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14.05.2005

Das Kollegialitätsprinzip ist nicht falsch

Mit einer heftig kritisierten Rede in Rafz (ZH) hat Christoph Blocher die Debatte um das Kollegialitätsprinzip neu entfacht. Der Justizminister nimmt dazu Stellung. 14.05.2005, Schweizerische Depeschenagentur sda (Gerhard Tubandt und Marianne Biber) Warum ritzen sie immer wieder und bewusst am Kollegialitätsprinzip, seit Sie im Bundesrat sind? Ich wüsste nicht, wo ich das Kollegialitätsprinzip geritzt haben sollte. Indem Sie sich zum Beispiel in Rafz implizit gegen Schengen ausgesprochen haben... Lesen Sie die Rede, dann sehen Sie, das dies nicht stimmt. Wenn sie eine Rede über den Zweiten Weltkrieg halten und sich vergegenwärtigen, was im Zweiten Weltkrieg verteidigt worden ist: Die Freiheit, die Demokratie und die Souveränität von Staaten und damit auch die Landesgrenzen, dann sind Sie natürlich bei den Grundsätzen des Staates. Und bei Schengen geht es auch darum, wie weit die Souveränität des Staates abgetreten werden soll oder nicht. Aber ich habe dies in Rafz nicht einmal erwähnt. Die Rede kann jedermann abrufen auf www.ejpd.admin.ch. Aber indirekt haben Sie sich so über Schengen geäussert... Jede Frage, die man behandelt hat, hat indirekt Auswirkungen auf einzelne Teile der Politik. Ich habe mich lediglich gewehrt, weil im Zusammenhang mit Schengen der Eindruck erweckt wurde, die Regierung stehe geschlossen hinter diesem Projekt. Das ist nachweislich falsch. Und solches werde ich auch in Zukunft richtig stellen. Aber Sie haben sich zum Kollegialitätsprinzip geäussert. Das Kollegialitätsprinzip darf nicht dazu führen, dass die Bürger falsch informiert werden. Warum haben Sie das nicht an der Medienkonferenz gesagt oder unmittelbar danach? Es war eine Medienkonferenz mit 60 Journalisten und ich war sehr überrascht über diese Bemerkung. Ich hielt damals den Zeitpunkt nicht für gekommen. Ich wollte mir das Ganze zunächst überlegen. Was finden Sie denn falsch am Kollegialitätsprinzip? Falsch ist das Prinzip nicht. Die Frage ist, was es heisst. Falschinformationen können jedoch nicht toleriert werden. Welches System wäre ihnen denn für den Bundesrat lieber? Ich gehe sehr weit. Meiner Meinung nach könnten die Regierungssitzungen auch öffentlich sein wie jene des Parlaments. Es gäbe dann ein paar Geschäfte, die vertraulich sind, das ist klar. Diese Meinung wird aber heute nicht geteilt. Es gäbe auch Zwischenformen. Der Sprecher könnte zum Beispiel die verschiedenen Standpunkte vor Entscheidfindungen bekannt geben. Man könnte sogar noch einen Schritt weitergehen und das Stimmenverhältnis bekannt geben. Darüber sollten die Politiker offen diskutieren. Das ist aber lediglich meine persönliche Meinung. Das würde aber doch eine gewisse Änderung im ganzen System nach sich ziehen, weil sich die Kommunikation der Regierung nach aussen ändern würde. Die Kommunikation wäre vielleicht eine andere. Aber nicht das System. Ich bin überzeugt, es gäbe mehr Vertrauen, auch in die Regierung. Man muss keine Angst haben vor dieser Transparenz. Die Bevölkerung hat doch den Eindruck, in dieser Regierung werde etwas im Halbdunkeln gemauschelt. Es ist aber nicht so: Es geht in der Regierung viel besser zu, als die Leute meinen. Es wird argumentiert, es werden Meinungen auf den Tisch gelegt. Und manchmal geht es auch ruhiger zu und her. Ich weiss nicht, weshalb man das nicht wissen darf. Würde das nicht den Bundesrat schwächen? Im Gegenteil. Heute werden gezielt Indiskretionen, Unwahrheiten und Halbwahrheiten verbreitet. Korrigiert werden können sie nicht. Damit sind die Bürger schlecht informiert. Und wo ist die Diskretion denn nötig? Nehmen wir an, der Bundesrat muss zum Beispiel personelle Entscheide fällen. Da gilt Diskretion. Oder im Geheimhaltungsbereich. Vielleicht hie und da aus strategischen Gründen. Aber wo Parlaments- und Volksentscheide anstehen, ist sie nicht nötig. Hat man Ihnen am Mittwoch in der Bundesratssitzung auf die Finger geklopft? Darüber zu schweigen verlangt das heutige System. Gibt es jetzt eine Diskussion über das Kollegialitätsprinzip? Gut ist, dass dieses Prinzip endlich hinterfragt wird. Alle halten sich ja ans Kollegialitätsprinzip, nur hat jeder eine andere Vorstellung davon. Die vertiefte Diskussion in der Öffentlichkeit ist nötig. Pochen sie darauf, dass das Thema diskutiert wird? Ich bin bereit, darüber zu diskutieren. Erzwingen und befehlen kann man dies nicht. Sie werden sich inskünftig im Bundesrat also so verhalten wie bisher? Ja. Das muss so sein. War es nicht auch eine Frage der Taktik, dass Sie am Sonntag über Grenzen und über Kollegialitätsprinzip geredet haben? So konnten Sie indirekt sagen, dass Sie nicht einig mit dem übrigen Bundesrat sind. Heute befinden sich die Gegner von Schengen ja eher auf der Verliererseite, so aber konnten sie die Kampagne noch einmal aufheizen. Lesen Sie die Rede! Eine Anti-Schengenrede würde wohl anders tönen. Sie lassen sich von niemandem einspannen? Ich wüsste nicht von wem. Von Ihrer Partei... Bin ich eine so schwache Figur, dass man mich einspannen kann? Die SVP weiss, dass ich die Meinung des Bundesrates vertreten muss, das ist meine Pflicht, auch wenn ich anders denke. Der Partei stehe ich nicht mehr in gleicher Weise zur Verfügung, dafür hat sie Verständnis zu haben.

22.04.2005

Partnerschaftsgesetz

Medienkonferenz, 22. April 2005, Bundesrat Christoph Blocher zur Volksabstimmung vom 5. Juni 2005 22.04.2005 Es gilt das gesprochene Wort Sehr geehrte Damen und Herren Die Kulturgeschichte der Menschheit zeigt, dass es Menschen mit gleichgeschlechtlicher Ausrichtung immer gegeben hat. Aber in verschiedenen Kulturen sind diese Menschen verfolgt und diskriminiert worden. Das ist - zumindest in der westlichen Welt - nicht mehr so. Die sexuelle Ausrichtung und die damit verbundene Lebensform einer Person gehört zur persönlichen Freiheit, die in der Schweiz von der Verfassung geschützt wird. Die letzten Spuren einer Diskriminierung der Homosexualität sind in der Schweiz 1992 aus dem Strafrecht getilgt worden. Das geltende Recht behandelt gleichgeschlechtliche Paare weitgehend gleich wie heterosexuelle Konkubinatspaare. Es besteht das Bedürfnis, dass solche oft langjährigen gleichgeschlechtlichen Partnerschaften - ähnlich wie die Ehegemeinschaft - nach aussen als Gemeinschaft auftreten. Das wirkt sich insbesondere im Erbrecht aus. Stirbt einer der Partner, so muss der überlebende auf dem Vermögen, das er erbt, Erbschaftssteuern zahlen, wie wenn er ein Dritter wäre. Ist eine der Partnerinnen oder einer der Partner ausländischer Nationalität, so besteht anders als bei ausländischen Ehegatten von Schweizer Bürgern kein Anspruch auf eine Aufenthaltsbewilligung. Auch im Sozialversicherungsrecht werden gleichgeschlechtliche Paare als zwei Einzelpersonen mit allen Vor- und Nachteilen und nicht als eine Gemeinschaft behandelt. Am 5. Juni wird es nun eine Premiere geben: Zum ersten Mal in Europa wird der Souverän eines Landes darüber entscheiden, ob er gleichgeschlechtlichen Paaren ein spezielles Rechtsinstitut in der Form der eingetragenen Partnerschaft zur Verfügung stellen will. Die vom Parlament verabschiedete Lösung ist kein Schnellschuss: In einer ersten Vernehmlassung wurden fünf Lösungsmodelle zur Diskussion gestellt, die von punktuellen Verbesserungen, einem privatrechtlichen Vertrag und der eingetragenen Partnerschaft mit unterschiedlicher Ausgestaltung bis zur Öffnung der Ehe durch eine Verfassungsrevision reichten. Eine grosse Mehrheit hat sich für die Schaffung eines eigenen Rechtsinstituts ausgesprochen. Ebenso eindeutig sind die Öffnung der Ehe oder eine bloss vertragsrechtliche Lösung abgelehnt worden. Erst in einem zweiten Schritt wurde das ausformulierte Gesetz in die Vernehmlassung geschickt. Unseres Erachtens liegt es im Interesse des Staates, dass Menschen verlässliche, das heisst rechtlich abgesicherte Beziehungen miteinander eingehen können. Es liegt auch im Interesse des Staates, dass diese Beziehungen einem einheitlichen Rahmen unterworfen sind, der klar zum Ausdruck bringt, welche Regelung sowohl im Verhältnis des Paares zueinander als auch in seiner Beziehung zur Umwelt gilt. Ausgangspunkt für den Gesetzgeber war das Bild zweier erwachsener Personen, die miteinander einen Haushalt führen, gemeinsam ihr Leben gestalten und füreinander Verantwortung übernehmen wollen. Gleichgeschlechtliche Paare können sich nach dem neuen Gesetz beim Zivilstandsamt eintragen lassen und verbinden sich damit zu einer Lebensgemeinschaft mit genau definierten Rechten und Pflichten. In verschiedenen Bereichen gleichen sich die Bestimmungen für Ehepaare und eingetragene Paare. Das liegt im Umstand begründet, dass gleichgeschlechtliche Paare in manchen Situationen ähnlichen, wenn nicht sogar gleichen Problemen gegenüberstehen wie Ehegatten. Denn unabhängig von der Konstellation eines Paares wirft das Zusammenleben von zwei Menschen immer wieder ähnliche rechtliche Fragen auf. Im Bereich der Einkommens- und Vermögenssteuer wird sich die Last des Paares vergrössern, wenn beide berufstätig sind. Und in der AHV wird das Paar nicht mehr wie bisher zwei Einzelrenten sondern nur noch eine Paarrente, also 150 Prozent einer Einzelrente beanspruchen können. Geht das Paar auseinander, werden die in der beruflichen Vorsorge angesammelten Ersparnisse geteilt und die eine Partnerin kann zur Bezahlung von Unterhaltsbeiträgen an die andere verpflichtet werden. Trotz einer gewissen Nähe zum Eherecht unterscheidet sich die eingetragene Partnerschaft aber klar von der Ehe. Das zeigt sich schon allein darin, dass ein eigenständiges Gesetz geschaffen und die Bestimmungen nicht ins Familienrecht des Zivilgesetzbuches integriert worden sind. Damit wird unterstrichen, dass die gleichgeschlechtliche Partnerschaft nach dem Willen des Gesetzgebers anders als die Ehe nicht die Grundlage für eine Familiengründung ist. Zwei gleichgeschlechtliche Personen können naturgemäss miteinander keine Kinder haben. Sie werden von dem neuen Gesetz auch nicht zur Adoption oder zu fortpflanzungsmedizinischen Verfahren zugelassen. Selbst die Stiefkindadoption ist untersagt. Dass Kinder in Haushalten mit gleichgeschlechtlich orientierten Personen aufwachsen, ist auch in der Schweiz eine Tatsache. Ob nun dem neuen Institut zugestimmt wird oder nicht, ändert an dieser Tatsache nichts. Die Frage, bei wem ein Kind aufwächst, ist jedoch von der Frage zu trennen, wer rechtlich seine Eltern sind. Sowohl der Bundesrat wie das Parlament lehnen es mit Entschiedenheit ab, einem Kind durch Adoption rechtlich zwei Mütter oder zwei Väter als Eltern zuzuordnen. Damit würden die Grundprinzipien des schweizerischen Kindesrechts durchbrochen. Nicht einzusehen wäre zudem, warum die Adoptionsmöglichkeit auf gleichgeschlechtliche Paare beschränkt bliebe, und warum nicht auch zwei Schwestern oder zwei andere Personen, die in einem gemeinsamen Haushalt leben, zur Adoption eines Kindes zugelassen würden. Wird die Ehe durch das Partnerschaftsgesetz gefährdet? Das deutsche Verfassungsgericht, das ebenfalls mit dieser Frage konfrontiert wurde, hat die zutreffende Antwort gegeben. Die eingetragene Partnerschaft kann die Ehe schon deswegen nicht konkurrenzieren, weil sie sich an einen völlig anderen Adressatenkreis richtet. Die eingetragene Partnerschaft ist wegen dieses Unterschieds auch keine Ehe mit falschem Etikett, sondern etwas anderes als die Ehe. Sie ist ein Institut, das sich nur an Personen richtet, die definitionsgemäss keine Ehe eingehen können. Gefährdet würde die Ehe, wenn heterosexuelle Paare zwischen der Ehe und einem weiteren Institut, zum Beispiel der eingetragenen Partnerschaft, wählen könnten. Das ist aber nicht der Fall. Besteht bei der Annahme des Partnerschaftsgesetzes die Gefahr der Salamitaktik, wie die Gegner behaupten? Ist das neue Gesetz ein Wegbereiter für die Öffnung der Ehe, für den Zugang zur Fortpflanzungsmedizin und für Adoptionen? Mit Sicherheit kann gesagt werden, dass die Öffnung der Ehe für Gleichgeschlechtliche die hohe Hürde einer Verfassungsänderung nehmen müsste. Volk und Stände müssten also zwingend zustimmen. Das gleiche gilt für die Zulassung von Gleichgeschlechtlichen zu fortpflanzungsmedizinischen Verfahren. Auch hier wäre eine Verfassungsrevision unabdingbar. Meine Damen und Herren, das Partnerschaftsgesetz ist ein Zeichen der gewandelten Verhältnisse. Menschen, die wegen ihrer Veranlagung anders leben als die grosse Mehrheit in unserer Bevölkerung, wollen eine solche Institution. Es reiht sich ein in eine Entwicklung, die nicht nur die Schweiz, sondern viele Staaten in Europa ergriffen hat.

17.04.2005

Gerichtsurteile dürfen nicht zu Rechtsmissbrauch führen

Christoph Blocher über die Justiz und die Regelung des Nothilfebezugs von Asylbewerbern 17.04.2005, SonntagsZeitung (Christoph Lauener) Nach dem Bundesgerichtsurteil hatten Sie erwogen, die Verfassung zu ändern, um die Nothilfe für renitente Asylbewerber streichen zu können. Warum krebsen Sie nun zurück? Die Verfassungsänderung ist eine Variante. Sie ist aber nicht nötig. Wir sind nach dem 3:2-Entscheid des Bundesgerichts über die Bücher gegangen. Wir glauben, dass dem Rechtsmissbrauch beim Nothilfebezug auch mit einer Verfassungskonformer Gesetzeslösung entgegengewirkt werden kann. Wie sieht diese Lösung aus? Wenn die Notlage glaubhaft gemacht werden kann, wird der Staat die Nothilfe auch bei unkooperativem Verhalten ausrichten. Dieser neuen Variante hat der Bundesrat am Mittwoch bereits zugestimmt. Nimmt diese Einschränkung der Massnahme nichts von ihrer starken Wirkung, die der Ständerat und Sie sich erhoffen? Die Gefahr besteht. Aber wir werden einen gangbaren Weg finden müssen. Niemand versteht, dass Ausländer die ausreisen müssen und können und die nicht bereit sind, ihre Identität preiszugeben, dennoch vom Staat unterstützt werden. Auf der anderen Seite ist auch klar, dass wir in unserem Land niemanden verhungern lassen. Genau das hat der Bundesgerichtspräsident Ihnen indirekt vorgeworfen: Sie liessen Leute verhungern, nur weil sie nicht mit dem Staat zusammenarbeiteten. Das hat er mir nicht vorgeworfen. Aber etwas wird uns künftig noch stärker beschäftigen: Völker- und Menschenrechte werden oft zu Gunsten von Delinquenten so ausgedehnt, dass am Ende die Bürger den Eindruck gewinnen, ihre berechtigten Anliegen nach Schutz würden nicht mehr ernst genommen. Gibt es konkrete Fälle? Nehmen Sie den letzte Woche veröffentlichen Fall aus dem Kanton Zürich: Ein Asylbewerber, seit drei Wochen ausreisepflichtig, mehrmals vorbestraft, aus rechtlichen Gründen frühzeitig aus der Ausschaffungshaft entlassen, kann nicht ausgeschafft werden, läuft frei herum, bedroht eine Frau mit dem Messer, vergewaltigt sie.... Alle fragen: Wie kann es so weit kommen? Und die Behörden? Diese sagen: "Wir können nichts dagegen tun. Es fehlt die gesetzliche Handhabe." Das darf doch nicht sein. Die Fachleute sagen mir: "Diesen Fall hätte man verhindern können, wenn es eine Durchsetzungshaft für solche Renitente gäbe." Die Gegner dieser Haftform antworten: "Sie ist menschenrechtlich fragwürdig." Spüren Sie das Problem? In solchen Fällen sehen Sie gesellschaftlichen Sprengstoff? Es bestehen in der Bevölkerung Misstrauen, dass das - oft schwammig definierte - Völkerrecht vorgeschoben wird, weil man etwas politisch nicht will. Hier gilt es, aufzupassen. Es besteht diesbezüglich ein Spannungsfeld. Behandeln die Richter die Demokratie unter ihrem Wert? Es ist nicht nur eine Gefahr bei Richtern, sondern in der Politik allgemein. Ich will den Richtern keine Empfehlung geben. Jurisprudenz und Politik neigen gelegentlich aus begreiflichen Gründen dazu, überstaatliche überlegungen über demokratische Entscheidungen zu stellen. Demokratie und Rechtsstaat sind aber aufeinander bezogen. Beide dürfen nicht aus den Angeln gehoben werden. Sie bedingen sich gegenseitig und sind gleichwertig. Zudem: Gerichtsentscheide haben oft grosse Wirkungen. Sie dürfen im Alltag nicht zu Rechtsmissbräuchen führen. Darum begrüsse ich die heutigen Diskussionen. Und was sagen Sie den Richtern? Ich versuche aufzuzeigen, dass Menschenrechte und Demokratie zwei Werte auf derselben Stufe sind. Natürlich ist die Volksstimme nicht Gottes Stimme. Und zwingendes Völkerrecht muss über der Verfassung stehen. Aber gerade weil dies so ist, muss auch die Demokratie ernst genommen werden. Sonst steuern wir auf Konflikte zu. Nicht nur der Schutz des Delinquenten, sondern auch der Schutz und die Rechte der Bürger haben ihren Wert. Ebenso der Schutz des Rechtsstaates und der Kampf gegen den Rechtsmissbrauch. Überzeugen müssen Sie vorab die zuständige Nationalratskommission. Dort wirds schwieriger als im Ständerat. Sie sprechen jetzt vom Asylrecht. Ja, das wird schwieriger sein. Allerdings ist die Behandlung in der nationalrätlichen Kommission gut angelaufen: Die Kommission hat am Donnerstag beschlossen, die Vorlage zu beraten. Und schlussendlich werden wir auch noch eine Volksabstimmung durchzustehen haben. Wenn wir beim derzeitigen konsequenten Konzept bleiben, ist sie zu gewinnen. Während Sie sich im Bundesrat ziemlich wohl fühlen, hat Ihre Partei ganz andere Probleme. Wie werten Sie die Schlappe der Zürcher SVP bei den Regierungsratswahlen? Wenn im Kanton Zürich zwei Kandidaten aus nicht linken Parteien antreten, gewinnt der, der die Unterstützung der Linken hat. Sie sind ja immer noch Berater der Zürcher SVP: Was muss sie jetzt tun? Nein, das bin ich nicht. Aber die Partei muss ihren Kurs selber fortsetzen: für sichere Arbeitsplätze sorgen und Zwangsabgaben senken, wie sie dies gesagt hat. Die Partei muss dies konsequent für die Bürger tun. Wenn man schwächer in der Regierung vertreten ist, dann halt ausserhalb. Zudem: Man darf die Parteien auf der eigenen Seite persönlich nicht allzu sehr verletzen Politiker sind empfindliche Menschen! Aber in der Sache muss man fest bleiben! Das ist stets eine Gratwanderung. Hat die Zürcher Wahl nationale Ausstrahlung? Kaum. Aber es zeigen sich Bewegungen in der Parteienlandschaft ab: Die Auseinandersetzung der Zukunft orientiert sich an den zwei grossen Grundsatzfragen: Sozialismus oder Liberalismus, mehr oder weniger Staat oder mehr Freiheit für die Bürger. Und die zweite Grundfrage betrifft die Wahrung der nationalen Souveränität. Die oberflächliche Betrachtung, welche Partei ein paar Prozente mehr oder weniger hat, wird so weniger wichtig. Sehen Sie eine Zukunft für CVP und FDP? Die SP und die SVP haben sich festgelegt: Die SP für mehr Staat und für den EU-Beitritt, die SVP für die Freiheit der Bürger und gegen den EU-Beitritt. Die CVP und die FDP müssen in diesem Spannungsfeld noch ihren Weg suchen. Sie sind daran.

15.04.2005

Auf leisen Tatzen zum Erfolg. Das Bankerfolgsgeheimnis einer Zürcher Institution.

Kurzansprache von Bundesrat Christoph Blocher, gehalten anlässlich des Jubiläums «250 Jahre Bank Leu» am Freitag, 15. April 2005 in Zürich. 15.04.2005, Zürich Es gilt das gesprochene Wort 250 Jahre Bank Leu. 250 Jahre - ein Vierteljahrtausend - sind eine lange Zeit. Allein die Tatsache, dass ein Unternehmen so viele Jahre im Markt, in einem Staat, in einem Gewerbe überlebt hat, wäre Grund genug für Dank und Anerkennung. Die Bank Leu ist als urzürcherische Institution älter als der schweizerische Bundesstaat. Nur ganz wenige Unternehmen können auf eine so lange Tradition zurückblicken. Ist die lange Dauer vielleicht auch ein Zeichen dafür, dass die Tradition zum unverbrüchlichen Rüstzeug des Bankengeschäfts gehört? Wenn ich Ihre Jubiläumsbroschüre lese, so kann ich es offen aussprechen - auch wenn es in der heutigen Zeit nicht überall gerne gehört wird: Der Konservativismus dieser Branche hat die Bank Leu sicher durch alle Stürme der Zeit und ihrer jeweiligen Geister und Ungeister geführt. «Auf leisen Tatzen» Die Bank Leu geht - wie eben der Leu - auf "leisen Tatzen", was den Weg zum Erfolg nicht unwesentlich miterklären dürfte. Die Diskretion gehört nun mal zum Finanzgewerbe, wie anderenorts das Schaufenster dazu dient, alles herzuzeigen und die Leute ins Geschäft zu locken. Das Private Banking funktioniert nicht im Schaufenster: Der gute Leu-mund einer Bank - nicht nur der Bank Leu - gründet sich im Vertrauen, in der Konstanz und in der Verschwiegenheit. Und diese Konstanz und Verschwiegenheit trägt einen Namen: Das Bankkundengeheimnis - als unverzichtbare Voraussetzung des Bankerfolgsgeheimnisses. In einer Zeit, in der die Freiheit mehr und mehr dem Streben nach einer absoluten Scheinsicherheit geopfert wird, gehört das Bankgeheimnis zu den letzten Refugien des Privaten. Privateigentum als Säule der Freiheit Zu den Grundlagen einer erfolgreichen staatlichen Ordnung gehören Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Wettbewerb, Demokratie und eben das Privat-Eigentum. Der Schutz des Eigentums ist eine der primären Aufgaben des Staates - und nicht der Einzug des Eigentums durch unzählige Steuern, Abgaben und Gebühren. Das Bankgeheimnis ist deshalb auch ein Schutz des Eigentums. Dieses geschützte Eigentum bringt Wohlfahrt, wirtschaftliche Festigung, Arbeitsplätze und Linderung von Armut. In der Bank findet dieses gemeinsame Interesse am Privateigentum seinen Ruheraum. Neidstimmung Wir leiden gegenwärtig an einer kultivierten Neidstimmung. Ob Steuersenkungen, Unternehmensgewinne, Managerlöhne: Der Sozialneid bestimmt die Tonart der öffentlichen Erregung. Ich frage: Wird die Schweiz noch von einem leistungswilligen, eigenverantwortlichen Bürgertum geprägt, das nicht bei jeder Schwierigkeit oder Anstrengung nach dem Staat ruft? Wie die Antwort auch sei: Wir täten besser daran, den Erfolg zu loben, Gewinne zu ermöglichen, statt alle Energie und Phantasie darauf zu verwenden, wie effektiv man diese privaten Gewinne wieder abschöpfen könnte. Tüchtige Unternehmer, Handwerker, Gewerbler, Banker mit all ihren Mitarbeitenden, deren Tun auf die Gewinnerzielung ausgerichtet sind, sind die wahren "Sozialarbeiter" in unserem Land: Weil sie für gesundes, privatwirtschaftliches Wachstum und damit für allgemeinen Wohlstand sorgen. Es sind nicht die Umverteiler, sondern die Erschaffer des Eigentums, die unsere Anerkennung verdienen. Dies ist anlässlich eines 250-Jahr-Jubiläums einer Privatbank besonders hervorzuheben. Es beginnt zu tagen Kürzlich stiess ich auf ein Inserat einer Privatbank. Dort stand zu lesen: "Unsere Denkweise ist unabhängig und zukunftsorientiert, unsere Grundeinstellung konservativ - auch Ihr Weg zum Anlageerfolg?" So hemmungslos konservativ präsentiert sich selten jemand in der Werbung. Ob diese Selbstbeschreibung tatsächlich zutrifft, vermag ich nicht zu beurteilen. Aber zumindest strebt diese Bank eine solche Haltung an - sonst würde sie es nicht sagen. Und sie beabsichtigt damit, beim Kunden Vertrauen zu schaffen - sonst würde sie ihre Strategie nicht so bewerben. Es scheint, dass die richtige Mischung zwischen Zukunftsvertrauen und Skepsis, uns den Weg weisen könnte. Nicht nur im Bankgewerbe, auch beim Staat. Es gibt also auch gute Gründe einiges beim Alten bleiben zu lassen. "Fortschritt" allein ist noch kein Wert. Das brauche ich Ihnen nach 250 Jahren Unternehmensgeschichte eigentlich nicht zu predigen. Dank Es bleibt mir der Bank Leu, ihren Verantwortlichen und Mitarbeitenden zu danken. Für die 250 Jahre solide Bankarbeit. Ich darf Ihnen an dieser Stelle die Gratulation der Landesregierung überbringen und wünsche Ihnen eine gute Zukunft.

01.04.2005

Als Unternehmer im Bundesrat – Eine erste Bilanz

Referat vor der Handelskammer Thurgau 01.04.2005, Thurgau Es gilt das gesprochene Wort I. Kein Zeitpunkt für Scherze In der Schweiz belaufen sich die öffentlichen Schulden auf gut 250 Milliarden Franken. Und dies nicht etwa, weil die Einnahmen in den letzten 20 Jahre abgenommen hätten - nein! Die Steuern und Abgaben sind seit 1990 mehr gestiegen als in jedem anderen Industrieland der Welt. Aber die Ausgaben sind im gleichen Zeitraum noch stärker angewachsen - im Bund, den Kantonen und den Gemeinden. Auch wenn heute der 1. April ist: Angesichts solcher Zahlen kann einem Unternehmer das Scherzen in der Politik gründlich vergehen. 250 Milliarden Franken Schulden bilden das Fünffache der jährlichen Gesamtausgaben des Bundes. Kennen Sie ein Unternehmen, das sich in einer ähnlichen Situation befindet und nicht umgehend Sanierungsmassnahmen, Kostensenkungen und Effizienzsteigerungen einleiten würde? Sie werden mir keines nennen können, ausser solchen, die schon bankrott sind oder in absehbarer Frist bankrott sein werden. So lauten die Gesetze der Wirtschaft. Nur die Politik scheint sich um diese Regeln foutieren zu können. Sie werden sagen: Unternehmen gehen daran zu Grunde. Ich antworte Ihnen: Staaten auch! Kürzlich kam mir das Postulat einer Politikerin in die Hände - zufällig das einer Politikerin aus dem Kanton Thurgau -, worin es um die Verschuldung von Jugendlichen ging. Es ist in der Tat besorgniserregend, dass bereits Minderjährige über ihre Verhältnisse leben und sich einen Lebensstil aneignen, den sie nicht selber finanzieren können. Aber noch bedenklicher ist, wenn erwachsene Politiker einen Staat installieren, der noch fahrlässiger über seine Verhältnisse lebt als ein unmündiger Teenager. Mir wäre es lieber, alle Politiker hätten die Problematik der Ausgabenfreudigkeit und Verschuldung von Bund, Kantonen und Gemeinden erkannt und gehandelt. Wie sollen Jugendliche ausgerechnet durch Politiker angeleitet werden, wirtschaftlich mit Geld umzugehen, wenn die gleichen Politiker jährlich Milliardendefizite abliefern und diese hingenommen werden wie eine fünfte Jahreszeit? Die Thurgauer Nationalrätin kritisiert den sorglosen Umgang mit Geld: "Den Jugendlichen wird es heute leicht gemacht, Schulden zu häufen." Doch ist immerhin der Jugendliche für seine Ausgaben selbst verantwortlich. Ich war es als Unternehmer auch. Als Politiker komme ich aber selbst nicht zur Kasse. Nein, es haftet niemand, und obendrein kann sich der Politiker mit dem Schuldengeld neue, dankbare Wählerschichten erschliessen und sich erst noch als "sozial" und "solidarisch" feiern lassen. Aus diesem Widersinn müssen wir uns befreien. Es wird kein einfacher, kein populärer, aber ein unumgänglicher Weg sein. II. Kostenbewusstsein stärken Meine Damen und Herren, ich bin seit fünfzehn Monaten im Amt als Bundesrat. Leider kann man dem Bundesrat nicht den Vorwurf machen, er habe in diesen fünfzehn Monaten nichts anderes getan, als Ausgaben gesenkt und damit die Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Wirtschaft erhöht. Wohl wird viel über Ausgabenreduktionen gesprochen, aber im Wesentlichen wurden bisherige Pläne nur auf dem Papier nach unten korrigiert. Der Bundesrat hat zwar die Sanierung des Haushaltes im Legislaturprogramm zur Hauptaufgabe erklärt. Doch eine eigentliche Reduktion von Ausgaben ist noch nicht greifbar. Hingegen wurden neue Steuern und Abgaben beschlossen und eingenommen. Wie sehe ich als ehemaliger Unternehmer den Staat als Aufgaben-Erfüller? Das Frappierendste ist das mangelnde Kostenbewusstsein auf allen Ebenen: beim Parlament, der Regierung, der Verwaltung! Als Unternehmer wusste ich: Kosten und Nutzen sind die wichtigen Entscheidungsfaktoren. Nicht so im Bund. Standardantworten - auf bisher kaum gestellte Fragen - finden Sie bis in die obersten Etagen hinauf, die zum Beispiel lauten: "Im Bund muss man weder mit Abschreibungen noch Zinsen rechnen. Und auch die Personalkosten muss man nicht rechnen, denn die Leute sind ja sowieso da!" Gezielte Kostensenkungen können so gar nicht durchgeführt werden. Für jeden Handwerker ist es eine Selbstverständlichkeit, dass er in seinem Betrieb Leistung und Effizienz steigert, die Qualität erhöht und gleichzeitig die Kosten tief hält. Sollen nur beim Staat andere Regeln gelten? Warum soll ein Staat denn nicht fähig sein, effizienter zu arbeiten? Warum soll ein Bundesbetrieb sein Angebot nicht verbessern können, ohne gleich an der Preisschraube drehen zu müssen? Kostensenkungen wären möglich. Aber der Wille fehlt! Darum will man die Kosten nicht nur nicht senken, man will sie nicht einmal zur Kenntnis nehmen. Man will nicht wissen, was eine Dienstleistung kostet. So können wir auch keine Kostensenkungen erkennen und umsetzen. Als ehemaliger Unternehmer weiss ich, dass es in den goldenen Nachkriegsjahren Firmen mit einer ähnlich lausigen Kostenauffassung gab. Diese Firmen sind entweder bankrott gegangen oder - wenn sie Glück hatten - durch einen Dritten übernommen worden, der dann das notwendige Kostenbewusstsein hatte. Im Grunde weiss jeder: Wir müssen die Bundesausgaben in Ordnung bringen. Aber wie gesagt, wir wollen nicht. Da liegt das Problem! Ich weiss: der Weg dazu ist schwierig, unangenehm und braucht vor allem Selbstdisziplin. Darum tut man es nicht. Wie schreibt doch die erwähnte Thurgauer Nationalrätin: "Den Jugendlichen wird es heute leicht gemacht, Schulden zu häufen." Noch leichter als den Jugendlichen wird es dem Staat gemacht! III. Die "Noch-Schweiz" Die Sprache verrät, dass wir im Grunde alle wissen, wie unheilvoll die Entwicklung läuft! Wer auf die - unbewusste - Ausdrucksweise achtet, merkt es: So sagen wir: Noch gehe es uns allen gut. Noch - so sagt man - gehören wir zu den reichsten Ländern der Erde. Noch seien die Steuersätze vergleichsweise tief. Noch werden staatliche Leistungen ausgebaut und mit scheinbar unbegrenzten Mitteln finanziert. Wir leben in der "Noch-Schweiz". Doch diese Noch-Schweiz ist ein trügerisches Gebilde. Dieser Wohlfahrtsstaat Schweiz ist eine Wunschgeburt, ein Versprechen von politischen Gauklern, die sich mit zukünftigen Schulden die Gunst der Gegenwart erkaufen. Eine solche Politik "sozial" und "solidarisch" zu nennen, ist der wahre Zynismus. Der Zustand der Schweiz ist mit einem faktisch bankrotten Unternehmen zu vergleichen, das bloss seine Insolvenz noch nicht offen legen musste. Warum nicht? Man glaubt, durch dauernde Erhöhung der Steuern, Abgaben und Gebühren die Insolvenz abwenden zu können. Dass man dadurch die Grundlage der Wohlfahrt - vor allem die wirtschaftliche Tätigkeit - schwächt, verschweigt man vornehm. Noch wird der Lohn ausbezahlt; noch lächeln die Verantwortlichen und versichern, alles sei in bester Ordnung; noch werden rauschende Betriebsfeste gefeiert und gegenseitige Lobreden gehalten; noch ist der Schein gewahrt, die Strassen gefegt, der Zug fährt pünktlich und die öffentlichen Gärten blühen. Vordergründig leben wir in einem funktionierenden Staatswesen. Hintergründig ist das System morsch. Vordergründig wird den Menschen eingeredet, die Sozialstandards könnten erhalten, ja erweitert werden. Dabei tun sich unbezahlbare Milliardenlöcher auf: Bei den Pensionskassen, bei der AHV, im Gesundheitswesen, bei der Invalidenversicherung, im öffentlichen Verkehr. Ich spreche nicht von ein paar fehlenden Milliarden, sondern von Dutzenden, ja Hunderten von Milliarden. Wir leben in der Noch-Schweiz. Noch gilt die Schweiz als liberaler Staat mit niedrigen Steuern. In Wahrheit aber hat kaum ein Industrieland eine stärker wachsende Steuer- und Staatsquote seit 1990 zu verzeichnen gehabt. Noch haben wir eine vergleichsweise tiefe Arbeitslosigkeit - allerdings hat sich in letzter Zeit im Vergleich zu früher eine viel höhere Sockelarbeitslosigkeit von vier Prozent etabliert, die man heute einfach als gottgegeben hinnimmt. Noch weisen wir eine der höchsten Beschäftigungsgrade aus (um die 70 Prozent), aber dieser Anteil sinkt kontinuierlich. Immer mehr Menschen, gerade auch junge, gehen den Weg in die Sozialleistung und Fürsorge oder werden von der IV berentet und sehen mit all den Zuschüssen wenig Veranlassung, an diesem Zustand etwas zu ändern. Noch erfreuen wir uns an einem funktionierenden Sozialstaat. Doch dieser Sozialstaat entpuppt sich zunehmend als asoziales Konstrukt, weil er den Tüchtigen schröpft und auf Pump lebt. Dieses sozialistische Prinzip züchtet eine Mentalität, die vornehmlich Ansprüche an die Gesellschaft stellt statt Ansprüche an sich selbst. Noch gelten wir als Staat mit hoher Integrationsfähigkeit und Integrationsbereitschaft. Nur wird diese Bereitschaft ausgereizt, und der wachsende Unmut der Bevölkerung gegenüber einer grenzenlosen Einwanderung hat durchaus seine Gründe. Seit 1990 sind brutto weit mehr als eine Million Menschen in die Schweiz eingewandert (d.h. 1,2 Mio. Eingewanderte - gegenüber 800'000 Ausgewanderten im selben Zeitraum). Prozentual mehr als in klassischen Einwanderungsländern wie etwa Kanada oder Australien. Der Beschäftigungsgrad der Neueinwanderer ist gegenüber ihren Vorgängergenerationen dramatisch gesunken (allein die Zahl der Erwerbstätigen unter den Einwanderern hat sich seit 1990 von 53% auf 38% verringert.). Wir beobachten vermehrt eine Zuwanderung ins Sozialsystem statt in den Arbeitsmarkt - was eben auch eine Folge dieses ausgebauten Wohlfahrtsstaates ist: Eine freizügige Zuwanderung kann nur in einer freiheitlichen Marktwirtschaft funktionieren. Wenn aber Immigranten überproportional in der Arbeitslosigkeit, in der Invalidität, in sonderpädagogischen Angeboten, in der Fürsorge landen, strapaziert dieser Vorgang das Zusammenleben und die Bereitschaft, sich gegen aussen zu öffnen. Wir leben in der Noch-Schweiz. Noch wird die Schweiz von einem leistungswilligen, eigenverantwortlichen Bürgertum geprägt, das nicht bei jeder Schwierigkeit oder Anstrengung nach dem Staat ruft. Doch der schleichende Sozialismus hat unser Land etwas verspätet, aber um so gründlicher erfasst. Ein regelrechtes Umerziehungsprogramm hat dazu geführt, dass unternehmerische Qualitäten plötzlich als verdächtig erscheinen. Die vornehmste Pflicht eines Arbeitgebers, nämlich Gewinn zu machen, wird neuerdings moralisch in Frage gestellt. Für den Staat gilt es gar als völlig abwegig. Als Unternehmer habe ich stets alle meine Kraft darauf gerichtet, Gewinne zu erwirtschaften. Ich wusste: Nur so kann ich die Zukunft des Unternehmens gewährleisten. Soll denn das für unser Land nicht gelten? Ich wusste: Nur wer Erfolg hat, schafft neue Arbeitsplätze. Seit ich im Bundesrat bin, merke ich: Tüchtige Unternehmer, Handwerker, Gewerbler, deren Tun auf die Gewinnerziehlung ausgerichtet sind, sind die wahren "Sozialarbeiter" in unserem Land: Weil sie für gesundes, privatwirtschaftliches Wachstum und damit für allgemeinen Wohlstand sorgen. Die Noch-Schweiz wird von einem Chor von konsensgläubigen Wirklichkeitsverdrängern besungen, während die Mahner noch abseits stehen und verteufelt werden. Wenn wir dieses Missverhältnis weiterhin akzeptieren, geraten wir endgültig in eine geistige und ökonomische Sackgasse. Das heisst: Senkung des Lebensstandards für die breite Bevölkerung. Das heisst Arbeitslosigkeit, Stillstand - eben Bankrott. Das schweizerische Erfolgsmodell basiert auf einem massvollen Staat mit freier, prosperierender Wirtschaft. Es gibt keinen vernünftigen Grund, davon abzuweichen! Wir sind uns bloss in den letzten Jahren untreu geworden. Wir sollten uns wieder auf unser liberales Erbe besinnen: Auf Fleiss und Eigenverantwortung, Wettbewerb und offene Märkte, freie Preisbildung und stabile Geldpolitik, auf Privateigentum statt Umverteilung und mehr Freiheit und weniger Staat! Ich sagte Ihnen dies früher als Unternehmer und als Parlamentarier. Diese Überzeugung hat sich bei mir noch verstärkt, seit ich im Bundesrat bin. IV. Vom Verantwortungs- zum Versorgungsstaat Nennen wir die Probleme und scheuen wir uns nicht, ihnen auf den Grund zu gehen. Galt die Schweiz früher als beispielhafter Staat mit hohem Selbstverantwortungsgrad, hat sie sich heute zum Versorgungsstaat gewandelt. Dieses Urteil mag Ihnen zu drastisch erscheinen. Doch je länger ich im Bundesrat bin, je mehr Unterlagen mir zur Verfügung stehen, umso ernster wird der Befund. Ich erlebe dies im Augenblick in meinem eigenen Departement - zum Beispiel in der Asylpolitik. Wie ist es soweit gekommen? In den Nachkriegsjahren entwickelte sich unser Land von einem Verantwortungsstaat zu einem Wohlfahrtsstaat. Das starke Wirtschaftswachstum gaukelte unbeschränkte Möglichkeiten vor. Seit den 1970-er Jahren wurden vor allem in der Sozialpolitik Versicherungen auf- und ausgebaut mit immer neuen Leistungen, welche die späteren Kosten ins Unermessliche trieben. Denken Sie nur an die IV und an die Krankenversicherung. Die Folgen dieses rasanten Ausbaus zeigen sich erst heute in aller Konsequenz. Wegen diesem unrealistischen, weit über der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit liegendem Ausbau ist heute der Wohlfahrtsstaat als Gesamtkonstrukt in Frage gestellt: Dies zeigt sich in der miserablen Finanzsituation von Bund und vieler Kantone. Die etatistische Grundstimmung - vor allem der 80-er und 90-er Jahre, die linke und bürgerliche Parteien erfasste - hat der Schweiz einen perfektionierten Dienstleistungsstaat beschert, der den Bürgern eine Totalversorgung zum Nulltarif vortäuscht. Dieser schleichende Verstaatlichungsprozess konnte nur über eine gewaltige Neuverschuldung finanziert werden: Betrug die Bruttoverschuldung des Bundes allein 1990 noch 38,5 Milliarden Franken, waren es 2003 bereits 123,7 Milliarden. Und wir steuern gegen 150 Milliarden - trotz einer Schuldenbremse, der alle Kantone und 85% der Bevölkerung bereits 2001 zugestimmt haben! Es ist auffallend, wie die fortschreitende Steuer-, Gebühren- und Abgabenlast, die in den Wahljahren 1999 und 2003 wenigstens noch für heftige Auseinandersetzungen gesorgt hat, heute ruhig entgegen genommen wird. Es ist erstaunlich, mit welchem Gleichmut solche Entwicklungen ertragen werden. - Die jährlichen Milliardendefizite, die unvermindert andauern? Sie werden akzeptiert, als wären sie ein Naturgesetz. - Nachtragskredite, Kostenüberschreitungen und Planungsabweichungen sind längst zum courant normale geworden. - Die Rekordzunahme von IV-Rentnern provoziert höchstens ein Schulterzucken. - Die Milliarden-Kosten unserer Beziehungen zum Ausland werden unter den Begriffen von "Öffnung", "Gerechtigkeit" und "internationale Solidarität" weitgehend der Diskussion entzogen. - Das Ausgabenwachstum der nächsten Jahre wird in weiten Teilen geleugnet. Man verbreitet die Mär, der Staat spare Geld, die Ausgaben würden gesenkt, der Gürtel werde enger geschnallt. Andere sprechen von "kaputt sparen" und "den Staat aushungern". Doch ich frage Sie ernsthaft: Wo werden in diesem Staate eigentlich die Ausgaben gegenüber den Vorjahren gesenkt? Irgendjemand hat das Gerücht in die Welt gesetzt, im Bund würden die Ausgaben gesenkt. Und alle plappern es nach. Und alle schreiben es einander ab. Wenden wir uns der ungeschminkten Wahrheit zu: In den nächsten Jahren ist ein Ausgabenwachstum von 10 Prozent geplant. Trotz aller Entlastungsprogramme! Die Staatsausgaben wurden und werden nicht gesenkt. - Aber man kann sich natürlich von allen Anstrengungen fernhalten, indem man vorsorglich über die Folgen einer Massnahme lamentiert, die es gar nicht gibt. Dass interessierte politische Kreise dies tun, gehört zum Tagesgeschäft und ist nicht weiter schlimm. Aber wenn diese Realitätsverweigerung auf den Bundesrat und auf die Mehrheit der bürgerlichen Parlamentariern übergreift - und das ist so - führt dies zu Fehlentscheiden und ins Elend. Woher kommt diese Gleichgültigkeit, diese Realitätsverweigerung? Das Zurkenntnisnehmen von Problemen ist lästig und undankbar, denn es zwingt zum Handeln. Verdrängen ist bequemer. Die Gründe des Verdrängungsprozesses könnten aber auch tiefere Ursachen haben als nur die Bequemlichkeit. Könnte es etwa sein, dass immer mehr Menschen den Versuchungen des Wohlfahrtsstaates erliegen? Und dies bis weit in die gehobenen Berufschichten, bis weit in die Chefetagen von Politik und Wirtschaft hinein? Sind wir schon so weit, dass die Menschen lieber schauen, wie sie sich vom Staat beziehungsweise der Allgemeinheit aushalten lassen können, statt in Eigenverantwortung für sich und die Nächsten das Leben zu verbessern und selber für Güter und Dienstleistungen zu sorgen? Es ist ausserordentlich gefährlich, wenn Erfolg und Leistung durch höhere Steuern und Abgaben bestraft, dafür Misserfolg und Bequemlichkeit durch Sozialleistungen belohnt werden. V. Sozialstaat und Verschuldung Meine Damen und Herren, Staatshaushalt und Wirtschaftswachstum stehen in engem Zusammenhang. Wer die bestehenden Probleme in der Tiefe angehen will, muss auch in die Tiefe schauen und die Sache beim Namen nennen. Tun wir dies an zwei, drei schon länger verdrängten Gebieten! Es muss in diesem Zusammenhang ausgesprochen werden, dass die Hauptgründe für den rasanten Anstieg der Sozialausgabenquote vor allem im Ausbau der Invaliden- und Krankenversicherung, das heisst in der Zunahme von Invalidenrentenbezüger und im neuen Krankenversicherungsgesetz zu suchen sind. In den letzten Wochen wurden die neuesten Zahlen zum Gesundheitswesen publik: 1950 - kurz nach Einführung der AHV - betrugen die Sozialausgaben in der Schweiz noch 1,5 Milliarden Franken. Bis 1990 - vor der Einführung des neuen Krankenversicherungsgesetzes - erhöhten sich die Ausgaben auf 63,2 Milliarden Franken. Darauf erfolgte der Dammbruch: Zwölf Jahre später, 2002, haben sich die Kosten auf gut 123 Milliarden Franken verdoppelt. Gemessen am volkwirtschaftlichen Ertrag (Bruttoinlandprodukt) hat sich die Sozialausgabenquote von 19,3 (1990) auf 28,8 (2002) erhöht. Wachstumsraten, die weit über jenen der Wirtschaft mitsamt der Teuerung liegen. Wer angesichts dieser Zahlen von "Sozialabbau" spricht, hat jeden Bezug zur Realität verloren. Von den Sozialversicherungen drückt zurzeit vor allem die IV auf die Bundesfinanzen. Hier ist erfreulich, dass nun endlich auch weitere Kreise und sogar die Medien offener über die IV-Probleme sprechen. Ein guter Anfang. Vorneweg die Fakten: Waren 1990 noch rund 160'000 Personen IV-Bezüger, sind es 2003 schon über 280'000. Nicht nur in absoluten Zahlen haben die IV-Rentner rasant zugenommen, sondern auch proportional zur arbeitenden Bevölkerung. Seit 1990 hat sich ihr Anteil an der aktiven Bevölkerung um über 50 Prozent erhöht. Jeder 5. Mann im 64. Lebensjahr bezieht eine IV-Rente. Diese alarmierende Entwicklung schlägt sich auch auf der Ausgabenseite nieder: 1990 bezahlten die Schweizerinnen und Schweizer für die Invalidenversicherung noch ca. 4 Milliarden - heute sind es bereits rund 11 Milliarden Franken pro Jahr. Die Zusammensetzung der Invaliden zeigt, dass immer mehr psychische Ursachen eine IV-Rente nach sich ziehen (40 Prozent aller Neurentner). Eine Vielzahl neuer Krankheitsbilder dienen als kaum überprüfbarer Einstieg zur Invalidität. Ich will Ihnen nur ein paar Beispiele nennen: Soziale Phobie, Internet-Sucht, erhöhter Cholesterinspiegel, Übergewicht, Menopause, Weichteilrheumatismus, Reizdarmsyndrom, Schlafstörungen, Verstopfungen, Burnout-Syndrom, Hyperaktivität, starkes Schwitzen, Entwurzelungssyndrom, psychosoziale Depression, Tinnitus (Pfeifen im Ohr) oder Vitaminmangel. Bei dieser Fülle ist jeder Bürger ein potenzieller Neurentner. Sicher kann sich jeder von Ihnen auf eines dieser Symptome berufen. Ebenfalls sehr hoch sind die Anteile jener IV-Bezüger, die über Kopf- und Rückenschmerzen oder ein Schleudertrauma klagen. Auffällig ist auch, dass im öffentlichen Sektor besonders viele Beschäftigte vorzeitig für arbeitsunfähig erklärt werden. Also zieht das Argument nicht, hauptsächlich die Privatwirtschaft würde ihre schwächeren Arbeitnehmer einfach in die IV abschieben. Ebenso unzutreffend ist die Aussage, der Arbeitsmarkt würde immer härter, was die Beschäftigten eben auch in die Invalidität treibe. Wie erklärt sich dann der hohe IV-Anteil von ehemaligen Staatsangestellten, die nun wirklich nicht dem rauen Klima der Privatwirtschaft ausgesetzt waren und sind? Meine Damen und Herren, das sind unangenehme Dinge, über die man aber sprechen muss. Gefragt ist endlich der schonungslose Blick in die Realität! Leider gibt es gerade auch in der Politik zahlreiche Interessenvertreter, die von diesen Problemen, dem umfangreichen Sozialbetrieb, profitieren und alles daran setzen, dass die Steuermilliarden weiter in ihre Gärten fliessen - und dort versickern. VI. Wo steht die Wirtschaft? Die Politik kam in den letzten Jahren in der Finanz- und Wirtschaftspolitik nicht voran. Aber wo steht die Wirtschaft? In einer direkten Demokratie ist die Stimme der Wirtschaft in Fragen der Finanz- und Wirtschaftspolitik entscheidend. Aber wo ist diese Stimme? Kein Bundesrat fühlt sich von der Wirtschaft bedrängt, endlich vorwärts zu machen. Und von den Wirtschaftsverbänden erst recht nicht. Eine gute Ordnungspolitik - die wichtigste Grundlage für einen funktionierenden Wirtschaftsstandort - scheint geradezu vergessen gegangen zu sein. Im Gegenteil: Das Verhalten der verantwortlichen Verbände steht im krassen Widerspruch zur Klage ihrer Mitglieder. Natürlich gibt es schöne, wortreiche, bunt illustrierte Broschüren aus der Wirtschaft, die eine massvolle Ausgaben- und Steuerpolitik predigen. Sobald es aber konkret wird, lösen sich diese schönen Worte in Luft auf. Es scheint mir auch, dass die Wirtschaft nach der verlorenen Abstimmung betreffend Steuerpaket und AHV den Mut verloren hat, sich für ihre Anliegen einzusetzen. Die Schweiz braucht keine Wirtschaft, die sich am liebsten mit Parlament, Bundesrat und Medien zu sicheren Mehrheiten für neue finanzpolitische Abenteuer und kostspieligen aussenpolitischen Aktivismus verbandelt. Ihr Urauftrag heisst, für eine gute Wirtschaftspolitik zu sorgen. Ich meine, es sei dringend, dass die Unternehmen nicht nur über die schludrige Ordnungspolitik klagen, die zu hohen Steuern und immer neuen Abgaben führt, sondern endlich eine glaubwürdige Finanz- und Wirtschaftspolitik betreiben, und zwar im Konkreten und auch im Kleinen. Sie müssten den Bundesräten und Parlamentariern immer wieder zeigen, was eine gute Wirtschaftspolitik ist. Sie müssten als Wirtschaftsvertreter Ihre Nöte ins Bundeshaus tragen. Wir arbeiten im Bundeshaus in einer geschützten Werkstatt. Den täglichen Kampf ums Überleben, der tägliche Konkurrenzkampf der Industrie und der Wirtschaft kennen wir nur aus den Statistiken, Berichten und Medien. Und diese sind meist noch geschönt. Sie stehen näher am Puls. Auch müssten Sie als Wirtschaftsvertreter die Parteien beraten, ich meine sogar, Sie müssten sie in der Wirtschaftspolitik führen. Sie werden vielleicht als Rufer in der Wüste angesehen. Aber ohne diese Rufer in der Wüste wird die Schweiz bald eine Wüste ohne Rufer sein! Die Parteien brauchen nicht "Freunde aus der Wirtschaft", die ihre Sonderwünsche in der Politik durchbringen wollen. Parteien, Regierungen und Parlamente brauchen Warner und Stimmen für die Gesamtwirtschaft zum Wohle des Landes und des Volkes. VII. Schlusswort Meine Damen und Herren, ist die Schweiz diesen grossen Herausforderungen gewachsen? Ich kann die Frage leider nicht mit Ja beantworten. Voraussetzung ist die schonungslose Offenlegung der Probleme und der Wille, diese Aufgaben anzugehen. Daran gilt es zu arbeiten. Helfen Sie mit. Damit diese Missstände nicht weiter unter den Tisch gekehrt werden.