV-Rentner hat seit den 90er Jahren drastisch zugenommen. Übrigens gerade auch von Staatsangestellten, die ja weiss Gott nicht dem rauen Wind der Privatwirtschaft ausgesetzt waren. Heute beziehen über 280'000 Personen eine Leistung der IV (1990: 164'000). Der grösste Zuwachs verzeichnete jener Bereich mit unklaren Krankheitsbildern - sei es bei psychischen Erkrankungen oder diffusen Schmerzbildern. Wenn natürlich jeder Schmerz, jede persönliche Unpässlichkeit plötzlich als Einstieg für eine Rente herangezogen werden kann, dann muss man sich nicht über diesen Anstieg wundern. Wo aber beginnt der Missbrauch? Die interessanteste Definition dazu lieferte die ehemalige Chefin der IV, Beatrice Breitenmoser, die im Fernsehen öffentlich erklärte: «Es ist kein Missbrauch, wenn jemand das System geschickt für sich ausnutzt.« Ja, was denn? Was ist denn ein Missbrauch? Wer den Missbrauch umdeutet, wird selber zum Komplizen des Missbrauchs. Was wir brauchen zur Sanierung der IV sind nicht neue Milliarden, sondern eine neue Definition dessen, wer invalid ist und wer nicht. Dazu gehört auch eine rückwirkende Überprüfung bereits gesprochener Renten. Ich muss Ihnen nicht sagen, welche Partei diese Punkte verfolgt. Im Gesundheitswesen kämpft die SVP mit ihrer Prämiensenkungsinitiative für ein bezahlbares Gesundheitssystem. Auch hier sind unangenehme Fragen zu stellen: Was gehört in eine Grundversicherung und was eben nicht? Wo hört die medizinische Grundversorgung auf und wo beginnt die Wellness-Medizin, die uns allen zwar gut tut, deren Kosten aber nicht auf die Allgemeinheit abgewälzt werden dürfen. Die WHO, eine für die Gesundheit zuständige Behörde der Vereinten Nationen, definiert die Gesundheit keineswegs nur als «Absenz von Krankheit und Gebrechlichkeit», wie sie selber schreibt, sondern als «Zustand völligen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens». Das ist eine absurde Definition. Kennen Sie jemanden, der sich vollkommen körperlich, geistig und sozial wohl fühlt? Spüren Sie nicht ein leichtes Ziehen im dritten Halswirbel? Bringt Ihnen Ihre Mitwelt die Anerkennung entgegen, die Sie tatsächlich verdienten? Nein? Dann sind Sie also ein WHO-Kranker - wie die restliche Menschheit auch. Wer Gesundheit so definiert, treibt die Kosten in solche Höhen, bis letztlich das ganze System kollabiert. Wollen wir das? Als Vorsteher des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements bin ich direkt für die Asyl- und Ausländergesetzgebung zuständig. Oft werde ich gefragt: «Wohin geht die Ausländer- und Asylpolitik?» Die Antwort ist einfach: Sie geht dorthin, wo die Politik will. Wir müssen darum anders fragen: «Wie wollen wir die Ausländer- und Asylpolitik gestalten?» Die grosse Mehrzahl der Personen, die in der Schweiz um Asyl nachsuchen, sind keine Flüchtlinge. Rechnet man die Zahl der vorläufig aufgenommenen Personen zu jener der anerkannten Flüchtlinge hinzu, so macht diese zusammen doch nur rund 24 Prozent aller Asylentscheide aus. Somit werden über 75 Prozent aller Asylgesuche unbegründet oder gar missbräuchlich gestellt, was in Zukunft nicht mehr möglich sein darf! Unser Hauptziel im vergangenen Jahr war, die Zahl der Gesuchsteller ohne asylrelevante Gründe zu senken. Hier haben wir Anfangserfolge verzeichnet: So ist die Zahl der Asylgesuche seit dem vergangenen Jahr kontinuierlich gesunken und der Trend hält an. Im laufenden Jahr haben bis Ende August 6'375 Personen in der Schweiz ein Asylgesuch gestellt. Im Vergleich zur entsprechenden Vorjahresperiode bedeutet dies einen Rückgang um 39.7 Prozent. Erstmals in der Asylgeschichte ist die Schweiz erfolgreicher als ihre europäischen Nachbarn: Im europäischen Mittel betrug der Rückgang in der gleichen Periode lediglich 17 Prozent. Das lässt darauf schliessen, dass die ergriffenen Massnahmen, insbesondere die stark verkürzten Verfahren und der Sozialhilfestopp für Personen mit einem Nichteintretensentscheid (NEE), Wirkung zeigen. Wo müssen wir noch verstärkt ansetzen? Das bedeutendste Problem besteht nach wie vor im Vollzug. Zahlreiche abgewiesene Asylsuchende (wie im Übrigen auch andere illegal anwesende Personen) verlassen das Land nicht. Die Gründe hierfür sind Ihnen bekannt: Die meisten Asylsuchenden legen ihre Identität nicht offen und weisen keine Ausweispapiere vor. Kann aber dem Herkunftsland die Identität nicht belegt werden, ist dieses Land auch nicht verpflichtet, einen abgewiesenen Asylsuchenden wieder zurückzunehmen. Trotzdem erhalten die Abgewiesenen, welche verpflichtet wären Heim zu gehen, nicht etwa nur Überlebenshilfe, sondern Sozialhilfe. Die Ausdehnung des Sozialhilfestopps auf alle rechtskräftig negativen Asylentscheide ist deshalb unerlässlich. Denn die Botschaft an diese Leute muss klar sein: Sie sind ebenso wie Personen mit einem NEE (Nichteintretensentscheid) dazu verpflichtet, unser Land wieder zu verlassen. Es darf nicht sein, dass sie besser behandelt werden als alle anderen illegal Anwesenden. Missbrauch darf nicht geduldet werden. Wenn aber Missbrauch gefördert, verteidigt und sogar institutionell begünstigt wird, dann ist die Politik gefordert. Und es ist unsere Partei, die seit Jahren auf diesem Gebiet mit wachsendem Erfolg Druck gemacht hat. Wenn man bedenkt, über wie viele Jahre im Asylwesen der Missbrauch tabuisiert oder schlichtweg geleugnet wurde! Durch die Realitätsverweigerung! 4. Märchen: «Die Wahrheit liegt in der Mitte.» Wenn wir heute vor einem missbrauchsanfälligen Sozialstaat stehen, wenn wir heute die Schuldenpolitik betrachten und das ungebremste Wachsen der Ausgaben, muss man sich fragen, wer für diese Politik verantwortlich ist. Links will mehr ausgeben. Links baut den Staat aus. Links will mehr Staat in der Politik, in der Gesellschaft, in der Familie, in der Wirtschaft. Links schafft sich so eine bezahlte Wählerschaft, nämlich all jene, die vom Staat abhängig sind. Rechts, also die SVP, will auch etwas vom Staat. Doch die Partei vertraut dem Menschen und achtet die Bürger. Darum wollen wir vor allem eines, dass dieser Staat uns so weit in Ruhe lässt, wie es nur irgendwie möglich ist. Nur das wollen wir vom Staat. Der Einzelne muss Freiraum bekommen, damit er auch Eigenverantwortung wahrnehmen kann (und gelegentlich wahrnehmen muss). Die Bürger und Unternehmen sollen über ihr Geld selber verfügen können, denn die staatliche Bevormundung führt in den Ruin. Das hat uns die DDR gezeigt und ansatzweise auch das vereinigte Deutschland. Die Linke verfügt bekanntlich über keine Mehrheit in den Parlamenten. Wie aber konnte sie in den letzten 10, 15 Jahren ihre Anliegen derart erfolgreich umsetzen? Sie bekam die Unterstützung aus der so genannten «lösungsorientierten Mitte». Der Satz «die Wahrheit liegt in der Mitte» kommt also ziemlich genau aus der Mitte. Und damit ist schon der erste Gegenbeweis geliefert: Die Wahrheit liegt eben nicht in der Mitte. Wenn die Wahrheit wirklich in der Mitte läge, dann wäre die Wahrheit erstaunlich beweglich. Denn wenn jemand links der Mitte zieht, rutscht die Mitte nach links. Wenn der rechte Pol stärker ist, nach rechts. Ist die Wahrheit denn eine opportunistische Windfahne? Wohl kaum. Wer abstimmen geht, muss sich auch entscheiden. Ja oder Nein. Wer Jein stimmt, verliert seine Stimme. Natürlich muss man bei Vorlagen abwägen, Vor- und Nachteile in Betracht ziehen. Aber am Ende wird niemandem die klare Entscheidung erspart: Ja oder Nein. Die SVP gilt als schlimme «Nein-Sager»-Partei. Über diesen Vorwurf kann ich nur staunen. Ich bin in eine Zeit geboren, wo es nichts Verächtlicheres gab als einen rückgratlosen Ja-Sager. Diese Haltung ist die einfachste, die bequemste, die charakterloseste. Was man der SVP vorwerfen könnte, wäre also höchstens, dass wir ein paar Mal zu wenig Nein gesagt haben. Oder hätte die SVP freudig Ja sagen sollen zur Schuldenwirtschaft? Sollte die SVP Ja sagen zum Krankenversicherungsgesetz, das wir 1994 als einzige Fraktion abgelehnt haben? Sollte die SVP die Auswüchse im Sozialsystem, bei der IV, bei der Fürsorge abnicken? Soll die SVP ein «lösungsorientiertes Ja» rufen zu neuen Steuern und damit zu neuen Milliarden, mit denen man die Probleme schön finanzieren möchte, statt sie zu lösen? Warum ist die SVP auf Oppositionskurs gegangen? Aus Vergnügen? Um sich zu profilieren? Nein. Weil sich die Schweiz auf einem falschen Weg befindet. Von 1848 bis 1990, also in 142 Jahren, wurden vom Bund 38,5 Milliarden Franken Schulden angehäuft. In den folgenden 15 Jahren kamen über 90 Milliarden hinzu. Entlockt Ihnen diese Tatsache ein zustimmendes «Jawohl! So ist es richtig. Machen wir weiter so»? Je mehr sich die staatliche Abhängigkeit ausbreitet, desto schwieriger wird es, eine Mehrheit zu finden, die diesen Irrsinn politisch noch zu stoppen gewillt ist. Immer mehr Menschen erliegen den Versuchungen des Wohlfahrtsstaates. Bis weit in die gehobenen Berufsschichten, bis weit in die Chefetagen von Politik und Wirtschaft hinein. Sind wir schon so weit, dass die Menschen lieber schauen, wie sie sich vom Staat beziehungsweise der Allgemeinheit aushalten lassen können, statt in Eigenverantwortung für sich und die Nächsten das Leben zu verbessern und selber für Güter und Dienstleistungen zu sorgen? Es ist ausserordentlich gefährlich, wenn Erfolg und Leistung durch höhere Steuern und Abgaben bestraft, dafür Misserfolg und Faulheit durch Sozialleistungen belohnt werden. In diesem unheilvollen Prozess befinden wir uns. Es gab nur eine Partei, die sich konsequent dagegen wehrte - und dabei viel auf sich nahm: Die SVP. Diese Arbeit ist nötig und bedeutsam. In den vergangenen Jahren hatte die SVP die wichtige Aufgabe, in den bedeutenden Fragen als Opposition Nein zu sagen. Jetzt sind wir verstärkt in der Regierung vertreten. Darum sind wir auch aufgefordert, unsere Positionen in der Regierung selbst einzubringen. Aber von einer Mitte-Rechts-Politik sind wir noch weit entfernt. Das zeigen die genannten Beispiele aus der Finanz-, Aussen- und Sozialpolitik. Darum gilt auch für eine profilierte Regierungspartei wie die SVP weiterhin: Kurs halten!

02.10.2005

Was die Kirche macht, ist heuchlerischer Moralismus

Christoph Blocher (64) erklärt im SonntagsBlick-lnterview, warum er wegen des scharfen Asylgesetzes kein schlechtes Gewissen hat, was seine Mutter besser als die Kirche machte und weshalb der Bundesrat der EU einen Brief schreiben soll. 02.10.2005, SonntagsBlick (Christian Dorer und Patrik Müller) Herr Bundesrat, wie viele Menschen leben in Afrika? Viele hundert Millionen. 900 Millionen. Halb Afrika komme in die Schweiz, wenn wir unser Gesetz nicht verschärfen, sagten Sie im Nationalrat. Das sagte ich nicht. Sondern: Wenn jeder, dem es in seinem Land schlechter geht, bei uns als Flüchtling aufgenommen wird, dann haben Sie morgen halb Afrika bei uns. Sie übertreiben doch gewaltig! Die Zahl der Asylgesuche ist so tief wie seit 1987 nicht mehr. Erfreulich ist: Wir nehmen nicht weniger tatsächlich Verfolgte auf, aber es werden Missstände reduziert — nicht zuletzt dank Sozialhilfeentzug, schnelleren Verfahren und konsequentem Vollzug der Wegweisungen. Doch die Probleme sind leider nach wie vor gross. Ihr Vater war Pfarrer. Könnten Sie ihm die Asyl-Verschärfungen mit gutem Gewissen erklären? Ja. In der Schweiz ist jeder Flüchtling willkommen, der wirklich verfolgt wird. Aber Missbräuche sind zu verhindern. Ein schlechtes Gewissen hätte ich, wenn ich meine Verantwortung nicht wahrnehmen würde. Auch ein echter Flüchtling wird neu zurückgeschickt, wenn er keine ldentitätspapiere besitzt. Nein. Das sicher nicht. Leute ohne Papiere, die tatsächlich verfolgt sind, werden auch künftig aufgenommen. Man muss aber verlangen, dass einer, der keine Papiere vorweist, sagt, wie er heisst, woher er kommt, warum er geflohen ist und weshalb er keine Papiere hat. Ist dies zu viel verlangt? Ist es nicht schäbig, dass ausgerechnet die reiche Schweiz neu eines der strengsten Gesetze hat? Das neue Gesetz ist nicht strenger als Gesetze in anderen Staaten, zum Beispiel in Deutschland oder Österreich. Schäbig wäre, wenn wir keine echten Flüchtlinge aufnähmen. Wir hätten Platz für mehr echte Flüchtlinge, wenn wir all diejenigen abhalten, die unrechtmässig kommen. Können Sie garantieren, dass niemand in den Tod geschickt wird? Ich kann garantieren. dass dieses Risiko mit dem neuen Gesetz nicht grösser wird. Natürlich kann man Fehler bei der Bearbeitung eines Gesuchs in ganz wenigen Einzelfällen nie vollständig ausschliessen. Wie scharf Ihr Gesetz ist, zeigt die massive Kritik der katholischen Bischöfe und des reformierten Kirchenbundes. Es ist gut, wenn diese kirchlichen Kreise den Armen helfen. Nur: Für eine menschenwürdige Asylpolitik tragen sie keine Verantwortung. Zwingli sagte: «Christ sein heisst nicht christlich schwätzen ...» Es ist einfach, christlich zu reden, ohne selber Verantwortung zu übernehmen. Verantwortung bedeutet: Für die echten Flüchtlinge zu sorgen und die illegal Anwesenden in ihr Heimatland zurückzuschicken. Das ist keine schöne Aufgabe. Haben denn nur Sie Recht und die Kirchen irren sich? Im persönlichen Gespräch sagen mir auch diese Kreise: Wir sehen ja ein, dass die Nichtverfolgten weggewiesen werden. Vor der Fernsehkamera behaupten sie jedoch, sie müssten Asylsuchende aufnehmen, da die sonst auf der Strasse verhungern würden. Seit einem Jahr bitten wir diese Leute, uns doch die Kantone, die Gemeinden und diese Fälle zu nennen, damit wir einschreiten können. Wir erhielten von den Kirchen keine einzige Antwort. Weil es diese Fälle konkret nicht gibt. Das ist heuchlerischer Moralismus und nicht Hilfe am Nächsten! Es ist die Pflicht der Kirchen, sich für die Schwächsten einzusetzen. Ich freue mich, wenn sie es tun und hoffe, sie nehmen es ernst. Aber ich habe gemerkt, vielfach geht es ihnen gar nicht darum! Oft wollen sie nur sagen. schaut, die Verantwortlichen geben den armen Menschen nichts zu essen. Aber wir aus der Kirche, wir haben eine weisse Weste. Verantwortung tragen sie keine. Ist das nicht heuchlerisch? Meine Mutter hat ihr Leben lang Bettler an der Tür versorgt. Vielleicht war es nicht immer klug und vielleicht oft allzu barmherzig. Aber nie hätte sie gesagt: Ich muss denen zu essen geben, weil böse andere Menschen ihnen nicht helfen. Kennen Sie als Bundesrat eigentlich Asylsuchende persönlich? Einzelne schon. Es kommt vor, dass mir abgewiesene Bewerber schreiben. Einzelne habe ich schon eingeladen, Ich erklärte ihnen, warum sie nicht bleiben dürfen. Es sind oft arme Kerle. Aber ich musste es ihnen zumuten, in ihren Herkunftsstaat zurückzukehren. Hie und da gehe ich an die Basis zu meinen Mitarbeitenden. So stellte ich mich zum Beispiel im Empfangszentrum Kreuzlingen — mit einem grossen Schlapphut — bis zur ersten Kontrolle unerkannt in die Reihe der anstehenden Asylbewerber. Anderswo platze ich bei Befragungen rein. Ich spreche mit den Leuten. Was planen Sie im Asylbereich als Nächstes? Wir müssen die zu grossen Strukturen reduzieren, ohne die Leistung abzubauen. Jeder Flüchtling kostet Bund und Kantone heute insgesamt eine Million Franken im Durchschnitt. Das ist Unsinn. Wir erarbeiten ein Programm, um jährlich Kosten von 200 Millionen Franken einzusparen. Andererseits sind die aufgenommenen Flüchtlinge besser zu integrieren. Für die Kinder gehört dazu nicht zuletzt die Schule — für die Erwerbsfähigen die Arbeit. Die Flüchtlinge sollen arbeiten? Ja. Gegenwärtig tun das bloss etwa 23 Prozent der erwerbsfähigen Flüchtlinge, die arbeiten könnten und müssten, weil sie ja für immer aufgenommen sind. Alle anderen leben von der Sozialhilfe und sind entsprechend schlecht integriert. Und dies trotz viel Gerede und vielen Theorien über Integration, trotz teuren Programmen. Das muss sich ändern. Mir schwebt so etwas wie eine «Flüchtlingsschulung» vor, die den Einstieg ins normale Arbeitsleben ermöglicht. Sie wollen eine «Flüchtlings- Lehre» einführen? Wie sieht die aus? Das Konzept wird zurzeit erarbeitet. Ich könnte mir vorstellen, dass diese sogenannte Flüchtlings-Lehre zwischen wenigen Monaten und maximal einem Jahr dauert. Sie soll den Einstieg in einen den Fähigkeiten der Flüchtlinge angepassten Beruf ermöglichen. Haben die Flüchtlinge einmal einen Job und sind sie tüchtig, werden sie aufsteigen. Das habe ich in meinem damaligen Unternehmen zum Beispiel mit Tamilen selber erlebt. Wie soll das funktionieren? Nehmen Sie einen Flüchtling aus der Ukraine. Er hat dort vielleicht auf dem Bau gearbeitet. Wir müssen ihm — zumindest rudimentär — unsere Sprache beibringen, ebenso Kenntnisse für die Arbeit, vielleicht auch nur die eines Hilfsarbeiters. Er wird bei guter Arbeit rasch gefragt sein. Oder nehmen wir den Literaturprofessor aus Südamerika. Er könnte dort arbeiten, wo man ihn braucht: Vielleicht als Übersetzer. Braucht es ihn dort nicht, müsste man ihn umschulen. Zum Beispiel fürs Gastgewerbe oder andere Tätigkeiten, je nach Fähigkeit. Soll die Wirtschaft diese Ausbildung anbieten? Nein, der Staat. Aber in Zusammenarbeit mit der Wirtschaft. Das kommt günstiger, als wenn jemand jahrelang von der Sozialhilfe lebt, obwohl er arbeiten könnte. Reden wir über Europa. Ihre Kollegen Schmid, Deiss und Calmy-Rey feierten am Sonntag das Ja zur Personenfreizügigkeit mit Champagner. Sie fehlten. Warum? Feiern käme mir nicht in den Sinn. Das Schweizer Volk hat einen schwierigen Entscheid getroffen. Da gibt es nichts zu triumphieren. Mein erster Gedanke war: «Hoffentlich kommt es gut raus. Hoffentlich können wir das richtig Umsetzen.» Viele Ihrer SVP-Freunde ärgerten sich über Ihren Einsatz für ein Ja — manche sagen gar, der sei entscheidend gewesen für die klare Zustimmung des Volkes. Möglich. Offenbar waren meine Ausführungen glaubwürdig. Mir wurde übel, als ich die Schönfärberei gewisser Befürworter hörte. Ich habe meine Überlegungen preisgegeben, auch Nachteile aufgezeigt. Für mich war die Annahme ein kleineres Risiko als die Ablehnung. Wie weiter? Soll die Schweiz das EU-Beitrittsgesuch zurückziehen? Das verlange ich, seit es eingereicht ist. Aber viel wichtiger ist: Wir sollten der EU endlich offen mitteilen, dass wir nicht Mitglied werden, sondern in gutem Verhältnis mit der EU als selbständiges Land leben möchten. Der Bundesrat soll einen Brief nach Brüssel schicken? Zum Beispiel. Wie auch immer — wir sollten der EU einfach klar und deutlich mitteilen, dass wir keine institutionelle Bindung wollen. Danach besteht auch für die EU Klarheit. Das ist Ihre Meinung— doch der Bundesrat ist in der EU-Frage gespalten. Alle Spatzen pfeifen es von den Dächern: Drei wollen in die EU, drei sind gegen einen Beitritt und einer schwankt. Sie meinen Pascal Couchepin. Ich nenne keine Namen. Der Bundesrat will erst mal in einem Bericht aufzeigen, was die Vor- und was die Nachteile sind. Ja, ein Bericht mehr. Was darin stehen wird, wissen schon alle. Je nachdem, wer ihn schreibt, werden die Nachteile etwas mehr unterdrückt und die Vorteile in glänzenderem Licht geschildert. Letztlich ist es eine politische Frage. Werden Sie eine EU-Abstimmung erleben, solange Sie im Amt sind? Sicher keinen Beitritt, da ich bekanntlich schon im Jahre 2026 zurücktrete! (lacht) Am 11. Oktober werden Sie 65. Was machen Sie mit Ihrer AHV-Rente? Ich habe der AHV-Stelle schon mitgeteilt, dass ich jetzt keine Rente beziehe. Und zur Beruhigung aller: Ich habe sicher ein Vielfaches dessen einbezahlt, was ich je beziehen könnte.

24.09.2005

Von Treue und Tapferkeit

Jubiläumsgrusswort von Bundesrat Christoph Blocher anlässlich der Feier «500 Jahre Päpstliche Schweizer Garde» vom Samstag, 24. September 2005 in Luzern 24.09.2005, Luzern Luzern, 24.09.2005. Jubiläumsgrusswort von Bundesrat Christoph Blocher anlässlich der Feier «500 Jahre Päpstliche Schweizer Garde» vom Samstag, 24. September 2005 in Luzern. Es gilt das gesprochene Wort Sehr geehrter Hochwürden Abt Martin Werlen Sehr geehrte Damen und Herren National- und Ständeräte Sehr geehrte Damen und Herren Regierungsräte Sehr geehrter Herr Stadtrat Sehr geehrter Herr Korpskommandant Kekeis Seher geehrte aktive und ehemalige Gardisten Sehr geehrtes Organisationskomitee mit Ihrem Präsidenten Korpskommandant Beat Fischer Sehr geehrte Damen und Herren Es gibt Beschlüsse, die verhallen und verpuffen sofort. Teils zu Unrecht - meistens zu Recht. Namentlich in schnelllebigen Zeiten werden hochtrabende Beschlüsse gefasst, die schnell wieder verschwinden. Sie haben keinen Bestand. Und dann gibt es das Seltene, das ganz und gar Aussergewöhnliche, das ein halbes Jahrtausend und länger besteht. Das weisse Kreuz im roten Feld gehört dazu, welches die Eidgenossen in der Schlacht bei Laupen im 15. Jahrhundert auf ihren Wämsern trugen. Die 500jährige Päpstliche Schweizergarde gehört auch dazu. Die Tatsache, dass etwas 500 Jahre gedauert hat, beweist: es hat sich bewährt, sonst wäre es längstens verschwunden. Gründungsjahr 1505 1505 steht Rom in einer kulturellen Hochblüte. Papst Julius II. ruft Michelangelo in den Vatikan; Grünewald beendet sein mächtiges Gemälde «Die Kreuzigung». Raffael die «Madonna im Grünen». Das 16. Jahrhundert wird eingeläutet. Es sollte das Jahrhundert der Erschütterungen werden! Das Jahrhundert der Reformation. Martin Luther gelobt 1505 - im Gründungsjahr der Schweizergarde - seinen Klostereintritt und wird Augustiner Mönch. Und die Schweiz ? Niccolò Machiavelli kommt 1513, also in den Anfängen der Garde, in seinem Buch «il Principe» auch auf die Schweizer zu sprechen: «Stettono Roma e Sparta molti secoli armate e libere. E Svizzeri sono armatissimi e liberissimi.» So wie Rom und Sparta viele Jahrhunderte bewaffnet und frei gewesen seien, so seien die Schweizer die allerbewaffnetsten und die allerfreisten! Rom und Sparta sind schon lange untergegangen. Die Schweiz hat überlebt. Was würde ein Macchiavelli der Gegenwart über die heutige Schweiz sagen? Würde er sie noch rühmen als die «allerbewaffneste»? Die allerfreiste? Wissen wir Schweizerinnen und Schweizer eigentlich noch, was uns die Freiheit bedeuten könnte ? Die Garde Seit nunmehr 500 Jahren erfüllen Sie - liebe Gardisten - also Ihren Dienst. Das Wort kommt von dienen. Schon diese Herkunft allein zeigt die Tiefe und Würde Ihrer Aufgabe. Dienen heisst nämlich den Auftrag über das Persönliche stellen. Dienen heisst, etwas anderes oder jemanden anderen über die eigene Befindlichkeit, den Auftrag über das eigene Interesse stellen. Als Soldat, der ich ja auch einmal war, habe ich gelernt, dass es meine Aufgabe ist, Land und Volk zu verteidigen. Im schlimmsten Fall unter Einsatz und Preisgabe des eigenen Lebens. Wir wissen alle, dass es keinen grösseren Treuebeweis gibt, als sein Leben in der Erfüllung eines Auftrages herzugeben. Was Treue heissen kann, demonstrierte die Schweizer Garde am 6. Mai 1527 - nur 23 Jahre nach ihrer Gründung: 20'000 deutsche und spanische Landsknechte verwüsteten Rom. 147 von 180 Gardisten fielen im Kampf, unter ihnen auch ihr Kommandant Kaspar Röist. Doch der Papst konnte sich in die Engelsburg retten und überlebte. Oberst Kaspar Röist war übrigens Zürcher, also Angehöriger eines Kantons, in dem Zwingli gerade seine reformatorischen Vorstellungen durchsetzte. Ein auf den ersten Blick völlig widersinniger Vorgang: Reformierte Soldaten opfern sich für den katholischen Papst. Doch es gibt eine schlichte und ergreifende Erklärung für dieses Handeln: Die Gardisten taten es aus Treue zum gegebenen Wort. Treue muss allen Versuchungen widerstehen können. Treue sprengt konfessionelle und andere Grenzen. Genau in solchen Momenten zeigt sie nämlich ihre wahre Grösse. Aus Treue haben Kaspar Röist und seine Männer ihr Leben hingegeben. An den Treueschwur einer anderen Epoche und einem anderen Dienst erinnert uns hier in Luzern auch das Löwendenkmal Die Geschichte lehrt uns: Die Treue zum gegebenen Wort ist ein Pfeiler unserer Eidgenossenschaft. «Eid – Genossenschaft» Wir Schweizer sind beisammen, weil wir Schweizer beisammen sein wollen und weil wir uns darauf das Wort, den Eid gegeben haben. Das ist ja der Inhalt des Ausdrucks «Eid - Genossenschaft» und darum ist die Päpstliche Schweizergarde ihrem Wesen nach eine vollkommen eidgenössische Institution. Und darum ist es sinnvoll und schön, dass Sie den Namen Schweizer - Garde behalten haben. Sie stehen für grossartige menschliche Fähigkeiten. Es hat mich darum besonders berührt, dass Sie mich - damals in Rom - als protestantischen Pfarrerssohn zu diesem Jubiläum geladen haben. Sie haben gespürt, dass uns Vieles verbindet. Nicht nur die Liebe zur Tradition. Das auch. Die «unkatholische Schweiz» hat mindestens zwei gute Gründe, der Schweizer Garde mit Wohlwollen und Achtung zu begegnen: Es ist das gemeinsame Bekenntnis zu den christlichen Grundwerten und es ist der gemeinsame Willen für eine höhere Sache einzustehen. Ich habe grossen Respekt vor Ihrer Geschichte, Ihrer Aufgabe und Ihrem ganz persönlichen Einsatz. Die 500-Jahrfeier der päpstlichen Schweizer Garde ist der Ausdruck von 500 Jahren Dienen, Treue und Auftragserfüllung. Das sei auch die Devise für uns alle in Familie, Beruf und Politik! Deshalb schliesse ich mit dem Wunsch: Möge Gott die Päpstliche Schweizergarde weiterhin schützen und ihr die Kraft schenken, den Schutz des Papstes auch in der Zukunft zu gewähren. Ihr seit 500 Jahren verbindliches Dienen bleibe weiterhin Vorbild für uns alle!