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01.04.2005

Als Unternehmer im Bundesrat – Eine erste Bilanz

Referat vor der Handelskammer Thurgau 01.04.2005, Thurgau Es gilt das gesprochene Wort I. Kein Zeitpunkt für Scherze In der Schweiz belaufen sich die öffentlichen Schulden auf gut 250 Milliarden Franken. Und dies nicht etwa, weil die Einnahmen in den letzten 20 Jahre abgenommen hätten - nein! Die Steuern und Abgaben sind seit 1990 mehr gestiegen als in jedem anderen Industrieland der Welt. Aber die Ausgaben sind im gleichen Zeitraum noch stärker angewachsen - im Bund, den Kantonen und den Gemeinden. Auch wenn heute der 1. April ist: Angesichts solcher Zahlen kann einem Unternehmer das Scherzen in der Politik gründlich vergehen. 250 Milliarden Franken Schulden bilden das Fünffache der jährlichen Gesamtausgaben des Bundes. Kennen Sie ein Unternehmen, das sich in einer ähnlichen Situation befindet und nicht umgehend Sanierungsmassnahmen, Kostensenkungen und Effizienzsteigerungen einleiten würde? Sie werden mir keines nennen können, ausser solchen, die schon bankrott sind oder in absehbarer Frist bankrott sein werden. So lauten die Gesetze der Wirtschaft. Nur die Politik scheint sich um diese Regeln foutieren zu können. Sie werden sagen: Unternehmen gehen daran zu Grunde. Ich antworte Ihnen: Staaten auch! Kürzlich kam mir das Postulat einer Politikerin in die Hände - zufällig das einer Politikerin aus dem Kanton Thurgau -, worin es um die Verschuldung von Jugendlichen ging. Es ist in der Tat besorgniserregend, dass bereits Minderjährige über ihre Verhältnisse leben und sich einen Lebensstil aneignen, den sie nicht selber finanzieren können. Aber noch bedenklicher ist, wenn erwachsene Politiker einen Staat installieren, der noch fahrlässiger über seine Verhältnisse lebt als ein unmündiger Teenager. Mir wäre es lieber, alle Politiker hätten die Problematik der Ausgabenfreudigkeit und Verschuldung von Bund, Kantonen und Gemeinden erkannt und gehandelt. Wie sollen Jugendliche ausgerechnet durch Politiker angeleitet werden, wirtschaftlich mit Geld umzugehen, wenn die gleichen Politiker jährlich Milliardendefizite abliefern und diese hingenommen werden wie eine fünfte Jahreszeit? Die Thurgauer Nationalrätin kritisiert den sorglosen Umgang mit Geld: "Den Jugendlichen wird es heute leicht gemacht, Schulden zu häufen." Doch ist immerhin der Jugendliche für seine Ausgaben selbst verantwortlich. Ich war es als Unternehmer auch. Als Politiker komme ich aber selbst nicht zur Kasse. Nein, es haftet niemand, und obendrein kann sich der Politiker mit dem Schuldengeld neue, dankbare Wählerschichten erschliessen und sich erst noch als "sozial" und "solidarisch" feiern lassen. Aus diesem Widersinn müssen wir uns befreien. Es wird kein einfacher, kein populärer, aber ein unumgänglicher Weg sein. II. Kostenbewusstsein stärken Meine Damen und Herren, ich bin seit fünfzehn Monaten im Amt als Bundesrat. Leider kann man dem Bundesrat nicht den Vorwurf machen, er habe in diesen fünfzehn Monaten nichts anderes getan, als Ausgaben gesenkt und damit die Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Wirtschaft erhöht. Wohl wird viel über Ausgabenreduktionen gesprochen, aber im Wesentlichen wurden bisherige Pläne nur auf dem Papier nach unten korrigiert. Der Bundesrat hat zwar die Sanierung des Haushaltes im Legislaturprogramm zur Hauptaufgabe erklärt. Doch eine eigentliche Reduktion von Ausgaben ist noch nicht greifbar. Hingegen wurden neue Steuern und Abgaben beschlossen und eingenommen. Wie sehe ich als ehemaliger Unternehmer den Staat als Aufgaben-Erfüller? Das Frappierendste ist das mangelnde Kostenbewusstsein auf allen Ebenen: beim Parlament, der Regierung, der Verwaltung! Als Unternehmer wusste ich: Kosten und Nutzen sind die wichtigen Entscheidungsfaktoren. Nicht so im Bund. Standardantworten - auf bisher kaum gestellte Fragen - finden Sie bis in die obersten Etagen hinauf, die zum Beispiel lauten: "Im Bund muss man weder mit Abschreibungen noch Zinsen rechnen. Und auch die Personalkosten muss man nicht rechnen, denn die Leute sind ja sowieso da!" Gezielte Kostensenkungen können so gar nicht durchgeführt werden. Für jeden Handwerker ist es eine Selbstverständlichkeit, dass er in seinem Betrieb Leistung und Effizienz steigert, die Qualität erhöht und gleichzeitig die Kosten tief hält. Sollen nur beim Staat andere Regeln gelten? Warum soll ein Staat denn nicht fähig sein, effizienter zu arbeiten? Warum soll ein Bundesbetrieb sein Angebot nicht verbessern können, ohne gleich an der Preisschraube drehen zu müssen? Kostensenkungen wären möglich. Aber der Wille fehlt! Darum will man die Kosten nicht nur nicht senken, man will sie nicht einmal zur Kenntnis nehmen. Man will nicht wissen, was eine Dienstleistung kostet. So können wir auch keine Kostensenkungen erkennen und umsetzen. Als ehemaliger Unternehmer weiss ich, dass es in den goldenen Nachkriegsjahren Firmen mit einer ähnlich lausigen Kostenauffassung gab. Diese Firmen sind entweder bankrott gegangen oder - wenn sie Glück hatten - durch einen Dritten übernommen worden, der dann das notwendige Kostenbewusstsein hatte. Im Grunde weiss jeder: Wir müssen die Bundesausgaben in Ordnung bringen. Aber wie gesagt, wir wollen nicht. Da liegt das Problem! Ich weiss: der Weg dazu ist schwierig, unangenehm und braucht vor allem Selbstdisziplin. Darum tut man es nicht. Wie schreibt doch die erwähnte Thurgauer Nationalrätin: "Den Jugendlichen wird es heute leicht gemacht, Schulden zu häufen." Noch leichter als den Jugendlichen wird es dem Staat gemacht! III. Die "Noch-Schweiz" Die Sprache verrät, dass wir im Grunde alle wissen, wie unheilvoll die Entwicklung läuft! Wer auf die - unbewusste - Ausdrucksweise achtet, merkt es: So sagen wir: Noch gehe es uns allen gut. Noch - so sagt man - gehören wir zu den reichsten Ländern der Erde. Noch seien die Steuersätze vergleichsweise tief. Noch werden staatliche Leistungen ausgebaut und mit scheinbar unbegrenzten Mitteln finanziert. Wir leben in der "Noch-Schweiz". Doch diese Noch-Schweiz ist ein trügerisches Gebilde. Dieser Wohlfahrtsstaat Schweiz ist eine Wunschgeburt, ein Versprechen von politischen Gauklern, die sich mit zukünftigen Schulden die Gunst der Gegenwart erkaufen. Eine solche Politik "sozial" und "solidarisch" zu nennen, ist der wahre Zynismus. Der Zustand der Schweiz ist mit einem faktisch bankrotten Unternehmen zu vergleichen, das bloss seine Insolvenz noch nicht offen legen musste. Warum nicht? Man glaubt, durch dauernde Erhöhung der Steuern, Abgaben und Gebühren die Insolvenz abwenden zu können. Dass man dadurch die Grundlage der Wohlfahrt - vor allem die wirtschaftliche Tätigkeit - schwächt, verschweigt man vornehm. Noch wird der Lohn ausbezahlt; noch lächeln die Verantwortlichen und versichern, alles sei in bester Ordnung; noch werden rauschende Betriebsfeste gefeiert und gegenseitige Lobreden gehalten; noch ist der Schein gewahrt, die Strassen gefegt, der Zug fährt pünktlich und die öffentlichen Gärten blühen. Vordergründig leben wir in einem funktionierenden Staatswesen. Hintergründig ist das System morsch. Vordergründig wird den Menschen eingeredet, die Sozialstandards könnten erhalten, ja erweitert werden. Dabei tun sich unbezahlbare Milliardenlöcher auf: Bei den Pensionskassen, bei der AHV, im Gesundheitswesen, bei der Invalidenversicherung, im öffentlichen Verkehr. Ich spreche nicht von ein paar fehlenden Milliarden, sondern von Dutzenden, ja Hunderten von Milliarden. Wir leben in der Noch-Schweiz. Noch gilt die Schweiz als liberaler Staat mit niedrigen Steuern. In Wahrheit aber hat kaum ein Industrieland eine stärker wachsende Steuer- und Staatsquote seit 1990 zu verzeichnen gehabt. Noch haben wir eine vergleichsweise tiefe Arbeitslosigkeit - allerdings hat sich in letzter Zeit im Vergleich zu früher eine viel höhere Sockelarbeitslosigkeit von vier Prozent etabliert, die man heute einfach als gottgegeben hinnimmt. Noch weisen wir eine der höchsten Beschäftigungsgrade aus (um die 70 Prozent), aber dieser Anteil sinkt kontinuierlich. Immer mehr Menschen, gerade auch junge, gehen den Weg in die Sozialleistung und Fürsorge oder werden von der IV berentet und sehen mit all den Zuschüssen wenig Veranlassung, an diesem Zustand etwas zu ändern. Noch erfreuen wir uns an einem funktionierenden Sozialstaat. Doch dieser Sozialstaat entpuppt sich zunehmend als asoziales Konstrukt, weil er den Tüchtigen schröpft und auf Pump lebt. Dieses sozialistische Prinzip züchtet eine Mentalität, die vornehmlich Ansprüche an die Gesellschaft stellt statt Ansprüche an sich selbst. Noch gelten wir als Staat mit hoher Integrationsfähigkeit und Integrationsbereitschaft. Nur wird diese Bereitschaft ausgereizt, und der wachsende Unmut der Bevölkerung gegenüber einer grenzenlosen Einwanderung hat durchaus seine Gründe. Seit 1990 sind brutto weit mehr als eine Million Menschen in die Schweiz eingewandert (d.h. 1,2 Mio. Eingewanderte - gegenüber 800'000 Ausgewanderten im selben Zeitraum). Prozentual mehr als in klassischen Einwanderungsländern wie etwa Kanada oder Australien. Der Beschäftigungsgrad der Neueinwanderer ist gegenüber ihren Vorgängergenerationen dramatisch gesunken (allein die Zahl der Erwerbstätigen unter den Einwanderern hat sich seit 1990 von 53% auf 38% verringert.). Wir beobachten vermehrt eine Zuwanderung ins Sozialsystem statt in den Arbeitsmarkt - was eben auch eine Folge dieses ausgebauten Wohlfahrtsstaates ist: Eine freizügige Zuwanderung kann nur in einer freiheitlichen Marktwirtschaft funktionieren. Wenn aber Immigranten überproportional in der Arbeitslosigkeit, in der Invalidität, in sonderpädagogischen Angeboten, in der Fürsorge landen, strapaziert dieser Vorgang das Zusammenleben und die Bereitschaft, sich gegen aussen zu öffnen. Wir leben in der Noch-Schweiz. Noch wird die Schweiz von einem leistungswilligen, eigenverantwortlichen Bürgertum geprägt, das nicht bei jeder Schwierigkeit oder Anstrengung nach dem Staat ruft. Doch der schleichende Sozialismus hat unser Land etwas verspätet, aber um so gründlicher erfasst. Ein regelrechtes Umerziehungsprogramm hat dazu geführt, dass unternehmerische Qualitäten plötzlich als verdächtig erscheinen. Die vornehmste Pflicht eines Arbeitgebers, nämlich Gewinn zu machen, wird neuerdings moralisch in Frage gestellt. Für den Staat gilt es gar als völlig abwegig. Als Unternehmer habe ich stets alle meine Kraft darauf gerichtet, Gewinne zu erwirtschaften. Ich wusste: Nur so kann ich die Zukunft des Unternehmens gewährleisten. Soll denn das für unser Land nicht gelten? Ich wusste: Nur wer Erfolg hat, schafft neue Arbeitsplätze. Seit ich im Bundesrat bin, merke ich: Tüchtige Unternehmer, Handwerker, Gewerbler, deren Tun auf die Gewinnerziehlung ausgerichtet sind, sind die wahren "Sozialarbeiter" in unserem Land: Weil sie für gesundes, privatwirtschaftliches Wachstum und damit für allgemeinen Wohlstand sorgen. Die Noch-Schweiz wird von einem Chor von konsensgläubigen Wirklichkeitsverdrängern besungen, während die Mahner noch abseits stehen und verteufelt werden. Wenn wir dieses Missverhältnis weiterhin akzeptieren, geraten wir endgültig in eine geistige und ökonomische Sackgasse. Das heisst: Senkung des Lebensstandards für die breite Bevölkerung. Das heisst Arbeitslosigkeit, Stillstand - eben Bankrott. Das schweizerische Erfolgsmodell basiert auf einem massvollen Staat mit freier, prosperierender Wirtschaft. Es gibt keinen vernünftigen Grund, davon abzuweichen! Wir sind uns bloss in den letzten Jahren untreu geworden. Wir sollten uns wieder auf unser liberales Erbe besinnen: Auf Fleiss und Eigenverantwortung, Wettbewerb und offene Märkte, freie Preisbildung und stabile Geldpolitik, auf Privateigentum statt Umverteilung und mehr Freiheit und weniger Staat! Ich sagte Ihnen dies früher als Unternehmer und als Parlamentarier. Diese Überzeugung hat sich bei mir noch verstärkt, seit ich im Bundesrat bin. IV. Vom Verantwortungs- zum Versorgungsstaat Nennen wir die Probleme und scheuen wir uns nicht, ihnen auf den Grund zu gehen. Galt die Schweiz früher als beispielhafter Staat mit hohem Selbstverantwortungsgrad, hat sie sich heute zum Versorgungsstaat gewandelt. Dieses Urteil mag Ihnen zu drastisch erscheinen. Doch je länger ich im Bundesrat bin, je mehr Unterlagen mir zur Verfügung stehen, umso ernster wird der Befund. Ich erlebe dies im Augenblick in meinem eigenen Departement - zum Beispiel in der Asylpolitik. Wie ist es soweit gekommen? In den Nachkriegsjahren entwickelte sich unser Land von einem Verantwortungsstaat zu einem Wohlfahrtsstaat. Das starke Wirtschaftswachstum gaukelte unbeschränkte Möglichkeiten vor. Seit den 1970-er Jahren wurden vor allem in der Sozialpolitik Versicherungen auf- und ausgebaut mit immer neuen Leistungen, welche die späteren Kosten ins Unermessliche trieben. Denken Sie nur an die IV und an die Krankenversicherung. Die Folgen dieses rasanten Ausbaus zeigen sich erst heute in aller Konsequenz. Wegen diesem unrealistischen, weit über der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit liegendem Ausbau ist heute der Wohlfahrtsstaat als Gesamtkonstrukt in Frage gestellt: Dies zeigt sich in der miserablen Finanzsituation von Bund und vieler Kantone. Die etatistische Grundstimmung - vor allem der 80-er und 90-er Jahre, die linke und bürgerliche Parteien erfasste - hat der Schweiz einen perfektionierten Dienstleistungsstaat beschert, der den Bürgern eine Totalversorgung zum Nulltarif vortäuscht. Dieser schleichende Verstaatlichungsprozess konnte nur über eine gewaltige Neuverschuldung finanziert werden: Betrug die Bruttoverschuldung des Bundes allein 1990 noch 38,5 Milliarden Franken, waren es 2003 bereits 123,7 Milliarden. Und wir steuern gegen 150 Milliarden - trotz einer Schuldenbremse, der alle Kantone und 85% der Bevölkerung bereits 2001 zugestimmt haben! Es ist auffallend, wie die fortschreitende Steuer-, Gebühren- und Abgabenlast, die in den Wahljahren 1999 und 2003 wenigstens noch für heftige Auseinandersetzungen gesorgt hat, heute ruhig entgegen genommen wird. Es ist erstaunlich, mit welchem Gleichmut solche Entwicklungen ertragen werden. - Die jährlichen Milliardendefizite, die unvermindert andauern? Sie werden akzeptiert, als wären sie ein Naturgesetz. - Nachtragskredite, Kostenüberschreitungen und Planungsabweichungen sind längst zum courant normale geworden. - Die Rekordzunahme von IV-Rentnern provoziert höchstens ein Schulterzucken. - Die Milliarden-Kosten unserer Beziehungen zum Ausland werden unter den Begriffen von "Öffnung", "Gerechtigkeit" und "internationale Solidarität" weitgehend der Diskussion entzogen. - Das Ausgabenwachstum der nächsten Jahre wird in weiten Teilen geleugnet. Man verbreitet die Mär, der Staat spare Geld, die Ausgaben würden gesenkt, der Gürtel werde enger geschnallt. Andere sprechen von "kaputt sparen" und "den Staat aushungern". Doch ich frage Sie ernsthaft: Wo werden in diesem Staate eigentlich die Ausgaben gegenüber den Vorjahren gesenkt? Irgendjemand hat das Gerücht in die Welt gesetzt, im Bund würden die Ausgaben gesenkt. Und alle plappern es nach. Und alle schreiben es einander ab. Wenden wir uns der ungeschminkten Wahrheit zu: In den nächsten Jahren ist ein Ausgabenwachstum von 10 Prozent geplant. Trotz aller Entlastungsprogramme! Die Staatsausgaben wurden und werden nicht gesenkt. - Aber man kann sich natürlich von allen Anstrengungen fernhalten, indem man vorsorglich über die Folgen einer Massnahme lamentiert, die es gar nicht gibt. Dass interessierte politische Kreise dies tun, gehört zum Tagesgeschäft und ist nicht weiter schlimm. Aber wenn diese Realitätsverweigerung auf den Bundesrat und auf die Mehrheit der bürgerlichen Parlamentariern übergreift - und das ist so - führt dies zu Fehlentscheiden und ins Elend. Woher kommt diese Gleichgültigkeit, diese Realitätsverweigerung? Das Zurkenntnisnehmen von Problemen ist lästig und undankbar, denn es zwingt zum Handeln. Verdrängen ist bequemer. Die Gründe des Verdrängungsprozesses könnten aber auch tiefere Ursachen haben als nur die Bequemlichkeit. Könnte es etwa sein, dass immer mehr Menschen den Versuchungen des Wohlfahrtsstaates erliegen? Und dies bis weit in die gehobenen Berufschichten, bis weit in die Chefetagen von Politik und Wirtschaft hinein? Sind wir schon so weit, dass die Menschen lieber schauen, wie sie sich vom Staat beziehungsweise der Allgemeinheit aushalten lassen können, statt in Eigenverantwortung für sich und die Nächsten das Leben zu verbessern und selber für Güter und Dienstleistungen zu sorgen? Es ist ausserordentlich gefährlich, wenn Erfolg und Leistung durch höhere Steuern und Abgaben bestraft, dafür Misserfolg und Bequemlichkeit durch Sozialleistungen belohnt werden. V. Sozialstaat und Verschuldung Meine Damen und Herren, Staatshaushalt und Wirtschaftswachstum stehen in engem Zusammenhang. Wer die bestehenden Probleme in der Tiefe angehen will, muss auch in die Tiefe schauen und die Sache beim Namen nennen. Tun wir dies an zwei, drei schon länger verdrängten Gebieten! Es muss in diesem Zusammenhang ausgesprochen werden, dass die Hauptgründe für den rasanten Anstieg der Sozialausgabenquote vor allem im Ausbau der Invaliden- und Krankenversicherung, das heisst in der Zunahme von Invalidenrentenbezüger und im neuen Krankenversicherungsgesetz zu suchen sind. In den letzten Wochen wurden die neuesten Zahlen zum Gesundheitswesen publik: 1950 - kurz nach Einführung der AHV - betrugen die Sozialausgaben in der Schweiz noch 1,5 Milliarden Franken. Bis 1990 - vor der Einführung des neuen Krankenversicherungsgesetzes - erhöhten sich die Ausgaben auf 63,2 Milliarden Franken. Darauf erfolgte der Dammbruch: Zwölf Jahre später, 2002, haben sich die Kosten auf gut 123 Milliarden Franken verdoppelt. Gemessen am volkwirtschaftlichen Ertrag (Bruttoinlandprodukt) hat sich die Sozialausgabenquote von 19,3 (1990) auf 28,8 (2002) erhöht. Wachstumsraten, die weit über jenen der Wirtschaft mitsamt der Teuerung liegen. Wer angesichts dieser Zahlen von "Sozialabbau" spricht, hat jeden Bezug zur Realität verloren. Von den Sozialversicherungen drückt zurzeit vor allem die IV auf die Bundesfinanzen. Hier ist erfreulich, dass nun endlich auch weitere Kreise und sogar die Medien offener über die IV-Probleme sprechen. Ein guter Anfang. Vorneweg die Fakten: Waren 1990 noch rund 160'000 Personen IV-Bezüger, sind es 2003 schon über 280'000. Nicht nur in absoluten Zahlen haben die IV-Rentner rasant zugenommen, sondern auch proportional zur arbeitenden Bevölkerung. Seit 1990 hat sich ihr Anteil an der aktiven Bevölkerung um über 50 Prozent erhöht. Jeder 5. Mann im 64. Lebensjahr bezieht eine IV-Rente. Diese alarmierende Entwicklung schlägt sich auch auf der Ausgabenseite nieder: 1990 bezahlten die Schweizerinnen und Schweizer für die Invalidenversicherung noch ca. 4 Milliarden - heute sind es bereits rund 11 Milliarden Franken pro Jahr. Die Zusammensetzung der Invaliden zeigt, dass immer mehr psychische Ursachen eine IV-Rente nach sich ziehen (40 Prozent aller Neurentner). Eine Vielzahl neuer Krankheitsbilder dienen als kaum überprüfbarer Einstieg zur Invalidität. Ich will Ihnen nur ein paar Beispiele nennen: Soziale Phobie, Internet-Sucht, erhöhter Cholesterinspiegel, Übergewicht, Menopause, Weichteilrheumatismus, Reizdarmsyndrom, Schlafstörungen, Verstopfungen, Burnout-Syndrom, Hyperaktivität, starkes Schwitzen, Entwurzelungssyndrom, psychosoziale Depression, Tinnitus (Pfeifen im Ohr) oder Vitaminmangel. Bei dieser Fülle ist jeder Bürger ein potenzieller Neurentner. Sicher kann sich jeder von Ihnen auf eines dieser Symptome berufen. Ebenfalls sehr hoch sind die Anteile jener IV-Bezüger, die über Kopf- und Rückenschmerzen oder ein Schleudertrauma klagen. Auffällig ist auch, dass im öffentlichen Sektor besonders viele Beschäftigte vorzeitig für arbeitsunfähig erklärt werden. Also zieht das Argument nicht, hauptsächlich die Privatwirtschaft würde ihre schwächeren Arbeitnehmer einfach in die IV abschieben. Ebenso unzutreffend ist die Aussage, der Arbeitsmarkt würde immer härter, was die Beschäftigten eben auch in die Invalidität treibe. Wie erklärt sich dann der hohe IV-Anteil von ehemaligen Staatsangestellten, die nun wirklich nicht dem rauen Klima der Privatwirtschaft ausgesetzt waren und sind? Meine Damen und Herren, das sind unangenehme Dinge, über die man aber sprechen muss. Gefragt ist endlich der schonungslose Blick in die Realität! Leider gibt es gerade auch in der Politik zahlreiche Interessenvertreter, die von diesen Problemen, dem umfangreichen Sozialbetrieb, profitieren und alles daran setzen, dass die Steuermilliarden weiter in ihre Gärten fliessen - und dort versickern. VI. Wo steht die Wirtschaft? Die Politik kam in den letzten Jahren in der Finanz- und Wirtschaftspolitik nicht voran. Aber wo steht die Wirtschaft? In einer direkten Demokratie ist die Stimme der Wirtschaft in Fragen der Finanz- und Wirtschaftspolitik entscheidend. Aber wo ist diese Stimme? Kein Bundesrat fühlt sich von der Wirtschaft bedrängt, endlich vorwärts zu machen. Und von den Wirtschaftsverbänden erst recht nicht. Eine gute Ordnungspolitik - die wichtigste Grundlage für einen funktionierenden Wirtschaftsstandort - scheint geradezu vergessen gegangen zu sein. Im Gegenteil: Das Verhalten der verantwortlichen Verbände steht im krassen Widerspruch zur Klage ihrer Mitglieder. Natürlich gibt es schöne, wortreiche, bunt illustrierte Broschüren aus der Wirtschaft, die eine massvolle Ausgaben- und Steuerpolitik predigen. Sobald es aber konkret wird, lösen sich diese schönen Worte in Luft auf. Es scheint mir auch, dass die Wirtschaft nach der verlorenen Abstimmung betreffend Steuerpaket und AHV den Mut verloren hat, sich für ihre Anliegen einzusetzen. Die Schweiz braucht keine Wirtschaft, die sich am liebsten mit Parlament, Bundesrat und Medien zu sicheren Mehrheiten für neue finanzpolitische Abenteuer und kostspieligen aussenpolitischen Aktivismus verbandelt. Ihr Urauftrag heisst, für eine gute Wirtschaftspolitik zu sorgen. Ich meine, es sei dringend, dass die Unternehmen nicht nur über die schludrige Ordnungspolitik klagen, die zu hohen Steuern und immer neuen Abgaben führt, sondern endlich eine glaubwürdige Finanz- und Wirtschaftspolitik betreiben, und zwar im Konkreten und auch im Kleinen. Sie müssten den Bundesräten und Parlamentariern immer wieder zeigen, was eine gute Wirtschaftspolitik ist. Sie müssten als Wirtschaftsvertreter Ihre Nöte ins Bundeshaus tragen. Wir arbeiten im Bundeshaus in einer geschützten Werkstatt. Den täglichen Kampf ums Überleben, der tägliche Konkurrenzkampf der Industrie und der Wirtschaft kennen wir nur aus den Statistiken, Berichten und Medien. Und diese sind meist noch geschönt. Sie stehen näher am Puls. Auch müssten Sie als Wirtschaftsvertreter die Parteien beraten, ich meine sogar, Sie müssten sie in der Wirtschaftspolitik führen. Sie werden vielleicht als Rufer in der Wüste angesehen. Aber ohne diese Rufer in der Wüste wird die Schweiz bald eine Wüste ohne Rufer sein! Die Parteien brauchen nicht "Freunde aus der Wirtschaft", die ihre Sonderwünsche in der Politik durchbringen wollen. Parteien, Regierungen und Parlamente brauchen Warner und Stimmen für die Gesamtwirtschaft zum Wohle des Landes und des Volkes. VII. Schlusswort Meine Damen und Herren, ist die Schweiz diesen grossen Herausforderungen gewachsen? Ich kann die Frage leider nicht mit Ja beantworten. Voraussetzung ist die schonungslose Offenlegung der Probleme und der Wille, diese Aufgaben anzugehen. Daran gilt es zu arbeiten. Helfen Sie mit. Damit diese Missstände nicht weiter unter den Tisch gekehrt werden.

19.03.2005

«Würde ich das Evangelium verkünden, käme das nicht gut»

Es hagelt Kritik von allen Seiten. Selbst das Bundesgericht sagt: «So nicht!» Doch Justizminister Christoph Blocher (64) hat kein schlechtes Gewissen. Der Justizminister macht unmissverständlich klar: «Ich will das enorme Asylproblem lösen.» Vorerst setzt er sich zum Ziel, die Asylgesuche auf einer Höhe von 10000 pro Jahr zu stabilisieren. Vor sechs Jahren waren es noch 48057 Gesuche. 19.03.2005, Blick (Werner de Schepper, Georges Wüthrich) Herr Bundesrat, schlafen Sie auch einmal? Gestern waren sie bis spät am Abend im Ständerat und heute stehen Sie uns in aller Hergottsfrühe Red und Antwort... «Während der Woche komme ich mit drei, vier Stunden Schlaf aus. Am Wochenende schlafe auch ich sieben, acht Stunden.» Nachdem sie die Asyldebatte im Ständerat eine Nacht überschlafen haben? Kein schlechtes Gewissen für Ihre harte Linie in der Asylpolitik? «Nein. Die Schweiz gibt ihre humanitäre Tradition nicht auf. Alle echten Flüchtlinge werden bei uns aufgenommen. Mir ist kein anders gelagerter Fall bekannt. Wir müssen endlich den enormen Asylmissbrauch lösen.» Das haben alle EJPD-Vorsteher der letzten 20 Jahre versprochen... «Ich will, dass es diesmal gelingt. Die Anzeichen sind gut. Ich verstehe ja, dass viele bei uns ein besseres Leben wollen, aber wir können nun einmal nicht alle aufnehmen. Die Illegalität, die wir damit schaffen ist unhaltbar.» Ist es noch verhältnismässig, wenn ein Mensch aus Hoffung auf ein besseres Leben den Pass wegwirft und dafür in zwei Jahre in Beugehaft gesteckt wird? «Es können einfach nicht alle kommen, die es bei uns schöner haben wollen. Ich kenne keinen einzigen Politiker, der den Mut dazu hat, das Gegenteil zu fordern. Also müssen Sie Regeln aufstellen. Wenn einer die Papiere vernichtet, nicht sagt aus welchem Land er kommt und die Heimreise verweigert, obwohl er es ohne weiteres könnte, dann müssen sie eine letzte Zwangsmassnahme in der Hand haben. Es geht hier auch nur um Einzelfälle, vielleicht 50 Leute pro Jahr.» Sie sind ein praktizierender Christ und auch Sie kennen das Wort «Was Du dem geringsten meiner Brüder getan hast, das hast Du mir getan». Wir reden von den Geringsten in unserer Gesellschaft. «Es steht auch in der Bibel: Wer nicht arbeitet, soll nicht essen. Man kann auch Leute füttern, die Drogenhändler sind, unter dem Segen einer Kirchgemeinde. Das habe ich in Basel selber erlebt.» Aber sie dürfen ja gar nicht arbeiten... «Ich sage ja nicht, dass sie nichts zu essen bekommen sollen.» Doch, im neuen Asylgesetz wollen Sie auch die Nothilfe einschränken. Das Bundesgericht hat gestern entschieden, dass damit das Grundrecht auf Hilfe in Notlagen verletzt wird. «Halt, das Bundesgericht hat einen Entscheid aus dem Kanton Solothurn aufgehoben, der längst vor der gestrigen Debatte im Ständerat gefallen ist. Dort ist einem Asylbewerber tatsächlich die Nothilfe gestrichen worden, weil er 150 Tage lang jede Mitwirkung verweigert hat.» Was heisst das jetzt für Sie? «Jetzt muss das eidgenössische Parlament handeln. Gestern hat der Ständerat vorsorglich entschieden, dass als letztes Mittel auch die Nothilfe gestrichen werden kann.» Aber das braucht offensichtlich eine neue Verfassungsbestimmung. «Das ist noch offen. Notfalls machen wir halt eine neue Verfassungsbestimmung.» Haben Sie auch so viel Energie in neue Rückübernahme-Abkommen gesteckt wie in die die härtere Linie im Parlament? «Ja, aber Sie müssen aufpassen. Ich will zwar Rückführungen, aber es ist eine Illusion zu glauben, dass wir alle mit dem Flugzeug ausschaffen können. Das ist teuer, kompliziert, personalintensiv und äusserst mühsam. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass sie von sich aus nach Hause zurückkehren.» Indem man Ihnen weh tut... «Die Attraktivität muss gesenkt werden. Der Beweis ist erbracht: Der Sozialhilfestopp nach Nichteintretens-Entscheiden hat zu einer deutlichen Senkung der Asylzahlen geführt.» Immer mehr springen die Kirchen ein, wenn der Staat Essen und Trinken verweigert. Was sagen Sie dazu? «Am Anfang mag es spektakulär sein, wenn am Fernsehen die Schweizer in Gut und Böse geteilt werden, aber das geht vorbei.» Die Bischöfe vergleichen Ihre Asylpolitik immerhin mit einem Krebsgeschwür... «Das Evangelium zu verkünden, ist eine schwierige Aufgabe. Das Asylproblem zu lösen ist ebenfalls eine schwierige Sache. Wenn ich das Evangelium verkünden würde, käme das nicht gut heraus. Wenn Bischöfe das Asylproblem lösen wollen auch nicht. Das haben die vergangenen Wochen gezeigt. Wenn Sie solche Worte wählen, ist das ihre Sache. Wenn ich deswegen von meiner Linie abkommen würde, dann wäre es nicht gut.» Bringen Sie ihre Linie auch im Nationalrat durch? «Ich weiss es nicht, ich werde alles dafür tun. Aber ich stelle mich auf eine Volksabstimmung ein. Wenn ich im Parlament durchkomme, was sehr von der CVP abhängt, wird es ein Referendum von Links geben. Im Abstimmungskampf brauche ich auch die Kantonsregierungen, denn die profitieren am meisten davon.» Was streben Sie mit Ihrer Politik konkret an? «Den Idealfall, nur echte Flüchtlinge. Realistischerweise richte ich mich für dieses Jahr auf eine Zahl 10 000 Asylgesuchen ein. Auf diese Grösse will ich die Infrastruktur für den Bund und die Kantone anpassen. Das wird auch einen Personalabbau zur Folge haben.» Wie gross wird der Abbau sein? «In meinem Departement und den Kantonen zusammen werden es einige Hundert Personen sein.» Was passiert, wenn plötzlich Zehntausende kommen? «Wir arbeiten an vorbehaltenen Entschlüssen. Eine Möglichkeit ist das Aufbieten des Zivilschutzes. Eine solche Notfallplanung will ich mit meinem Kollegen Schmid angehen.» Wieso klammern Sie ständig den Beitritt zum Dubliner Erstasyl-Abkommen der EU aus! Das bringt doch auch viel. «Wenn Dublin funktioniert und alle Länder ihre Daten wirklich preisgeben, dann kann Dublin tatsächlich eine Erleichterung bringen.» Reden wir nicht ständig am Problem vorbei? Sie wissen ja gar nicht wieviele Ausländer sich illegal, und vor allem papierlos in der Schweiz aufhalten. Sind es 50 000 oder 300 000? «Wir untersuchen das zurzeit vertieft. Die Zahl liegt eher tiefer als ursprünglich geschätzt. Nach jetzigem Stand können wir davon ausgehen, dass sie unter 100 000 liegt. Und da sehen Sie, dass wir nicht am Problem vorbeireden. Wenn weiterhin jedes Jahr 10 000 bis 15 000 abgewiesene Asylbewerber zu dieser Kategorie stossen, dann ist das gravierend.» Noch zu anderen Themen: Die Schweiz plagt auch noch die Swiss-Geschichte... «Sie werden verstehen, dass ich dazu keine Stellung nehme, bevor der Bundesrat entschieden hat.» Andersherum gefragt: Sind Sie bereit nochmals Steuergeld in die Swiss zu investieren? «Sie wissen, dass ich einer der erbittertsten Gegner dieses Swiss-Projektes war, weil eine solche Gesellschaft keine Überlebenschance hat. Man hat vergeblich Milliarden eingesetzt. Jetzt müssen wir halt schauen, wie wir da wieder herauskommen.» Bleiben wir bei den Sorgen der Bevölkerung: Das Preisthema steht ganz oben. «Wegen der schlechten Wirtschaftspolitik der vergangenen Jahre geht es den Leuten schlechter. Deshalb werden die Preise so wichtig.» Andere behaupten, wie etwa der Chef der Wettbewerbskommission, dass Sie mit ihrem EWR-Nein schuld daran sind. «Das ist eine Ausrede der unfähigen Politiker und unfähigen Unternehmer für ihr wirtschaftspolitisches Versagen.» Sie haben auch eine Bauerndiskussion losgezettelt. Was wollen Sie? «Wir hemmen die Bauern dermassen mit Regeln und Auflagen, dass sie fast nicht mehr unternehmerisch tätig sein können. Hier müssen wir zurückbuchstabieren. Ich bin dafür, dass wir dem Bauer einen Grundbetrag zur Bewirtschaftung des Landes geben. Aber dann soll er mit seinen Produkten auf den freien Markt.» Neoliberale Denkfabriken ziehen auch die flächendeckende Bewirtschaftung in Frage und wollen ganze Täler veröden lassen. «Das sollten wir nicht tun.» Wenig hört man von Blocher zum Thema Gesundheitspolitik... «Wir haben zu viel Staat im Gesundheitswesen. Die Konkurrenz spielt nicht. Da ist alles unglaublich verkalkt.» Wie wollen Sie das langfristig lösen? «Weniger Zwangsversicherung mit zu vielen Leistungen, mehr Privatspitäler.» Also eine Zweiklassen-Medizin? «Was heisst Zweiklassen-Medizin? Der Reiche konnte sich schon immer eine bessere medizinische Versorgung leisten als der Arme. Sie können in Zukunft nicht mehr allen jede Luxus-Medizin bieten. Ich rede hier nicht von Blinddarm-Operationen, sondern beispielsweise von Schönheitsoperationen. Am Schluss muss noch die Krankenkasse bezahlen, wenn jemand psychisch unter einer schiefen Nase leidet.»

19.03.2005

Die SVP kann sich zurücklehnen

Nach der Asyldebatte äussert sich ein zufriedener Christoph Blocher über den Stand in der Schweizer Politik. Mit ihm als zweitem SVP-Bundesrat, der die Arbeit an der Front mache, könne sich die Partei jetzt etwas zurücklehnen. 19.03.2005, NZZ am Sonntag (Luzi Bernet) Sie haben diese Woche den Satz gesagt, die Schweizer Ausländerpolitik habe sich bewährt. Damit meinte ich nur das Ausländergesetz. Der Beleg ist, dass wir die höchste Ausländer- und gleichzeitig eine der tiefsten Arbeitslosenquoten haben. Grosse Probleme haben wir mit der illegalen Einwanderung und im Asylbereich. Wie viele Ausländer sind illegal in der Schweiz anwesend? Gemäss neusten Studien müssen wir von etwa 100 000 ausgehen. Ein Teil davon wanderte über den Asylbereich ein. Mit diesem Problem werden wir schwer fertig. Ein Grund dafür ist, dass Arbeitseinwanderung von ausserhalb Europas legal fast nicht mehr möglich ist. Indem die Schweiz das Gesetz verschärft, vergrössert sie den Graben zwischen reichen und armen Ländern weiter. Da haben Sie Recht. Das ist die Folge des 3-Kreise-Modells. Warum baut die Schweiz an der Festung Europa mit und führt nicht eine eigenständige Politik? Das hätten wir tun können. Die Schweiz hat aber die Personenfreizügigkeit mit den 15 alten EU-Staaten beschlossen, und will es auch mit den Neuen: die Leute aus diesen Ländern müssen wir in Zukunft aufnehmen. Die Alternative wäre tatsächlich die Freizügigkeit mit allen Ländern der Welt. Am liberalsten wäre, wenn jeder hier arbeiten könnte, der eine Stelle findet. Bis zur Schwarzenbach-Initiative galt dieses System, und es wäre auch heute in meinem Sinne, aber nur dann, wenn man diesen Einwanderern das Sozialsystem nicht öffnet. Und das tun wir nicht. Das erweiterte EU-Personenfreizügigkeitsabkommen unterstützen Sie aber. Ich glaube, man muss es wagen. Die Personenfreizügigkeit ist ein liberales Anliegen, aber man muss ihre Folgen tragen können. In der Ständeratsdebatte zum Asyl- und Ausländergesetz fiel auf, wie passiv die SVP war. Die wichtigen Impulse kamen von FDP und CVP. Darüber freue ich mich sehr. Sie freuen sich? Das Gesetz liegt jetzt auf der Linie der SVP, also muss sie nur noch den Bundesrat unterstützen. Schliesslich hat die SVP jetzt einen zweiten Bundesrat, der die Arbeit an der Front macht. Wenn die Partei zufrieden ist mit dessen Arbeit, kann sie sich zurück lehnen. Das ist das Vorrecht einer vollen Regierungspartei. Die politische Grosswetterlage ändert sich also. Die politische Landschaft wurde aufgebrochen, wie am Donnerstag im Parlament gut sichtbar wurde. Der Ständerat hat die Asylgesetzrevision sehr transparent beraten, im Nationalrat wurde das Rüstungsprogramm erstmals abgelehnt. Das ist neu: während Jahren mussten die Parteien Rüstungsprogramme schlucken mit Teilen, die sie eigentlich nicht wollten - weil man nicht den Eindruck erwecken wollte, gegen die Armee zu sein. Jetzt läuft das völlig unverkrampft. Das sind Zeichen einer offenen, transparenten Politik. Es ist der Anfang einer Besserung. Eine Besserung, die mit Bundesrat Schmid ausgerechnet einen Parteikollegen trifft. Für Samuel Schmid ist das unangenehm, ja. Er tut mir leid. Aber ich bleibe dabei. Es ist positiv, dass solche Fragen weniger verkrampft diskutiert werden können. Ich stelle fest, dass jene Parteien, die bei den letzten Wahlen verloren haben, gemerkt haben, dass sie sich bewegen müssen. Das mag im Rüstungs- und Asylbereich zutreffen. In der Finanzpolitik sind SVP, FDP und CVP aber alles andere als konsequent. Da haben Sie Recht. Die SVP ist wohl am konsequentesten. Aber, in der Finanzpolitik kommen wir nicht vom Fleck. Das gilt für Bundesrat und Parlament gleichermassen. Deshalb bleibt auch das Wirtschaftswachstum schwach. Es ist leider so, dass wir tief fallen müssen, um das zu realisieren. Auch in England musste das Bruttosozialprodukt auf DDR-Niveau fallen, ehe man das Steuer herumgerissen hat. Das ist tragisch. Am nächsten Dienstag müssen Sie entscheiden, ob Sie die Swiss nach Deutschland verkaufen. Zum Stand der Verhandlungen um die Swiss will ich nichts sagen. Aber sie wissen ja, dass ich von Anfang an einer der erbittertsten Gegner des Swiss-Projektes war. Sie können ein ökonomisches Projekt nicht patriotisch begründen. Ich war zwar nie ein Airline-Experte, aber ich verstehe etwas von industrieller Logik. Wenn Private ein Unternehmen nicht in die Hand nehmen wollen, dann kann es der Staat auch nicht. Kein Privater hat mitgemacht, weil er geglaubt hat, die Swiss werde ein florierendes Projekt. Dann stimmen Sie dem Verkauf also zu? Wie gesagt: No comment! Darf der Bundesrat seine Anteile an der Swiss in Eigenregie verkaufen? Sowohl das Finanzdepartement als auch das Bundesamt für Justiz kommen in Gutachten zum Schluss, dass der Verkauf in die Zuständigkeit des Bundesrates fällt. Ob der Bundesrat diese Ansicht letztlich teilt, kann ich noch nicht sagen. Der Swiss-Handel ist ja nicht nur ein Geschäft zwischen zwei Fluggesellschaften. Kommt es jetzt zu einer politischen Lösung der offenen Streitpunkte im Bereich Luftverkehr? Das wird man sicher mit einbeziehen. Die übernahme einer Luftfahrtgesellschaft und das Anflugregime haben viel miteinander zu tun. Stimmt es, dass am Dienstag auch der Auftakt zu neuen Verhandlungen über einen Staatsvertrag mit bereits definierten Eckwerten stattfindet? Dazu möchte ich mich nicht äussern. In Süddeutschland ist deswegen schon einige Aufregung entstanden. Dass die Süddeutschen lieber keine Anflüge über ihrem Gebiet hätten, ist verständlich. Aber der Zürcher Flughafen ist nun einmal nach Norden ausgerichtet, und es macht keinen Sinn, über die grösste Agglomeration anzufliegen. Die süddeutschen Dörfer werden in einer Höhe von 900 Metern überflogen, in der Stadt Zürich sind es etwa 200 Meter. Das ist unverständlich- Der «Blick» fährt eine patriotische Kampagne zugunsten der Swiss. Das ist nichts Neues. Das Haus Ringier war bezüglich der Swissair und Swiss schon immer in einer patriotischen Aufwallung.

19.03.2005

Das heutige System ist schlecht

Bundesrat Christoph Blocher strebt einen Systemwechsel im Asylwesen an. Und die vom Ständerat beschlossenen Verschärfungen will er trotz gegenteiligem Bundesgerichtsentscheid weiterverfolgen. 19.03.2005, Berner Zeitung (David Sieber) Am Donnerstag wurden gleich zwei historische Entscheide gefällt: Erstmals wurde ein Rüstungsprogramm ablehnt. Und es wurde ein Asylgesetz beschlossen, welches das Ende der humanitären Tradition der Schweiz bedeutet. Bundesrat Christoph Blocher: Das sind keine historischen Entscheide. Die politische Landschaft ist bloss zur Normalität zurückgekehrt. Das ist die Gemeinsamkeit zwischen Rüstungsprogramm und Asylgesetz. Beim Rüstungsprogramm wurde normal darüber entschieden, ob es nun zwei Transportflugzeuge braucht oder nicht. Bisher konnte sich dies eine Partei, die zur Landesverteidigung steht, nicht erlauben. Und in der Debatte über das Asylgesetz wurden endlich die Missbräuche und Probleme beim Namen genannt. Das stellt die humanitäre Tradition in keiner Weise in Frage. Echte Flüchtlinge sind nach wie vor willkommen. War denn die Schweiz bisher politisch nicht normal? In verteidungspolitischen Fragen war sie es in der Tat nicht. Es wurden oft Rüstungsprogramme verabschiedet, obwohl die bürgerlichen Parteien eigentlich Vorbehalte hatten. Und im Asylgesetz, das ja erst Anfang der 80er Jahre entstand, galt es bis Donnerstag als unschicklich und politisch nicht korrekt, auf Probleme hinzuweisen. Man kam schnell in den Ruf eines Menschenfeindes. Das ist eigentlich die grosse änderung, welche die Wahlen 2003 gebracht haben: Jetzt wird über die Sache gesprochen. Das ist der erste Schritt, um Probleme zu lösen. Hat Sie überrascht, dass die Mitteparteien FDP und CVP in der Asyl- und Ausländerdebatte versuchten, die SVP rechts zu überholen? Nein, denn die Ständeräte haben die Kantone im Nacken. Nachdem der Bundesrat zwei meiner Vorschläge - die Durchsetzungshaft und eine Neuregelung der humanitären Aufnahme - nicht genehmigt hatte, haben die Kantone die Ständeräte zum Handeln aufgefordert. Es mag sein, dass auch eine parteipolitische Komponente mitgespielt hat, schliesslich wollen FDP und CVP bei den nächsten Wahlen nicht wieder zu den Verlierern gehören. Es hiess aus der vorberatenden Kommission, Sie hätten auch bei den beiden vom Bundesrat abgelehnten Vorschlägen indirekt, aber kräftig zur Meinungsbildung beigetragen. Ich verleugne nicht, dass ich persönlich anderer Meinung war als der Bundesrat. Ich habe in der Kommission gesagt, ihr müsst das jetzt machen, das ist nicht mehr meine Angelegenheit. Immerhin schrieb der Chef Ihres Amtes für Migration, Eduard Gnesa, den Ständeräten einen Brief, in dem er die strittigen Punkte ausführte. Das geschah auf Anfrage der Ständeräte, welche vertiefende Informationen verlangten. Herr Gnesa kam mit diesem Anliegen zu mir und ich sagte, er solle es machen. Es ging aber nicht darum, zu sagen, wie die Ständeräte entscheiden sollen, sondern darum, aufzuzeigen, was inhaltlich korrekt ist. Ich habe ihm auch gesagt, er solle in klaren und einfachen Worten schreiben, weil der Brief sowieso den Weg in die Medien finden werde. Ungewöhnlich war auch, dass das Aussendepartement ebenfalls an die Ständeräte gelangte und die Verfassungsmässigkeit sowie die Menschenrechtskonformität der geplanten Verschärfungen bezweifelte. Das geht natürlich nicht, dass ein als geheim deklarierter Mitbericht zusammengefasst und dann verteilt wird. Das muss Konsequenzen haben. Welche? Frau Calmy-Rey weiss, dass Sie handeln muss. Sie sagt, sie habe davon nichts gewusst. Das Monitoring zum neuen Nothilfe-Regime ist noch nicht abgeschlossen. Und schon wird es auf alle abgewiesenen Asylsuchenden ausgedehnt. Ist es dazu nicht zu früh? Ein Monitoring ist nie abgeschlossen. Wir haben jetzt neun Monate Erfahrung. Zudem können wir von den Erfahrungen anderer Länder, wie Norwegen oder Dänemark, profitieren, die abgewiesenen Asylsuchenden ebenfalls die Sozialhilfe gestrichen haben. Es hat sich gezeigt, dass wesentlich weniger Asylsuchende kommen, wenn man die Attraktivität bricht. Denn der Schleppermarkt wird stillgelegt. Dass die Schweiz erstmals seit 20 Jahren weniger Asylgesuche aufweist als die andern europäischen Länder, liegt auch daran, dass Asylsuchende mit einem Nichteintretensentscheid keine Sozial- sondern nur noch Nothilfe erhalten. Das Bundesgericht sieht das aber anders: Asylsuchenden mit einem Nichteintretensentscheid darf die Nothilfe nicht gestrichen werden. Die Streichung von Nothilfe wurde in extremen Fällen angeordnet. Das Bundesgericht verlangt, dass auch dann Nothilfe ausgerichtet wird. Das ist seine Beurteilung, allerdings haben wir die genaue Begründung noch nicht studieren können und diese ist in diesem Fall wichtig. Was bedeutet dieses Urteil konkret? Werden Sie nun die Verfassung ändern? Ist der Ständeratsentscheid damit Makulatur? Wenn die Streichung der Nothilfe für die Lösung eines tatsächlichen Problems etwas bringt, dann sollten wir den Entscheid des Ständerates weiterverfolgen und uns eine änderung des Gesetzes und allenfalls der Verfassung vorbehalten. Die Kantone beklagen sich, der Bund würde ihnen die Kosten aufhalsen. Die Kantone müssen dafür sorgen, dass die abgewiesenen Asylsuchenden, von denen sich rund 14 000 hier aufhalten, nach Hause gehen. Und sie können nach Hause gehen. Sie müssen nur wollen. Die Nothilfe wird im übrigen vom Bund bezahlt. Für die altrechtlichen Fälle gibt es aber nur eine Pauschale von 5000 Franken. Eine übergangsfrist wird den Kantonen nicht gewährt. Für die Kantone, welche ihre Aufgaben gut machen ist es zuviel, für jene, die nicht handeln nicht. 5000 Franken sind 125 Tage Nothilfe. Diese Zeit muss reichen, um die Leute heimzuschicken. Auf die Dauer werden wir aber nicht 5000 Franken bezahlen, sonst bleiben ja alle vier Monate hier. Es ist klar, dass die Kantone mit der Summe nie zufrieden sind. Das ist verständlich. Besteht nicht die Gefahr, dass die härtere Gangart mehr Papierlose produziert? Bisher ist dies nicht der Fall. Wir stellen fest, dass vom 1. April 2004 bis Ende des letzten Jahres 80 Prozent der Personen mit einem Nichteintretensentschied nicht mehr da sind. Natürlich gibt es viele Illegale, doch sind das nicht alles abgewiesene Asylsuchende.Ich begrüsse es, dass der Ständerat den Nationalrat korrigiert hat, und die Sans-Papiers keinen Rechtsanspruch auf Neuüberprüfung erhalten, bloss weil sie seit vier Jahren hier leben. Wie geht es zusammen, dass man die Sans-Papiers so hart anfasst, aber gleichzeitig die Wirtschaft, die solche Menschen beschäftigt, schont? Die Grossunternehmen beschäftigen keine Illegalen. Das ist gar nicht machbar. Das Risiko ist zu gross. Wenn, dann gibt es in Kleinbetrieben, in der Landwirtschaft und in den Haushalten solche Fälle. Schwarzarbeit ist im übrigen nicht nur eine Sache der Illegalen. Es gibt viele Leute, die völlig legal hier leben und schwarz arbeiten. Suchen Sie mal eine Putzfrau. Die meisten wollen nicht, dass die AHV abgerechnet wird. Der Ständerat hat die Bestimmung leicht abgeschwächt, wonach Unternehmen, die wegen Schwarzarbeit verurteilt worden sind, von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen werden. Er hat eine Kann-Formulierung eingefügt, um den Kantonen Handlungsspielraum zu geben und um nicht eine ganze Firma und deren Arbeitsplätze aufs Spiel zu setzen, nur weil der Chef verurteilt worden ist. Das bezieht sich vor allem auf Unternehmen, die von öffentlichen Aufträgen leben, wie etwa eine Tiefbaufirma. Sie haben einige Besuche «an der Front»– <<an></an>>- in Durchgangszentren etc. - gemacht. Konnten Sie angesichts der menschlichen Schicksale der nüchterne Beobachter bleiben? Ich bin froh, habe ich die Krankheit eines Industriellen: Der will immer alles an der Front sehen. Und dies unangemeldet, damit ich sehe, wie es wirklich ist. Das ist viel wertvoller, als irgendwelche Berichte zu lesen. Natürlich weiss ich, dass es um menschliche Schicksale geht. Aber daneben habe ich die Erfahrung gemacht, dass der Missbrauch viel grösser ist, als ich mir gedacht habe. Da war zum Beispiel ein junger Mann, der behauptet aus dem Sudan zu kommen, 17 Jahre alt zu sein und mit einer Nonne, die er am Bahnhof Zürich verloren habe, ins Land gekommen zu sein. Die Befragerin glaubte kein Wort, denn sie hat die Geschichte schon 20 Mal gehört. Aufnehmen musste sie die Aussage dennoch. Haben Sie auch Menschen angetroffen, die Ihnen Leid getan haben, weil sie ausreisen müssen? Ja, natürlich. Zum Beispiel jene Frau aus Russland, die sich freute mich zu sehen. Sie sagte mir, sie würde gerne hier bleiben, weil sie zuhause keine Arbeit finde. Ich habe ihr gesagt, wir können nicht alle hier behalten. Nehmen sie ihr Schicksal positiv in die Hand. Wir müssen ihnen das zumuten. Das ist hart, aber wir sind nicht dafür gewählt, so jemandem sein schweres Schicksal abzunehmen und dafür die eigene Bevölkerung und die Gesetze zu missachten. Das ist das Vorrecht der Kirche. Haben Sie die massiven Attacken der Kirchen gegen die Verschärfung des Ausländer- und Asylgesetzes überrascht? Nein, ich kenne beide Kirchen gut, einer gehöre ich an. Sie versuchen ihre Gutmenschlichkeit nach aussen zu tragen.Ich bin höchstens überrascht, dass so wenige Fakten dahinter stecken. Ich habe all jenen, die behaupten, sie kennen Fälle, in denen jemand - obwohl berechtigt - keine Nothilfe erhält, einen Brief schreiben lassen. Das Resultat: Es gibt keinen einzigen Fall. Es gibt aber Fälle wie diesen, wo mehrere Drogenhändler, die aus nahe liegenden gründen keine Nothilfe beantragen - in einer von einer Kirchgemeinde zur Verfügung gestellten Wohnung lebten. Haben die Kirchen in dem Fall all jene auf dem Gewissen, die von diesen Drogenhändlern angefixt wurden? Es heisst schon in der Bibel, seid ohne Falschheit wie die Taube. Aber es heisst auch: Seid klug wie die Schlange. Es trifft Sie also nicht, dass sie von den Kirchen zum «Bösen» stilisiert werden? Damit kann ich umgehen. Das Evangelium zu verkünden, ist eine schwierige Angelegenheit. Das haben die Kirchen zu tun. Das Asylgesetz durchzusetzen ist ebenfalls schwierig. Das ist unsere Aufgabe. Es kommt nicht gut, wenn ich beginne, das Evangelium zu verkünden. Und es kommt auch nicht gut, wenn die Bischöfe das Asylproblem lösen wollen. Das haben die letzen vier Wochen gezeigt. Wird das Asylrecht weiter verschärft? Man sollte es umbauen, denn das heutige System ist schlecht. Die Leute erst hereinlassen, jeden Fall prüfen und dann 90 Prozent wieder heimschicken, kann nicht die Lösung sein. Es braucht ein international koordiniertes Vorgehen, wie es in Italien und Deutschland diskutiert wird. Die Triage sollte bereits in Afrika erfolgen. Deshalb bräuchte es Auffangzentren vor Ort. Die echten Flüchtlinge könnten dann zu uns kommen.

15.03.2005

Der Sonderfall Schweiz: Alleingang als Chance oder Hemmschuh

Ansprache für die Zürcher Offiziersgesellschaft vom Dienstag, 15. März 2005 in Zürich 15.03.2005, Zürich Es gilt das gesprochene Wort I Die freiheitliche Schweiz I. 1 Die Schweiz ein Sonderfall? Bevor wir uns der eigentlichen Frage zuwenden - ob der Sonderfall Schweiz eine Chance oder ein Nachteil darstellt -, müssen wir uns einig werden, worin dieser Sonderfall überhaupt besteht: Die Schweiz ist ein liberaler Staat mit hohen Freiheits- und Volksrechten, aussenpolitisch neutral, dauernd bewaffnet, nach innen föderalistisch ausgerichtet. Die geistige Klammer ist ein Patriotismus, der sich nicht an einer Kultur oder Sprache orientiert, sondern am gemeinsamen Bekenntnis zum politischen Sonderfall Schweiz, der diesen Vielkulturenstaat durch seine freiheitliche Ordnung überhaupt erst möglich machte. Löst sich diese Überzeugung auf, oder wird eine dieser Säulen (Unabhängigkeit, Neutralität, Föderalismus, Volksrechte) zerstört, ist die Schweiz als Ganzes in ihrer Weiterexistenz gefährdet. Ob unser politisches Modell das Beste aller möglichen Modelle auch in der Zukunft ist, wissen wir nicht. Aber die bisherige Geschichte zeigt, dass ein föderalistischer, unabhängiger Staat auf der Basis einer liberalen Wirtschaftsordnung den Menschen Wohlstand und Freiheit bieten kann. Das zeigen 150 Jahre Frieden und Wohlergehen. Die Schweiz ist eines der reichsten Länder der Erde und wenn sie ihre Position teilweise eingebüsst hat, dann deshalb, weil ein schleichend ausgebauter Sozial- und Umverteilungsstaat den Selbstverantwortungsgrad unseres Landes zunehmend untergräbt. Die Abkehr vom Sonderfall Schweiz hat ihr jedenfalls nicht zum Vorteil gereicht. I. 2 Souverän unter Vielen In immer kürzeren Abständen werden wir heimgesucht von der Frage, ob die Schweiz, ob der souveräne Staat Schweiz einem Auslaufmodell gleicht. Ist unser "Alleingang" - so die verzweifelte Redensart - eine Chance oder wird er zum Problem? Soll die Schweiz unabhängig bleiben oder sich der Europäischen Union anschliessen? Soll unser Land auf die Kraft der Eigenständigkeit bauen oder sich einem Grossverbund anschliessen und die Vision eines vereinten Europa verfolgen? Ist eine bewaffnete Neutralität noch zeitgemäss oder soll die Schweiz nicht vielmehr einem bestehenden Militärbündnis (NATO) oder einem entstehenden Militärbündnis (EU) beitreten? Um zu einer brauchbaren Antwort zu kommen, sollte man zunächst die Ausschliesslichkeit des Wortes "Alleingang" relativieren. Die Schweiz war nie allein im Sinne von losgelöst von seinem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Umfeld. Es gab und gibt keinen Planeten Schweiz. Handel, Austausch, Verträge, ja Partnerschaften bestimmten seit jeher unser Land und seine Beziehungen zu anderen Staaten. Nur hat die Schweiz trotz aller Verflechtungen nie das Prinzip der Souveränität für überholt erklärt. Das weiss man gerade hier in Zürich. Denn dieser Kanton gab dem jungen Bundesstaat von 1848 sein Gepräge. Umso unverständlicher erscheint mir die momentane Verunsicherung. Es scheint so, dass Zürich vergessen hat, woher es Jahrzehnte lang seine Kraft geschöpft hat: Aus dem Erbe des liberalen Bürgertums. Zürich steht heute an einer historischen Wegmarke: Soll sich der Kanton auf seine liberale Tradition besinnen oder endgültig den Kurs aufnehmen Richtung staatsgläubiger Bevormundung. Wie viel Kraft kann das liberale Bürgertum überhaupt noch mobilisieren? Selbst wenn man sich ungern daran erinnert: Der 48er Bundesstaat war ein Sieg des Liberalismus und des Nationalismus. Für jeden Liberalen stand fest, dass nur der Nationalstaat als massgebende politische Einheit Sinn machte. Bis in die Neuzeit widerstand die politische Elite dem Druck von aussen. Den Weg der Freiheit und Unabhängigkeit galt es nicht zu verlassen. Soll dies nun plötzlich anders sein? I. 3 Ende des "Alleingangs"? Seit dem Fall der Mauer hat sich - in einer naiven Friedens- und Harmonieeuphorie - vor allem in der Schweiz der Angriff auf die Unabhängigkeit verstärkt. Nicht nur wurde das Wort Selbstständigkeit zunehmend durch den Begriff "Alleingang" ersetzt und zugleich entstellt, auch witterten die Anhänger der Lehre vom Ende des Nationalstaates und des Machtgleichgewichts als Friedensvoraussetzung mehr und mehr Morgenluft. Ihre Gedanken führen in den 90er Jahren in ein wenig selbstbewusstes und den Lasten der Verantwortung eher abholdes politisches Milieu. Daraus erfolgte ein fast zwanghaftes Streben nach Internationalität, wovon insbesondere die Bundesverwaltung erfasst wurde. Obschon jeder wüsste: Aktivität allein bringt uns nicht weiter. Man ist geneigt mit Mathias Claudius zu sagen: ".sie spinnen Luftgespinste und suchen viele Künste und kommen weiter von dem Ziel." Der Realist weiss: Das oft vorausgesagte Ende des Nationalstaates und der westphälischen Ordnung von souveränen, selbstverantwortlichen Staaten steht nicht bevor. Trotz Globalisierung: In den letzen fünfundzwanzig Jahren sind mehr Nationalstaaten entstanden als hundert Jahre zuvor. Ausserhalb Europas ist vom Verschwinden des Nationalstaates sowieso keine Rede. Selbst die UNO und das Völkerrecht verlören ihre Grundlagen. Wohl scheinen die grenzüberschreitenden Probleme zu wachsen. Aber die Problemlösungsfähigkeit ist und bleibt gebunden an den handlungsfähigen Staat. Nur Staaten - trotz aller Schwärmereien über internationale Rechtssysteme - verfügen über die nötigen materiellen, personellen, finanziellen und - vor allem - militärischen Ressourcen. Die jüngsten weltpolitischen Krisen sprechen eine deutliche Sprache: In der Not spielen sofort - auch in Europa - die nationalen Reflexe. II Die unabhängige Schweiz - Koexistenz statt Anschluss II. 1 Wohin steuert Europa? Letztlich läuft die Frage des heutigen Abends darauf hinaus, ob sich die Schweiz der Europäischen Union anschliessen soll oder nicht. Zur Europäischen Union: Die EU hat sich in den letzten Jahren massiv verändert. Aus einer lockeren, vor allem der wirtschaftlichen Liberalisierung verpflichteten Europäischen Gemeinschaft (EG) entstand die Europäische Union, die mehr und mehr in Richtung politischer Vereinigung zielt (gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik, gemeinsame Innen- und Justizpolitik, politische Einheitswährung). In den letzten Jahren hat die EU sich rasant vergrössert, und es scheint zur Zeit völlig unklar zu sein, wo die politischen Grenzen "Europas" anzusetzen sind. Wohin führt Europa? Über den Bosporus hinaus? Über den Ural hinaus? Gehören die arabischen Mittelmeerstaaten ebenfalls zum "europäischen Raum"? Wo die EU enden soll, weiss niemand der Europa-Architekten so genau. Ein Befund, der uns eher nachdenklich als euphorisch stimmen sollte. Allerdings lassen sich einige wichtige Tendenzen ausmachen: Obwohl die Problemlösungsfähigkeit allein bei den Nationalstaaten läge, sind die EU-Instanzen verstärkt bestrebt, möglichst viel Kompetenz und Macht auf sich zu vereinigen. Dieser Ausbau der Zentralgewalt geht weitgehend auf Kosten der Demokratie (was die Partizipationsmöglichkeiten des einzelnen Bürgers vermindert) und der staatlichen Souveränität (was dem ursprünglichen Charakter Europas - der pulsierenden Vielstaatlichkeit - zuwiderläuft.). Für die Schweiz hiesse aber ein EU-Beitritt die Preisgabe der Unabhängigkeit und des Föderalismus - beides Säulen unseres Sonderfalles. Neuerdings strebt die Europäische Union eine gemeinsame Armee an. Der Beitritt zur EU wäre also auch - und ich spreche ja vor Offizieren - ein Beitritt zu einem künftigen Militärbündnis und damit der Verlust unserer dritten Säule, der dauernd bewaffneten Neutralität. II. 2 Harmonie ist kein Ersatz für Freiheit Den schrittweisen Abbau der staatlichen Souveränität wird hierzulande mit dem Modebegriff "Integration" geschickt vertuscht. Integration oder "Harmonisierung" widersprechen jedoch dem freiheitlichen Gesellschaftsbild, denn sie enden in Nivellierung und Gleichschaltung, in Zwang und Bevormundung, in Zentralgewalt und Bürokratie. Wenn ein Amerikaner in jungen Jahren als Marxist startet und dann in die Wirtschaftswissenschaften geht, den Nobelpreis erhält und noch mit 84 Jahren universitär arbeitet, brächte er alle Voraussetzungen mit, frei und freimütig zu sagen, was er denkt. Ich spreche vom Ökonomen Douglass C. North, einem heute überzeugten Verfechter dezentraler, freiheitlicher Strukturen: "Meine Prämisse ist die: Niemand weiss, wie man es richtig macht, aber wenn man vieles probiert, hat man eine bessere Chance, Erfolg zu haben. So hat sich Europa entwickelt. Der Erfolg Europas ist darauf zurückzuführen, dass dort ein ganzer Haufen kleiner Staaten, die alle miteinander im Wettbewerb standen, alles Mögliche versuchten. Einiges funktionierte nicht, anderes funktionierte Und wenn etwas funktionierte, dann imitierten die andern Staaten dies." Weiter meinte North: "Solange man genug Wettbewerb zwischen den Staatswesen in Europa zulässt, wird es Erfolgsgeschichten geben wie Irland, das sich in den letzten 15 Jahren spektakulär entwickelt hat. Aber wenn man ein einziges einheitliches Staatsgebilde schafft, das allen ein gemeinsames Regelwerk aufzwingt, wird dies eine Katastrophe werden." Vielleicht wundern Sie sich, dass ich einen ehemaligen Kommunisten zitiere. Aber heutzutage glaubt man eher Leuten mit einer marxistischen Vergangenheit, als solchen mit einer unternehmerischen . II. 3 Verflogener Enthusiasmus Wenn der Enthusiasmus für das vereinigte Europa - mit Ausnahme der Politik in Bern - merklich nachgelassen hat, liegt das an wirtschaftlichen und politischen Ursachen. Die Europäische Union konnte keines der Probleme bewältigen, die man angeblich nur mit Hilfe eines EU-Beitritts glaubt lösen zu können: Schuldenwirtschaft, steigende Kriminalitätsraten, Asylmissbrauch, Bildungsmisere, Arbeitslosigkeit, Bürokratie, Reglementierung, Steuern- und Abgabenlast kennzeichnen Teile der Union genauso wie die heutige Schweiz. Weil nur Staaten selbst Problemlösungsfähigkeit besitzen, bin ich überzeugt, dass gerade ein kleines Land mit Milizparlament, schneller und wirksamer handeln könnte, als ein anonymer Verwaltungskoloss ohne ausgeprägte demokratische Kontrolle. Vorausgesetzt, dass er das will und tut. Dazu braucht es Menschen mit Verantwortungsgefühl. Ich frage: Verfügen wir über diese Bereitschaft zur Verantwortung? III Die neutrale Schweiz - Gewappnet sein für das Unerwartete Auch wenn das Vortragsthema dies nicht expressis verbis verlangt - die Sicherheitspolitik sollte vor einer Offiziersgesellschaft schon thematisiert werden. Gestatten Sie mir daher einen Blick auf die Bedrohungsszenarien der Zukunft III. 1 Umbruch und Wandel Zur Zeit beschäftigt uns das Erscheinungsbild der sogenannten Neuen Kriege. Wir sind Zeugen von zunehmender Entstaatlichung, Kommerzialisierung und Asymmetrisierung des Krieges. Die alte Trennung von Krieg und Frieden, Soldat und Zivilist, Soldat und Verbrecher, Freund und Feind, Innen und Aussen, wird verwischt. Wir beobachten Bürgerkriege, Terror- und Antiterrorkriege, Interventionskriege - alle mit ihren eigenen Ursachen, Akteuren, Abläufen, Strategien und Taktiken, Gewinnern und Verlierern und alle voller Leid, Tod und Zerstörung. Wir spüren den Machtanspruch grosser Staaten und internationaler Organisationen im Ringen um eine neue globale Machtordnung. Wir erleben den vielfältigen Versuch, das Gewaltmonopol der Nationalstaaten zu unterhöhlen und militärpolitische Verantwortung auf undurchsichtige übernationale Bürokratien abzuwälzen. Wo steht die Schweiz in diesem Prozess? Wie ist der versteckte Souveränitätsabbau zu stoppen? Inwiefern hält sich die politische Führung (Bundesrat, Parlament, Verwaltung) noch an das in der Verfassung festgeschriebene Prinzip der Neutralität? Darf die Neutralität zum Spielball erfindungsreicher Interpreten werden oder müssen wir wieder den eigentlichen Kern dieser aussenpolitischen Maxime freilegen? Sie kennen das Geschwätz von der "aktiven" Neutralität. Neutralität gebe es nur in Kriegszeiten und dergleichen mehr. Alles grundsätzliche Zustimmungen zur Neutralität, die sich als höflichste Form der Ablehnung entpuppen! III. 2 Was haben wir zu verteidigen? Wenn nicht jeder Bürger und Soldat auf diese Frage eine überzeugende Antwort in eigenen Worten geben kann, dann ist etwas faul in einem Staat und in einer Armee. Es geht auch in Zeiten strategischen Umbruchs um unsere Unabhängigkeit, um unsere Eigenverantwortung in ausgeprägt direkter Demokratie, um unsere Freiheit von Knechtschaft, um die Neutralität als Überlebensstrategie eines Kleinstaates. Es geht um den Vorrang des Rechts bei Streitschlichtung, um den Schutz von Leib und Leben und den geordneten Gang der Wirtschaft. Das ständige Gerede von Sicherheit schafft falsche Vorstellungen. Wer Sicherheit sucht und dafür Freiheit opfert, habe weder das eine noch das andere verdient, meinte einst Benjamin Franklin. Frei und unabhängig ist man nicht ohne ein vernünftiges Mass an Risiko. Der Kleine am Rockzipfel des Grossen mag sich einen Sicherheitsgewinn erhoffen. Er täuscht sich. Der Grosse zerrt ihn mit in seine eigenen Abenteuer. Der Drang in die kollektive Sicherheit ist meist Ausdruck von Schwäche, die stets zu fehlendem Realitätsbezug neigt. Der Publizist William Pfaff sagt es plakativ: "Kollektive Sicherheit ist die Ausrede, um die individuelle Verantwortung für die Sicherheit nicht übernehmen zu müssen." Nicht die Absage an die souveräne Verteidigung ist die Lösung. Wir brauchen ein dem strategischen Wandel angepasstes, neues Bedrohungsbewusstsein, nüchtern, realistisch und ohne Aufregung. Wir müssen die neuen Verwundbarkeiten der modernen, eng vernetzten Gesellschaft kennen und zu schützen lernen. Wir müssen schon in der Planung vermeiden, verwundbare Zentren zu schaffen. Konzentration auf das Wesentliche, Dezentralisierung, Delegation von Verantwortung nach unten, Handlungsfähigkeit in Krisen, höchste Flexibilität heissen die Stichworte. Wenn ich sage "wir", meine ich die Verantwortungsträger in Politik, Militär, Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft. Wir brauchen keine künstlichen Feindbilder, aber eine realistische Vorstellung unserer Verwundbarkeit. III. 4 Führung und Verantwortung Die höchste Verantwortung einer Regierung sei der Schutz der eigenen Bevölkerung vor fremder Gewalt, war eine zentrale Erkenntnis der Anschläge vom 11. September 2001. Das gilt auch für uns. Die vermeintliche Abschiebung der Verantwortung auf internationale Gremien oder auf Söldnertruppen und bezahlte Freiwilligenheere taugt im Ernstfall nicht. Es ist eine tiefe Wurzel schweizerischer Strategie, mit einer Milizarmee, die nicht in Kasernen auf Einsätze wartet, sondern integriert ist in Gesellschaft und Wirtschaft, dann für Schutz zu sorgen, wenn er nötig wird. Die letzte Verantwortung liegt beim Souverän, beim Bürger. Dieser Schutz ist nicht ohne persönliche Opfer zu haben. Doch bildet die Miliz eine hohe Schwelle für militärische Abenteuer von Regierung und Verwaltung und das ist gut so. Sie bietet hohe berufliche und menschliche Qualität auf allen Stufen. Militärische Führung in grossen Komitees versagt immer wieder. Wo Gewaltmittel eingesetzt werden, ist klare Führungsverantwortung nötig. Jeder muss seinen Auftrag, seine Kompetenzen und Mittel kennen. Die Dienstwege müssen eingespielt sein. Jeder muss wissen, mit wem er wie verbunden ist und wem er vertrauen kann. Wir brauchen wieder eine wohlvorbereitete, im Ernstfall bis hin zum Armeeeinsatz fähige Staatsführung, die alle notwendigen Dienste im Verbund und stufengerecht einsetzen kann. Der vom Bundesrat beschlossene, zur Übung katastrophaler Lagen vorgesehene Krisenstab geht in diese Richtung und ist ein Lichtblick. Der nächste Krieg wird anders sein als der letzte. Er wird anders sein, als wir ihn uns heute vorstellen. Er wird vielleicht gar nicht "Krieg" heissen. Nennen wir ihn Ernstfall. Gefordert ist die Fähigkeit, mit dem Unerwarteten, Unerhörten, Neuartigen fertig zu werden. Es wird darum gehen, nachrichtendienstlich den Überblick zu gewinnen, mit Sofortmassnahmen Führungs- und Handlungsfähigkeit herzustellen, die Lage zu beurteilen, zeitgerechte Entschlüsse zu fassen, Aufträge zu erteilen und die Erfüllung durchzusetzen. Es wird darum gehen, im sich rasch verändernden Umfeld einer Mehrfachkrise neu zu disponieren, Reserven zu schaffen und einzusetzen, die Anstrengung von Hunderttausenden zu koordinieren. Staatsführung lässt sich im Ernstfall nicht neu erfinden. Vielleicht haben wir in den langen Friedensjahren den Respekt vor der Aufgabe verloren. Hüten wir uns, den letzten Krieg oder den kalten Krieg vorzubereiten. Die Bedrohungslage ist neu und ihrerseits instabil. Sie wird sich weiter wandeln. Alle Vorbereitungen, vor allem alle Übungen sind deshalb unter das Thema zu stellen: Fertig werden mit dem Unerwarteten. Die Überraschung bleibt Kern aller Landesverteidigung neuen Musters. Dazu genügt es nicht, lange vorangekündigte Führungsübungen, die von den beübten Funktionären bis ins Detail vorbereitet werden können, durchzuführen. Wir brauchen eingespielte, flexible Strukturen in allen Bereichen und auf allen Stufen. Wir brauchen keine vorbereiteten Fälle mit vielen Dossiers, sondern eine eintrainierte Führungstechnik für schwer vorstellbare Ereignisse. Der amerikanische wie der russische Präsident stellten fest, dass ihre Führungsapparate im entscheidenden Moment überrumpelt wurden und nicht angemessen reagierten. Unsere Aufgabe ist überblickbarer und einfacher - aber anspruchsvoll genug. Nur ist unsere Denkweise oft viel zu statisch. IV. Und die NATO? Kommen wir noch auf die NATO zu sprechen und fragen wir uns, was sie eigentlich ist: "Jeder versteht, was die NATO war. Einige verstehen, was die NATO ist. Aber kaum jemand versteht, was die NATO sein wird." Diese Kurzanalyse des NATO-Oberkommandierenden, des Generals James Jones, gilt Wort für Wort auch für uns. Wir kannten die NATO als mächtiges Verteidigungsbündnis unserer Nachbarn gegen eine Bedrohung durch den waffenstarrenden Warschauerpakt. Die NATO musste ihre Kampfkraft aber nicht im Feuer bewähren. Sie hat den Kalten Krieg nicht gewonnen, sie hat ihn nur nicht verloren. Nach dem Zerfall des wahrscheinlichsten Feindes liessen die NATO-Mitglieder mehrheitlich ihre Streitkräfte verkümmern. Bestände, Budgets und Ausbildung wurden reduziert. Im Kosovo führte die NATO ihren einzigen Krieg, ohne UNO-Mandat und militärisch nur teilweise überzeugend. Die Folgen dieses Krieges sind noch nicht bewältigt. Wegen der Irak-Frage drohte sich die NATO zu spalten. Die USA verschmähten die Hilfe der Verbündeten, die eilfertig den Beistandsartikel ihres Vertrages anriefen. Der Auftrag bestimme die Koalition, nicht umgekehrt, antwortete der US-Verteidigungsminister. Alle Versuche, die NATO zu neuem Leben zu erwecken, sind bisher auf halbem Wege stecken geblieben. Die Ausdehnung nach Osten brachte neue Mitglieder mit anderen strategischen Kulturen. Der qualitative und quantitative Abstand der Führungsmacht USA bleibt erdrückend und wächst. Die Einsätze im Irak und in Afghanistan vermögen die heimischen Wähler in Europa nicht zu begeistern. Die Zukunft der NATO bleibt ungewiss. Als neues Mitglied der Schweizer Regierung glaube ich heute nicht, dass diese - weder offen noch verdeckt - den Anschluss an die NATO sucht. Aber es ist nicht zu verkennen, dass wir im Rahmen der "Partnerschaft für Frieden" einem erweiterten Zubringerdienst angehören, was nicht im Sinne einer umfassenden Neutralität sein kann. Ich fasse zusammen: Die Entwicklung der NATO ist ungewiss. Gewiss ist aber die neue Verwundbarkeit der Schweiz in neuen Kriegen des 21. Jahrhunderts. Und gewiss ist die Notwendigkeit, selber, in eigener Verantwortung rasch handeln zu können. V. Neutralität und Eigenwilligkeit Warum sollten wir das Neutralitätsprinzip aufrecht erhalten? Neutralität schützt uns vor Kriegsbegeisterung, vor Manipulation über die Medien, vor voreiligem Nachgeben unter Druck. Sie erlaubt uns unparteiische Hilfe, wo sie wirklich gebraucht wird. Sie errichtet, zusammen mit dem Milizsystem, eine hohe Schwelle für den Einsatz der Schweizer Armee. Aber sie ist nicht gratis. Sie braucht standfeste, selbstbewusste Politiker, Diplomaten und Soldaten, die nicht auf fremden Applaus angewiesen sind. Was heisst eigentlich Neutralität und was bringt sie uns? Nicht nur Vorteile. Neutral sein, heisst oft - und vor allem im Ernstfall - alleine sein. Es ist die Einsamkeit, die Verantwortungsträger und gute Führungskräfte als unvermeidlich anerkennen, jedoch schwache Leute, die die Verantwortung meiden, so sehr fürchten. Aber das Alleinsein wird im Ernstfall ohnehin die wahrscheinlichere Variante sein als uneingeschränkte Hilfe von anderen. Wäre es deshalb nicht klüger, dieser wahrscheinlichsten Eventualität von Anfang an Rechnung zu tragen? Wer sich an einen Stärkeren anlehnt, ist ihm ausgeliefert. Es liegt einzig an ihm, ob er im Ernstfall auch gewillt ist, dem Schwächeren beizustehen. Sollte er sich tatsächlich dazu entschliessen, dann mit Sicherheit nur unter der Voraussetzung, dass der Schwächere die Interessen des Stärkeren teilt. Weit realer ist jedoch die Gefahr, an der Seite eines grösseren Partners unfreiwillig in einen Konflikt hineingezogen zu werden. Denn ein Bündnis kann auch in einer Gefangenschaft enden. Gerade die jüngsten, bis nach Europa hineingetragenen Terroranschläge zeigen, dass die Neutralität auch in Zeiten überstaatlicher Auseinandersetzungen einen besseren Schutz bietet als voreilige Parteinahme. Neutralität darf deshalb nicht heissen, sich aktivistisch überall einzumischen und Stellung zu beziehen. Sie ist vielmehr Garant für den wichtigsten aussenpolitischen Trumpf im internationalen Kräftespiel: die Berechenbarkeit. VI. Ein Wort an die Offiziere Sie möchten wohl wissen, was bedeuten diese Überlegungen für Sie? Oder vielleicht anders ausgedrückt: "Was erwartet der Bundesrat von mir als Offizier?" Im Besonderen vom Milizoffizier? Wir alle (nicht nur der Bundesrat) erwarten von Ihnen: - Dass Sie sich als Milizoffizier mit den Werten des Landes und seiner Bedrohung auseinandersetzen. - Eine überzeugende persönliche Antwort auf die oben gestellte Frage "Was haben wir zu verteidigen"? - Ein modernes, dem Wandel sich anpassendes, illusionsloses, ideologiefreies Bild der neuen Kriege - Die Beherrschung des militärischen Metiers - Die Ausführung der Ihnen übertragenen Aufträge - Kritisches Mitdenken und Mitreden. - Den Mut, das Risiko des "Alleingangs" mit zu tragen, weil es die Chance ist, auch künftig bestehen zu können.