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16.08.2006

Was es braucht, ist heroische Gelassenheit

Nach der aufgedeckten Verschwörung in London: Wie sicher ist unser Land? Justizminister Christoph Blocher über Lücken im Abwehrdispositiv und wie man sich vor dem Terrorismus schützen kann. 16.08.2006, Weltwoche, Urs Gehriger, Markus Somm Eine Umfrage von letzter Woche kam zum Schluss: 94 Prozent der Schweizer fühlen sich von islamistischem Terror nicht bedroht. Teilen Sie diese Unbekümmertheit? Ich gehe davon aus, dass diese Umfrage noch vor den verhinderten Anschlägen von London gemacht wurde. Es ist immer dasselbe: Wenn nichts geschieht, sieht man keine Gefahr, sobald sich hingegen etwas Schreckliches ereignet, neigt man zur Überreaktion. Die islamistischen Terroristen lehnen westliche Werte ab und destabilisieren durch Gewaltakte die Existenz der westlichen Länder vor allem psychisch. Das schwächt das Sicherheitsgefühl und das Selbstvertrauen. Im Sicherheitsbericht, den Ihr Departement geschrieben hat, steht: Die islamistische Gefahr in der Schweiz nimmt zu. Warum kommt die Botschaft im Volk nicht an? Nach dem ungeheuerlichen Leid, das die Kriege des 20. Jahrhunderts brachten, können wir Europäer uns nicht mehr vorstellen, dass Konflikte durch Gewalt gelöst werden, also wird das verdrängt. Andere Kulturen denken anders. Also müssen wir uns vorsehen. Was ist das Rezept dagegen? Zunächst hat man sich Rechenschaft über sich selbst und den Terrorismus zu geben. Afghanistan, Irak, Libanon, die Attentate von Madrid und London und auch die letzte Woche verhinderten Anschläge zeigen, dass sich ein breites europäisches Friedensgefühl nicht auf die ganze Welt ausdehnen lässt. Die Europäer – und damit auch wir – stellen das Leben stets in den Mittelpunkt. Für das Sterben für die Verteidigung, für Ideale wie Freiheit, Ehre, Identität fehlt dem Westen der Sinn. Noch als ich in die RS ging, lehrte man uns: Das Wesen des Soldaten ist nicht nur, dass er unter Umständen töten muss, sondern vor allem, dass er bereit sein muss, auf „dem Schlachtfeld“ zu sterbern. Diese Art von Opferbereitschaft ist uns heute fremd. Auch den westlichen Armeen. Darauf zielen die islamistischen Terroristen ab. Sie rufen uns zu: „Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod.“ Warum ist diese Bereitschaft, sich für ein höheres Ziel aufzuopfern, verloren gegangen? Die Gründe sind vielfältig. Zusammengefasst sind es die Kriege des 20. Jahrhunderts, die Friedensideale und der Lebenssinn, die dem Leben einen überragenden Wert beimessen. Das ist auch gut so. Aber wenn der Gegner zum Äussersten, zur Aufgabe seines Lebens, bereit ist, um uns zu terrorisieren, müssen wir uns dem stellen. Angst machen ist kein Rezept. Was wir brauchen, ist realistische Aufklärung. Die Kampfmethode des Terrorismus ist das Massaker, das Verüben von Attentaten an zufälligen Opfern in Flugzeugen, U-Bahnen, Hotels, Strassen, Märkten. Terroristen wollen nicht bestimmte Leute treffen, sondern die friedliebende westliche Gesellschaft und ihre Werte. Wir sind davon alle betroffen. Die Gefahr, dass es irgendwo passieren könnte, besteht immer. Konkret: Wäre die Schweiz im Stande, einen vergleichbaren Anschlag, wie er in London versucht wurde, zu verhindern? Die Schweiz steht in engem Kontakt mit den Sicherheitsorganen anderer Länder. Gegen die bisher aufgedeckten Gefahren konnten wir ausreichend vorgehen, aber eine Garantie für die Zukunft ist dies nicht. Führen Spuren aus London in die Schweiz? Bis jetzt gibt es keine. Die Untersuchungen sind abzuwarten. Wie schützt sich die Schweiz gegen Terrorismus? Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder errichtet man sich den totalen Sicherheitsstaat, dann ist das Bedrohungsrisiko gering. Der Preis dafür ist aber, dass die persönliche Freiheit und die Demokratie zu Grunde gehen. Der totale Sicherheitsstaat ist Unsinn. Die zweite Möglichkeit möchte ich die "heroische Gelassenheit" nennen. Dieser Weg ist schwierig, aber gangbar. Zunächst zur tröstlichen Realität: Das Ziel der Terroristen ist bisher trotz vieler Anschläge nicht erreicht worden: Wohl hat unser Selbstvertrauen gelitten. Aber – und das ist das Wesentliche – unsere Grundwerte sind nicht zerstört, die Existenz der Staaten nicht in Frage gestellt worden. Um solchen Anschlägen nicht psychisch zu erliegen, ist diese Erkenntnis wichtig. Unser Eindruck: Es bestehen Lücken in der Abwehr. Der Staat – insbesondere dessen Sicherheitsorgane – muss zeigen, dass er Gefahrenherde eruieren und die Bevölkerung rechtzeitig schützen kann. Dies muss auch geübt werden. Wer übt was? Alle Organe, die man zur Krisenbewältigung braucht. Sie üben zum Beispiel, wie man einen Anschlag auf den Bahnhof Zürich verhindern könnte. Sie trainieren Bedrohungsszenarien. Die Polizei spielt eine zentrale Rolle, aber andere Sicherheits- und Hilfsorgane von Bund, Kantonen und Gemeinden, die Wirtschaft und Private sind einzubeziehen. Man übt die Zusammenarbeit mit der Armee. Man übt die Bewachung von relevanten Institutionen. Der Bundesrat hat einen Krisenstab beschlossen, um solche Situationen zu schulen. Diese Bereitschaft ist zu zeigen, gibt Vertrauen und schreckt den Gegner ab. So wie man im Kalten Krieg Manöver durchführte, um unseren Wehrwillen zu demonstrieren. Von Wehrübungen lässt sich doch kein Terrorist abschrecken. Wo sind die Lücken in der inneren Sicherheit? Wir müssen unseren Nachrichtendienst verbessern. Er braucht mehr gesetzlich erlaubte Mittel, um präventiv einzugreifen. Da besteht derzeit ein Defizit. Die Vorlage dazu befindet sich jetzt in der Vernehmlassung. Information ist entscheidend. Es gibt zu wenig Möglichkeiten, präventiv gegen den Terrorismus zu kämpfen. Dabei sind wir uns aber bewusst, dass Sicherungen gegen Missbrauch nötig sind. Im Weiteren gilt es, den Medien zu erklären, dass sie eine wichtige Verantwortung tragen. Es ist zwar wichtig, dass sie auf ihre Freiheit pochen, aber Journalisten müssen sich bewusst werden, dass sie von Terroristen missbraucht werden: Terroristen sind auf ein grosses Medienecho angewiesen. Schliesslich hat man sich in der Organisation von Politik und Wirtschaft bewusst zu sein: Zentralisierung erhöht die Gefahr. Dezentralisierung und das Delegieren von Entscheiden vermindert sie. Wie meinen Sie das? Wollen Sie den Züricher Bahnhof aufteilen oder das Bundeshaus nach Magglingen verlegen? Ein Angriff auf das Bundeshaus wäre ein verheerender Schlag. Ein spektakulärer Schlag gewiss, der aber nicht zum Untergang dieses Landes führen würde. Die Schweiz könnte weiterexistieren. Darauf kommt es an. 26 Kantonsregierungen und starke autonome Gemeinden könnten vorerst handeln. Das meine ich mit "heroischer Gelassenheit". Nachbarländer beklagen sich immer wieder, die Schweiz sei eine Insel, auf der die organisierte Kriminalität und das weltweite Verbrechertum zu leicht und zu ungestört Unterschlupf finden. Was unternehmen Sie dagegen? Die Revision des Bundesgesetzes zur Wahrung der inneren Sicherheit – BWIS II – schafft eine Verbesserung, indem wir den Sicherheitsdiensten effizientere Mittel in die Hand geben, präventiv zu handeln. Zum Vorwurf der ausländischen Staaten, wir seien eine Insel, frage ich stets: "Sagt mir wo und inwiefern." Es kommt in der Regel nichts Konkretes als Antwort. Die Behauptungen treffen nicht zu, aber jeder Hinweis wird ernst genommen. Aber sicher gibt es Defizite. Wo denn? Zum Beispiel Terrorismus im Internet. Ich gebe zu, hier besteht Verbesserungsbedarf. Wir hatten einen Fall von Aufruf zu Gewalt gegen die Schweiz im Internet: der Fall des ägyptischen Ex-Obersten Ghanam, der auf al-Quaida-Websites zum Angriff auf die Schweiz aufforderte. Wann wird er ausgeschafft? Hier liegt die Crux. Er ist ein Flüchtling, jetzt kann man ihn nicht in sein Land Ägypten zurückschicken. Darum hat das EDA ein anderes Land zu suchen. Der Fall Ghanam ist nicht der einzige. Letzten Herbst hat die Weltwoche einen Fall aufgedeckt, bei dem von Computern der Uni Genf aus während Monaten massenhaft Terrorpropaganda – Köpfungsvideos, Aufruf zum Mord und Gewaltverherrlichung – auf Terrorwebsites aufgeladen wurden. Weder die Uni Genf noch die Behörden hatten davon eine Ahnung. Es trifft zu, dass unsere Stellen auf den Fall Genf aufmerksam gemacht wurden. Leider kann nicht das ganze Netz kontrolliert werden. Darum sind wir auf Hinweise angewiesen. Wichtig ist, rasch zu reagieren. Das hat die Polizei gemacht und die Verdächtigen umgehend identifiziert und festgenommen. Im Fall Genf handelte es sich um ein Forum, das auf einem japanischen Server gespeichert war. Solche Foren gibt es Tausende. Die Koordinationsstelle zur Bekämpfung der Internet-Kriminalität überwacht systematisch bestimmte Inhalte des Internets. Besteht Handlungsbedarf, leitet sie die Information an die Strafverfolgungsbehörden weiter. Aber hier besteht ein klares Defizit. Die Behörden haben keine aktiven Fahnder, die die internationalen Terrorwebsites kontrollieren. Dabei wäre es mit relativ wenig Aufwand machbar. Offensichtlich nimmt man das Problem des Internetterrors überhaupt nicht ernst. Dabei bestätigen Cyberexperten, dass das Internet längst zentrale Plattform für Rekrutierung und Verbreitung von terroristischem Gedankengut ist. Ich kenne Ihre Experten nicht. Die Spezialisten bei fedpol arbeiten international stark zusammen. Auch arabische Websites werden anlassbezogen – das heisst bei einem Verdacht oder bestimmten Ereignis - kontrolliert. Das Internet sollte man aber nicht überbewerten. Die gefährlichen terroristischen Verbindungen erfolgen diskreter. Das Risiko des Internets besteht in der Verbreitung terroristischer Ideen, die zur Radikalisierung führen können. Wer über das Internet auftritt, läuft aber das Risiko, dass man ihn kennt. Wenn man nach den Tätern sucht, was in der Schweiz offensichtlich kaum geschieht. Lesen Sie den Bericht "Innere Sicherheit Schweiz" und diejenigen der bestehenden Dienste Koordinationsstelle Internet-Kriminalität (KOBIK) und Melde- und Analysestelle Informationssicherheit (MELANI). Dann sehen Sie, dass man sehr wohl nach diesen Leuten sucht. Verbesserungen sind aber unumgänglich. Unsere Hauptlücke besteht zur Zeit darin, dass wir in der Informationsbeschaffung gesetzlich zu sehr eingeschränkt sind. Deshalb haben wir die Gesetzesrevision BWIS II ausgearbeitet, die unter anderem vorsieht, dass künftig auch vertrauliche Teile des Internets kontrolliert werden können. Im Volk regt sich allerdings grosser Widerstand dagegen. Man hat Angst vor der Beschränkung der Freiheit und vor Bespitzelung. Diese Angst muss man ernst nehmen. Sie ist mit dem vorliegenden Entwurf aber unbegründet. Was sind die Kernelemente des neuen Gesetzes? Frühzeitige Information ermöglicht rechtzeitiges Handeln: Wir müssen in der Lage sein, frühzeitig zu erkennen, wer allenfalls ein Attentat oder eine Gewalttat plant. Die erste Vorlage ging zu weit, sie hätte zu viele Missbräuche ermöglicht, darum habe ich sie zurückgewiesen. Jetzt liegt eine freiheitlichere Version zur Vernehmlassung vor. Was ging Ihnen in der ersten Fassung zu weit? Die ganze organisierte Kriminalität war darin enthalten. Die jetzige Vorlage ist beschränkt auf Terrorismus, Proliferation und militärischen und politischen Nachrichtendienst. Nur dort soll präventive Aufklärung mit den neuen Mitteln möglich sein. Und welche Mittel hätte man unter dem neuen Gesetz konkret, um dagegen vorzugehen? Liegt ein Verdacht auf eine konkrete Gefahr vor, muss ein Antrag gestellt werden. Dieser wird durch das Verwaltungsgericht auf Rechtmässigkeit geprüft. Ist diese gegeben, kann der Chef des EJPD – also nicht der Nachrichtendienst oder das Bundesamt für Polizei – die Bewilligung etwa zur Abhörung erteilen. Wird die Rechtmässigkeit in Frage gestellt, muss der Gesamtbundesrat entscheiden. Braucht es dieses Gesetz tatsächlich? Könnte man nicht auf bisheriger rechtlicher Basis mit effizienterer Arbeit genau so viel erreichen? Natürlich kann man die Arbeit immer verbessern. Aber ich bin tatsächlich der Meinung, dass wir hier eine Lücke haben. Dahingehend zielen auch die Vorwürfe aus dem Ausland – nicht ganz zu Unrecht. Wer hat sich prominent beklagt? Nach dem 11. September 2001 kam seitens der Amerikaner der Verdacht auf, Terroristen hätten sicher viel Geld auf Schweizer Konten. Mittlerweile haben wir alles intensiv überprüft. Diesen Vorwurf konnte die Schweiz entkräften. Für Terroristen ist Geld nicht die Hauptvoraussetzung. Sie kämpfen mit wenigen Mitteln sehr effizient. Im Juli haben Sie ein Kooperationsabkommen mit den USA unterzeichnet. Was bringt das der Schweiz? Dieser Staatsvertrag setzt das deutliche Zeichen, dass wir nach dem Auslaufen des bisherigen Operative Working Agreements (OWA) die Zusammenarbeit mit Amerika bei der Bekämpfung des Terrorismus weiterführen wollen. Es ist klar geworden, dass das nur auf die Anschläge vom 11. September 2001 zugeschnittene OWA zu eng ist. Neue terroristische Anschläge oder Terrorismusfinanzierungen kann es nicht auffangen. Deshalb muss es durch eine neue, breitere Vereinbarung ersetzt werden. Das entspricht auch dem Willen des Bundesrats. Es gibt den Generalstaatsanwaltschaften der Vertragspartner die Möglichkeit, in jeder Strafuntersuchung zur Bekämpfung des Terrorismus und dessen Finanzierung solche gemeinsame Ermittlungsgruppen einzusetzen. Ist das ein fairer Deal oder spielt die Schweiz in erster Linie Wasserträger für die USA? Es ist ein fairer Deal, der selbstverständlich auch im Interesse der Schweiz liegt. Wichtig ist aber wie bei jedem Abkommen, dass diese gegenseitige Hilfe nicht missbraucht wird. Nach dem ersten Abkommen sind Vorwürfe laut geworden, US-Sicherheitsexperten hätten sich nach Belieben mit Dokumenten bedient und schrankweise Akten kopiert. Diese Vorwürfe wurden im Detail von der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts abgeklärt, und es wurde festgestellt, dass keine solchen Missbräuche vorgekommen sind. Sie müssen wissen: Immer wenn in der sensiblen internationalen Zusammenarbeit zusammengewirkt wird, muss entsprechend instruiert und geführt werden, dann halten sich die Teilnehmer auch an die Regeln. Das ist allgemein so, das war unter dem alten Abkommen so, und es muss auch unter dem neuen so sein. Wie beurteilen Sie die Beziehungen zwischen der Schweiz und den USA? Ich erfahre sie als gut. Wir haben die gleichen Zielsetzungen, was den Terrorismus anbelangt. Aber wir sind von einander unabhängige Rechtsstaaten. Uns ist die Neutralität wichtig, wir haben auch unsere eigenen Interessen zu vertreten. Wir behalten unsere Souveränität. Wenn wir darauf pochen, wird das auch vom grossen Amerika estimiert. Der Ruf des Schweizer Inlandgeheimdienstes ist ambivalent. Sind Sie mit dem Dienst zufrieden? Bei allen Nachrichtendiensten auf der Welt ist der Ruf ambivalent. Schauen Sie die Auseinandersetzungen im Ausland an! Das liegt in der Natur der Sache. Darum müssen die Nachrichtendienste gut geführt sein. Der Schweizer Inlandnachrichtendienst DAP arbeitet professionell und seriös. Er hat international einen guten Ruf. Was sagen Sie zum Fall des "Moscheespions" Covassi? Er behauptet, er hätte im Auftrag des DAP den Leiter des Genfer Islamzentrums mit illegalen Mitteln in Verruf bringen sollen. Dieser Fall wurde im EJPD im Detail überprüft. Wir haben keinerlei Hinweise darauf, dass bei uns ungesetzliche Handlungen begangen wurden. Im Übrigen untersucht auch die Geschäftsprüfungsdelegation den Fall, wir warten das Ergebnis ab. Was ist denn das für ein Nachrichtendienst, der mit solch angeblich dubiosen Leuten kooperiert? Das liegt im Wesen des Metiers. Nachrichtenträger brauchen Kontakte in oft dubiose Kreise. Wer hat denn Kontakte mit dem Drogenmilieu? Zum Beispiel Leute, die sich dort auskennen. Das Risiko muss man in Kauf nehmen. Können Sie sich einen Einsatz der Armee im Rahmen der Terrorbekämpfung vorstellen? Die Polizei steht ganz klar im Vordergrund. Erst wenn die Kapazität der Polizei überschritten ist, kann die Armee aufgeboten werden. Damit müssen wir rechnen. Wäre es nicht sinnvoll, die Schweizer Armee auch dort einzusetzen, wo Terrorismus entsteht, konkret in Afghanistan, wo die Taliban wieder erstarken? Abgesehen davon, dass es unsicher ist, ob die Strategie, in anderen Ländern grossflächig einzugreifen, den Terrorismus bezwingt, kommt dies für den neutralen Kleinstaat keinesfalls in Frage. Aber das Geschehen beschäftigt: Trotz gewaltiger technologischer und finanzieller Überlegenheit ist es dem Westen bisher nicht gelungen, sich in Afghanistan und Irak militärisch durchzusetzen. Das Konzept hoch Hightech-Kriegsführung mit starker Luftüberlegenheit, mit anschliessend wenig Bodentruppen und sehr geringen eigenen Verlusten, ist gescheitert. Der Westen muss sich etwas anderes einfallen lassen. War der Irak-Krieg ein Fehler? Die USA waren überzeugt, dass er zu führen ist. Es ist nicht an einem schweizerischen Bundesrat, darüber zu urteilen. Was kann der Westen tun, damit Iran die Atombombe nicht baut? Alles, was er kann. Es ist zu hoffen, dass es nicht zum Krieg führt. Afghanistan, Irak, eventuell Iran: Hat George W. Bush auf der ganzen Linie versagt? Ein schweizerischer Bundesrat ist nicht dazu da, um öffentlich über fremde Regierungen zu Gericht zu sitzen. Aber man darf festhalten: Obwohl die USA die Hauptzielscheibe der Terroristen sind, konnte Präsident Bush nach dem 11. September 2001 einen weiteren Anschlag verhindern. Im Übrigen ist seine Wirtschaftspolitik beeindruckend. Das Wachstum ist hoch, die Arbeitslosigkeit sehr tief: Das ist sozial. Angenommen, die Strategie der Amerikaner, die Terroristen vor Ort kriegerisch zu bekämpfen, wäre erfolgreich: Müsste sich die Schweiz nicht beteiligen – mit Truppen, mit eigenen Soldaten? Schliesslich profitieren auch wir davon. Eine Beteiligung der Schweiz kommt grundsätzlich nicht in Frage, gleichgültig ob man direkt oder indirekt vom Ausgang profitiert. Neutralität heisst, in Konflikten nicht Partei zu nehmen. Einfach ist das nie. Wir sind Trittbrettfahrer. Die Niederlande kämpfen in Afghanistan, Dänemark schickte Truppen in den Irak. Und was tun wir? Ein Kleinstaat muss nicht tun, was alle machen, sondern seine Besonderheiten anbieten – ohne je für eine Seite Partei zu nehmen. Das ermöglicht es der Schweiz, sich in grossem Masse humanitär zu betätigen. Ich erinnere an das Internationale Rote Kreuz. Aber auch die Guten Dienste etc. Das IKRK wird zu einem grossen Teil von den USA finanziert – was das IKRK nicht daran hindert, der amerikanischen Regierung zum Dank regelmässig die Leviten zu lesen. Gemessen an unserer Grösse ist der Beitrag der Schweiz ans IKRK enorm. Auch ich sehe mit Besorgnis, dass das IKRK nicht mehr immer so neutral auftritt, wie es meiner Meinung nach sollte. Doch sein Ruf ist intakt: In manchen Krisengebieten war das Rote Kreuz die einzige Organisation, die vor Ort helfen konnte. Reicht das? Während andere bluten, schicken wir den Verbandskasten. Das wirkt egoistisch. Die Neutralität ist oft unangenehm. Jede Partei reklamiert, dass man nicht auf ihrer Seite steht. Darum muss man die Neutralität oft erklären. Auch das ist nicht neu. Die Amerikaner hatten im Zweiten Weltkrieg grosse Mühe mit der schweizerischen Neutralität, während Winston Churchill viel Verständnis dafür zeigte. Der Staat Schweiz – nicht so die Bürger, die nicht neutral sein müssen – hat sich nicht einzumischen, so unangenehm dies oft aus innen- und aussenpolitischen Gründen ist. Es bedeutet, die Nerven zu behalten. Wenn sich zwei streiten, kann man gut abseits stehen. Aber der Terrorismus ist eine Herausforderung neuer Art, die auch uns betrifft. Gegenüber Verbrechern darf man nicht neutral sein. Der Terrorismus ist nicht eine Partei, sondern eine Kampfmethode, neuerdings eine Strategie. Neutral ist man zwischen Partnern! Glauben Sie im Ernst, Neutralität schütze vor Terrorismus? Soweit Terrorismus Ausfluss von internationalen Konflikten ist, wird die Schweiz nicht in solche Konflikte hineingezogen. Wir können zwar nie ausschliessen, dass es bei uns zu einem Anschlag kommt, aber sicher ziehen wir ihn nicht an. Hinter dem Terrorismus steht meistens auch eine Auseinandersetzung zwischen Staaten. Denken Sie an die Konflikte im Nahen Osten. Für wen hätten wir denn im Libanon-Konflikt eindeutig Partei ergreifen sollen? Die Stellungnahmen des EDA klangen weniger neutral. Die Position des Bundesrates war über jeden Zweifel erhaben. Selbstverständlich ist es nicht unsere Aufgabe, zu entscheiden, ob ein militärischer Einsatz eines Landes verhältnismässig ist oder nicht. Offen ist, wie wir uns als Neutrale zu verhalten haben, wenn ein Staat sich mit einer Terrororganisation wie der Hisbollah in einem anderen Staat bekriegt. Das sind neue Formen. Gerade der Libanon-Krieg zeigt unsere einzigartigen Möglichkeiten als neutrales Land auf. Das Rote Kreuz war anfänglich die einzige mögliche Hilfe. Darum hat der Bundesrat unverzüglich 5 Millionen Franken für Soforthilfe gesprochen. Ich bin der Meinung, wir sollten uns für Gespräche zur Verfügung stellen, sogar mit terroristischen Organisationen. Das ist schwierig, weil alle überzeugt sind, dass man mit solchen Organisationen nicht redet. Gerade darum sollte man das tun. Können Sie sich vorstellen, mit Hamas zu reden? Wer weiss? Natürlich braucht es stets Kontakt und Einverständnis auch der Gegenpartei. Und ein Erfolg muss mindestens möglich sein. Wenn es nötig ist, kommt nur der Neutrale in Frage, weil er keine direkten Interessen vertritt. Ist der Westen verantwortlich für die missliche Lage im Nahen Osten? Haben wir den Terror verdient? Es liegt nicht an der schweizerischen Regierung, für andere Staaten Vergangenheitsbewältigung zu betreiben. Es ist auch müssig, jetzt darüber nachzudenken, was alles falsch gelaufen ist: Mit Ihren Fragen mögen sich Historiker beschäftigen. Für mich gilt: Wir müssen Land und Bevölkerung schützen. Punkt. Eben hat jemand anderer, Günter Grass, seine Vergangenheit bewältigt und seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS zugegeben. Ist im Hause Blocher ein Säulenheiliger vom Sockel gestürzt? Ich habe ihn nie gemocht. Und ich kann nicht verstehen, wie einer ein ganzes Leben lang so tun konnte, als ob er die grosse Ausnahme gewesen sei. Mit achtzig Jahren kommt er und behauptet, das habe jetzt einmal raus müssen - und sagt das noch wie ein Held. Als ich das gehört habe, dachte ich: Es gibt schon nichts Neues unter der Sonne.

15.08.2006

Bundesrat Christoph Blocher: «Wir lassen hier niemanden verhungern

Der Bundesrat Christoph Blocher tritt heute Abend als Gastredner in Pratteln auf. Die SVP Baselland hat in Zusammenarbeit mit der FDP Baselland und der Wirtschaftskammer Baselland den Justizminister an eine "Landsgemeinde" eingeladen. Bundesrat Christoph Blochers Vortrag trägt den Titel "Humanitäre Tradition wahren - Missbräuche vermeiden" 15.08.2006, Basler Zeitung, Niklaus Ramseyer Herr Bundesrat Blocher, Sie werben heute in Pratteln für das Asyl- und das Ausländergesetz, die am 24. September vors Volk kommen. Warum gerade in Pratteln? Ich habe im Hinblick auf diese Abstimmung sehr viele Anfragen bekommen, kann aber nur etwa 10 Auftritte annehmen. Da muss ich mich konzentrieren, und im Raum Basel Land trete ich nun in Pratteln öffentlich auf. Sie haben solche Abstimmungskampagnen der Bundesräte in der Vergangenheit oft kritisiert. Machen Sie jetzt selber Regierungs-Propaganda? Nein. Ich habe die Auftritte von Bundesräten nie kritisiert. Ich habe die Abstimmungspropaganda des Bundesrates kritisiert. Das ist etwas anderes: Der Bundesrat darf nicht Abstimmungskämpfe führen, Broschüren veröffentlichen, Umfragen machen, Steuergelder einsetzen. Er muss sich zurückhalten, aber sachlich informieren. Darum halte ich auch in Pratteln nur einen Vortrag und werde Fragen beantworten. Wie machen Sie denn die Trennung zwischen bundesrätlicher Information und Abstimmungs-Propaganda? Den Abstimmungskampf sollen Parlamentarier, Parteien und Private führen. Das war früher demokratisch anerkannt. Sie engagieren sich für oder gegen eine Vorlage, vertreten wie gute Anwälte, alles was für eine Vorlage spricht. Ich als Bundesrat werde einfach die Situation darlegen und zeigen, was die beiden Vorlagen neu bringen. Sie stellen sich also über den Parteienstreit. Dazu müssten Sie aber auch die Nachteile Ihrer Vorlagen erwähnen. Welche Nachteile werden Sie in Pratteln konkret ansprechen? Die neuen Gesetze haben im Gesamten gesehen wesentlich mehr Vorteile. Sie haben aber auch gewisse Nachteile, wenn sie nicht richtig angewendet würden. Zum Beispiel? Probleme gibt es beispielsweise beim Nachzug der Kinder. Ausländische Eltern, die hier arbeiten, lassen ihre Kinder oft bei den Grosseltern zurück und holen sie erst zu sich, wenn sie die Schule abgeschlossen haben. Weil diese Jugendlichen unsere Sprachen nicht können, haben sie dann grössere Integrationsprobleme. Und die jetzt vorgeschlagene Altersgrenze von 12 Jahren für den Kinder-Nachzug ist doch willkürlich. Das ist so. Und Altersgrenzen haben immer auch Nachteile. Aber solche Willkürlichkeiten könne Sie nicht vermeiden. Die linke Ratsseite hat in der Parlamentsberatung 15 Jahre gefordert. Diese Limite wäre aber genau gleich willkürlich. Und mit 12 Jahren bleiben den Kindern drei wichtige Schuljahre um hier die Sprache zu lernen, bevor sie ihre Berufslehre beginnen. Zudem ist es auch mit dem neuen Gesetz noch möglich, Kinder nach dem 12. Altersjahr nachzuziehen - innerhalb eines Jahres nach Einreise der Eltern. Das Ausländergesetz schafft Rechtsungleichheiten zwischen EU-Bürgern und anderen Ausländern. Und bei diesen anderen Ausländern bevorzugt es dann noch jene aus den Chefetagen und Leute mit mehr Geld. Ist das nicht fragwürdig? Sehen Sie, es wäre natürlich schön, wenn wir sagen könnten, alle aus der ganzen Welt, die in der Schweiz eine Stelle finden, können hier arbeiten kommen. Aber das geht leider nicht. Bisher galt das Prinzip, dass Ausländer hier arbeiten können, wenn ihr Arbeitgeber nachweisen konnte, dass er im einheimischen Markt niemanden findet. Die Freizügigkeit mit der EU führt nun dazu, dass ab 2010 alle Leute aus diesem grossen Raum mit den Schweizer Bürgerinnen und Bürgern arbeitsrechtlich gleichgestellt werden. Wir können diese Personenfreizügigkeit jedoch nicht auf die ganze Welt ausdehnen, wie dies die Gegner der Vorlage im Prinzip fordern. Hohe Arbeitslosigkeit, grosse Probleme für die Sozialwerke, hohe Sozialhilfen etc. wären die Folge. Das wäre unverantwortlich. Mehr Widerstand regt sich gegen das neue Asylgesetz. Dass künftig auf ein Asylgesuch gar «nicht eingetreten» werden soll, wenn der Flüchtling nicht innerhalb von 48 Stunden Reise- oder Identitätspapiere präsentieren kann, finden die Gegner der Vorlage schlimm. Werden künftig Verfolgte schon an der Schweizer Grenze ohne Verfahren abgewiesen? Nein. Diese Unwahrheit wird von den Gegnern leider verbreitet. Auch Asylsuchende auf deren Gesuch nicht eingetreten wird, kommen ins Verfahren. Das gilt für alle, und sie haben auch alle Rekursmöglichkeit. Die neue Bestimmung wurde jedoch nötig, weil zwischen 70 und 80 Prozent jener Leute, die ohne Asylgründe bei uns Asylgesuche stellen, ihre Papiere nicht vorweisen. Oft verstecken oder vernichten sie diese. Das tun sogar Leute, die mit dem Flugzeug zu uns kommen. Wenn sie aber glaubhaft machen können, dass sie unverschuldeterweise keine Reisepapiere haben, dann wird auf ihr Gesuch eingetreten. Diese Regelung wurde nötig, weil hier eines unserer Hauptprobleme liegt: Mehr als 85 Prozent der Afrikaner, die bei uns Asylgesuche stellen, weisen keine Papiere vor. Sie werden von den Schleppern, die sie hierher schleusen, auch entsprechend beraten. Es ist jedoch jedem Flüchtling, der zu uns kommt zuzumuten, dass er sagt, woher er kommt, wie er heisst - und dass er seine Reisepapiere vorweist. Bedenken Sie: Zur Zeit suchen wir für gut 6200 Personen, die illegal hier sind und eimkehren müssten, die erforderlichen Ausweise. Warum soll denn ein Fahrausweis nun nicht mehr als Identitätsausweis gelten? In den meisten Ländern - auch etwa in den USA - tragen die meisten Leute ja nur dieses Papier und keine Pässe auf sich. Es gibt weltweit kein einziges Land, das den Fahrausweis als Einreisedokument akzeptiert. Amerikaner, die in die Schweiz kommen, müssen über Pässe verfügen. Sie sind aber meist nicht auf der Flucht. Das schon. Aber wir haben einfach festgestellt, dass Fahrausweise und andere Dokumente wie zum Beispiel Geburtscheine, die wir bisher noch akzeptiert haben, sehr oft gefälscht sind. Darum müssen wir diesbezüglich strenger werden. Bedenken Sie: Zur Zeit suchen wir für über 6200 Personen, die illegal hier sind und die heimkehren müssten, die erforderlichen Ausweise! Aber ich betone es noch einmal: Alle, die ein Asylgesuch stellen, auch die ohne Papiere und jene die falsche Angaben machen, kommen auch künftig ins Verfahren und haben die Möglichkeit ihren Fall rechtlich weiter zu ziehen. Kein echter Flüchtling muss Angst haben, er werde abgewiesen. Die illegal Anwesenden müssen das Land verlassen. Sonst kommen immer mehr Illegale! Kritisiert wird auch, dass abgewiesene Asylbewerber nur noch Nothilfe bekommen sollen. Was heisst "Nothilfe" für die Betroffenen konkret? Heute bekommen Abgewiesene, die in ihr Land zurück sollten, bei uns die volle Sozialhilfe. Das kann für einen Vater, eine Mutter und zwei Kinder 4800 Franken im Monat ausmachen. Und es ist klar, dass die alles machen, damit sie nicht in ihr Land zurück müssen. Die so genannte Nothilfe, die heute schon für Leute mit einem Nichteintretensentscheid gilt, ist bedeutend tiefer. Pro Person sind das gesamtschweizerisch durchschnittlich zwischen 160 und 170 Franken in der Woche. Also knapp 700 Franken im Monat. Ja. Diese Regelung der Nothilfe statt Sozialhilfe gilt bereits seit zwei Jahren für Personen mit einem Nichteintretensentscheid. Die Erfahrungen damit sind gut. Sie gilt künftig für jene Leute, die illegal hier sind, und das Land verlassen müssen. Im Gesetz steht aber, Nothilfe solle möglichst «in Form von Sachleistungen» gewährt werden. Was bedeutet das? Das bedeutet, Essen und eine Schlafstelle. Und solche Naturalleistungen sind besser als Bargeld. Es ist das unbedingt erforderliche, bis die Leute abreisen. Sachleistungen sind meist zu wenig interessant, um lange Zeit hier zu bleiben. Andere Länder stellen die Hilfe für Ausreisepflichtige ein. Wir lassen niemanden verhungern. Auch prominente Bürgerliche kritisieren die beiden Gesetze massiv, weil dieses unmenschlich seien. Warum wollen Sie die Vorlagen nicht in der Fernseh-Arena gegen diese Opposition verteidigen? Bürgerlich ist ja ein breiter Begriff. Und es gibt immer Leute, die solche Gesetze als unmenschlich bezeichnen - und sich selber als gute Menschen darstellen wollen. Verantwortung übernehmen sie aber keine. Natürlich ist es nicht schön, wenn wir Leute, die hierher kommen, wieder zurückschicken müssen. Unmenschlich wäre, dies aber nicht zu tun. Die dadurch entstehenden Zustände wären untragbar und die Folgen unabsehbar. Mit den beiden Vorlagen wahren wir weiterhin unsere humanitäre Tradition, aber wir bekämpfen die Missbräuche. An diesen Gesetzen gibt es nichts, was unmenschlich ist. Und warum wollten Sie diesen Standpunkt nicht in der Arena vertreten? Die «Arena» hat gemäss ihrem neuen Konzept in der Mitte zwei Gegner, denen zwei Befürworter gegenüberstehen. Da wird der Abstimmungskampf hart und auch polemisch geführt. Das ist auch richtig so. Ein Bundesrat ist jedoch der Bundesrat der ganzen Bevölkerung, darum ist er in seiner Kampfführung eingeschränkt. Er muss Zurückhaltung üben, kann weniger direkt sein und sollte die Haltung des Gesamtbundesrates vertreten, nicht seine eigene Meinung. Ein Bundesrat soll also nicht als Abstimmungskämpfer an der Seite eines andern Befürworters der Vorlagen auftreten. Darum gehe ich nicht in eine solche Arena. In welche Arena würden Sie denn gehen? Früher war es anders gelöst: Ein Befürworter und ein Gegner im Zentrum - und der Bundesrat in der dritten Position. Das ist eine Möglichkeit. Aber das Fernsehen muss selber entscheiden, wie es die Sendung konzipieren will. Das ist zu respektieren. So wie das jetzt angelegt ist, kommt diese Sendung für einen Bundesrat nicht in Frage. Die neuen Asyl- und Ausländergesetze werden schon als «Lex Blocher» bezeichnet. Läuft die Abstimmung somit am 24. September auf ein Plebiszit «für oder gegen Blocher» hinaus? Das ist eine alte Masche. Wer keine stichhaltigen Argumente in einer Sache hat, der versucht die Gegenpartei zu verunglimpfen und dann den Abstimmungskampf gegen eine Person zu führen. Man versucht so, den Stimmbürger vom Denken zu dispensieren. Das Ausländer- und das Asylgesetz wurden jedoch vom Gesamtbundesrat und dann vom National- und vom Ständerat verabschiedet. Über diese Gesetze wird am 24. September abgestimmt - und nicht über Bundesrat Blocher.

31.07.2006

Für eine freie, sichere und unabhängige Schweiz – Zum Nationalfeiertag 2006

Schriftliche Fassung der Ansprache von Bundesrat Christoph Blocher an den 1. Augustfeiern 2006 in Mont-sur-Rolle, Uster, Kerns und Oberwald 31.07.2006, Mont-sur-Rolle, Uster, Kerns und Oberwald Bundesrat Christoph Blocher ging in seinen Reden zum Schweizer Nationalfeiertag auf das Wesen der Schweiz ein. Dazu gehöre der Wille zur Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung. Direkter Ausdruck davon sei die direkte Demokratie. Diese Werte gelte es am 715. Geburtstag der Schweiz dankbar zu feiern. Es gilt sowohl das mündliche wie das schriftliche Wort, der Redner behält sich vor, auch stark vom Manuskript abzuweichen. Liebe Miteidgenossen Liebe Miteidgenossinnen Liebe Geburtstagsgäste 1. Warum feiern wir heute? Wir haben uns heute hier versammelt, um in einfacher, aber würdiger Weise Geburtstag zu feiern. Den Geburtstag unseres Vaterlandes. Wir tun es so, wie es uns die Tradition gebietet. Im Gegensatz zu den Menschen erblicken Länder nicht an einem bestimmten Tag das Licht der Welt. Die Schweiz schon gar nicht. Sie ist vielmehr in langen Zeiträumen entstanden. Als Geburtsjahr wurde das Jahr 1291 bestimmt. Warum? Weil auf dieses Jahr ein wichtiges Dokument datiert wurde: Der Bundesbrief von 1291. Am Anfang der Eidgenossenschaft steht also dieses Pergamentpapier. - Es ist nur ein kurzes Schriftstück. - Ein einziges Blatt. - 20 cm breit und 32 cm hoch. - In Latein geschrieben. - Siebzehn Zeilen Text. Man kann sich ausdenken, wie heute ein solches Dokument aussehen würde, wie viele hundert Seiten es umfassen würde. Zwar nicht in Lateinisch geschrieben, aber für uns trotzdem unverständlich. Der Bundesbrief ist zeitlos. Aber zu jeder Zeit – auch heute – aktuell. Weil er für die Schweiz Grundsätzliches enthält: 1. Er beginnt mit der Anrufung Gottes; und stellt sich damit unter dessen Schutz. 2. Es wird beschlossen, das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, und keine fremden Richter über sich zu dulden. 3. Man verspricht sich gegenseitig Hilfe zu leisten. Dieser Bundesbrief ist also das Bekenntnis und der Ausdruck des gemeinsamen Willens zur Unabhängigkeit. Und darum ist es ein zeitloses Geschehen, das wir heute am 715. Geburtstag der Schweizerischen Eidgenossenschaft feiern dürfen. 2. Was ist am Geburtstag zu feiern? Geburtstage sind Feiern der Dankbarkeit. Dankbar feiern wir, dass wir es wieder ein Jahr weiter gebracht haben. Und das im 715. Lebensjahr! Wir feiern nicht die Unfehlbarkeit des Landes. Nein. Wir wollen heute mit Dankbarkeit unseres Landes, seiner Geschichte und seiner Menschen gedenken. 3. Was unterscheidet der schweizerische Geburtstag von anderen? Die Schweiz feiert ihren Geburtstag „flächendeckend“ in ein paar Tausend Gemeinden, in Familien- und Freundeskreisen. Eine zentrale, offizielle Nationalfeier, wie das in anderen Ländern üblich ist, kennt die Schweiz nicht. Trotzdem, und ich betone dies: Alle Feiern sind gleichwertig. Damit feiern Sie hier stellvertretend für das Ganze. Und es braucht beileibe keinen Bundesrat dazu. In der Schweiz funktioniert sogar die Bundesfeier ohne obrigkeitlichen Segen. Drückt sich nicht schon darin eine wesentliche Besonderheit unseres Landes aus? Nicht von oben, nicht durch einen königlichen Gnadenakt ist die Schweiz geprägt worden. Nein, von unten, durch die Bürger, die sich zur Unabhängigkeit verpflichteten. So soll es auch am Bundesfeiertag nicht anders sein. 4. Das Wesen der Schweiz Ein wesentliches Merkmal der Schweiz ist der feste Wille zur Unabhängigkeit im Innern wie gegen aussen. Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung gehören untrennbar zusammen. Diese drei Säulen haben die Schweiz stark und wohlhabend gemacht, weil sie auch dem Einzelnen genügend Raum boten, stark und wohlhabend zu sein. Denn ein Staat ist immer die Summe seiner Bürger. Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung sind nicht nur bequem. Es gilt die Instrumente und die Mentalität, die das fördern und aufrechterhalten, bereit zu stellen. Neben Bürgerpflichten auch eine Armee. Wohl ist der Wille zur Selbstbestimmung immer wieder im Laufe der Geschichte bedroht worden. Nicht, dass die Schweizer stets ein tugendhaftes Völklein gewesen wären. Nein, oft genug haben sie gegen ihre eigenen Grundsätze verstossen. Sie haben geliebäugelt mit den europäischen Grossmächten, ihre Neutralität vergessen, sich angebiedert. Die Gefahr kommt heute auf leiseren Sohlen. Unsere Unabhängigkeit ist weniger von aussen bedroht. Internationalismus, die Lust nach grossen Zusammenschlüssen, Teilnahme an überstaatlichen Organisationen sind angesagt – und dahin drängen politische Eliten. Aber dies sind Irrwege für die Schweiz. Weltoffen Ja. Einbindung und Einschränkung der Handlungsfreiheit Nein. Wer die 715jährige Geschichte verfolgt, wird sehen: Zum Glück hat das Land immer wieder zu seinem Weg zurückgefunden. Wir haben uns immer wieder auf die Freiheit, die Selbstbestimmung und die Eigenverantwortung besonnen. Auf die eigene Staatsidee ist Verlass. Mit Freude stellen wir fest, dass angesichts der Realitäten in dieser Welt, die Menschen in unserem Lande wieder vermehrt merken, was es bedeutet, im eigenen Lande bestimmen zu können. 5. Ein Volk von Minderheiten In der Schweiz gehört man ja immer gleichzeitig verschiedenen Mehrheiten und Minderheiten an. Man ist Deutschschweizer, Romand, Tessiner, Rätoromane, Innerschweizer, Schaffhauser, Städter, Landbewohner, Katholik, Reformierter, Konfessionsloser, Unternehmer, Handwerker, Arbeiter, Staatsangestellter, Vater, Mutter, Steuerzahler, Rentner, Automobilbenutzer, Velofahrer, Konservativer, Sozialist, Liberaler – aber eines sind wir alle gemeinsam: Bürger dieses Landes. Wie können wir alle diese Interessen, Meinungen, Konfessionen, Sprachen, Altersgruppen unter einen Hut bringen? Dann sage ich: Sicher nicht unter den Hut Gesslers. Was wir brauchen, ist mehr Freiheit für den Einzelnen. Was die Bürger wollen, ist möglichst wenig Gängelung, Bevormundung und moralistische Besserwisserei. Und zwar nicht Bevormundung von aussen aber auch nicht von innen. Was verbindet denn diese vier Gemeinden, die ich im Rahmen der 1. Augustfeierlichkeiten besuchen durfte? Der gemeinsame Wille, in einem Land zu leben, das seinen Weg in Freiheit und Selbstbestimmung beschreitet. Eine Selbstbestimmung, die ihren unmittelbarsten Ausdruck in der direkten Demokratie gefunden hat. In keinem anderen Staat der Welt hat der einzelne Bürger so viel zu sagen wie hier. Vier mal jährlich sind die Schweizerinnen und Schweizer aufgerufen, auch zu Sachfragen ihre Meinung zu bilden. Das mag mühsam sein, ist aber eine wunderbare Einrichtung, gerade weil sie uns so viel abverlangt. Mit „uns“ meine ich uns alle. Die Bürger müssen sich orientieren und zu einer Entscheidung kommen. Die Parteien sind aufgefordert Position zu beziehen und Abstimmungskämpfe durchzustehen. Die Politiker müssen sich immer wieder neu prüfen und bestätigen lassen. Die Politiker sollen auch nach den Wahlen hinstehen vor die Wählerinnen und Wähler und ihre Vorlagen den Menschen erklären und so reden, dass man sie versteht. Auch das gehört zu den Aufgaben und Anforderungen einer direkten Demokratie. 6. Vier Gemeinden – vier Geschichten. Einheit in der Vielfalt. Wir sind zusammengekommen, um über die Schweiz und ihr Wesen und über ihre Werte nachzudenken. Wir tun es freudig an dieser Geburtstagsfeier. Wir tun es freiwillig – weil uns niemand dazu zwingen kann. Viele Länder haben andere Zeiten erlebt. Sie haben ihren Geburtstag sorgenvoll und unfreiwillig begangen. Wenn ich an die vier Orte (Mont sur Rolle, Uster, Kerns, Oberwald) denke, die ich gestern und heute besuche, dann steht jeder von ihnen in seiner ganzen Einzigartigkeit und speziellen Geschichte da. Und trotzdem gehören wir zusammen. Diesem „trotzdem“ sollten wir an einem Tag wie dem 1. August nachgehen – und doch die Vielfalt nicht schmälern. 6.1. Mont sur Rolle Ich kann mir vorstellen, dass die Waadtländer ein anders Verhältnis zum Rütlibund pflegen als die Zürcher, Obwaldner oder Walliser. Vielleicht denken die Waadtländer besorgt an die Herrschaft, welche die alten Eidgenossen und namentlich die Berner ausgeübt haben. Vielleicht ist den Waadtländern das Jahr 1798 (Einmarsch der Franzosen) oder 1803 (die Waadt wird ein eigenständiger Kanton) oder 1848 (der neue Bundesstaat) weit wichtiger als 1291. Doch so weit sind alle diese Gedenkjahre vom Bundesbrief gar nicht entfernt, wie es zuerst scheinen mag: Unsere Bundesverfassung von 1848 (auch in der jüngsten, revidierten Fassung) beginnt mit den Worten: „Im Namen Gottes des Allmächtigen!“ – „Au nom de Dieu Tout-Puissant!“. Und gleich darauf folgt das Bekenntnis zum Fundament, auf dem die Schweiz steht: Freiheit, Demokratie, Unabhängigkeit und Neutralität. Welches Ereignis, welche Jahreszahl wir auch immer herausgreifen: Der Geist der Freiheit und Selbstbestimmung ist als verbindende Klammer in allem erkennbar. Ob in der Romandie, ob in der Innerschweiz, ob im „Züribiet“ oder im Oberwallis! Und heisst es nicht im Wappen des Kantons Waadt „liberté et patrie“? Steht dieser Wahlspruch nicht für die ganze Schweiz, für uns alle? Ist dieser Geist nicht Ausdruck des Bundesbriefes von 1291? 6.2. Uster Uster hat nicht nur den 1. August als Gedenktag an den Bundesbrief von 1291. Nein. Uster möchte vielleicht lieber an den Ustertag vom 22. November 1830 erinnern. Aber wie der Rütlischwur steht auch der Ustertag in einer Reihe aufmüpfiger Ereignisse. Solche innereidgenössische Auseinandersetzungen haben eine lange Tradition. Was forderten die rund 10'000 Menschen, die sich in diesem späten Herbsttag 1830 zusammenfanden? Was wollten sie? Wieder sind wir bei den Ursprüngen der Eidgenossenschaft angelangt: Sie forderten nicht mehr und nicht weniger als mehr Freiheit und Selbstbestimmung. Einer der Redner des Uster-Tages begann mit einem Zitat Schillers: „Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei und würd’ er in Ketten geboren…“ Und diese Freiheit war auch ganz nüchtern, ganz konkret zu verstehen. Die damals zusammen getragenen Forderungen verlangten vor allem auch das Recht, frei über die eigenen Einkünfte zu verfügen. Man wollte Steuererleichterungen, weniger Zinsen, Ablösung der Lasten des Grundbesitzes. All das spielte selbstverständlich auch in der alten Eidgenossenschaft eine Rolle. Und die gleichen Forderungen wie 1830, wie 1291 treiben die Bürger heute um. Mehr Freiheit, weniger staatliche Bevormundung. Sie sehen: Der Bundesbrief ist hochaktuell. Auch heute. 715 Jahre später im Kanton Zürich. 6.3 Kerns Der Innerschweizer Kulturhistoriker Linus Birchler schrieb über die Obwaldner (in Abgrenzung gegenüber dem benachbarten Nidwalden): „Die Obwaldner sind kühler und bedächtiger, oft auch geschäftstüchtiger. Ihre Aufgeschlossenheit erklärt sich teilweise aus dem Verkehr über den Brünigpass, der die Einwohner schon früh mit Fremden in Berührung brachte.“ So blieb der Kanton vorerst auch dem neuen Bund der Eidgenossen von 1291 zögernd fern – ganz nach dem Motto: zuerst einmal abwarten und schauen, ob sich dieses Abkommen bewährt und auch lohnt. Noch heute lässt sich diese schlaue Bedächtigkeit der Obwaldner nachweisen. Das neue Steuergesetz führte zuerst Schaffhausen ein. Übrigens jener Kanton, woher der SP-Parteipräsident stammt, der dann Obwalden verklagen wollte, als dieses ein noch verbessertes Steuergesetz mit grossem Volksmehr angenommen hatte. Ich kann Ihnen nur raten: Knicken Sie nicht ein. Lassen Sie sich nicht beirren. Bestimmen Sie über Ihre Geschicke. Das steht Ihnen in unserer föderalistischen Schweiz - Gott sei Dank - noch zu, was Sie übrigens schon der alte Bundesbrief von 1291 lehrt. Darum darf ich Sie besonders am Geburtstag der Eidgenossenschaft ermuntern, ihren eigenen Weg weiter zu gehen. 6.4. Oberwald Das Wallis hat seine eigene Geschichte. Den Oberwaldnern mag der Bundesbrief von 1291 fremd sein. Tatsächlich? Gerade die Geschichte des Wallis ist ein dauernder Kampf um Unabhängigkeit, Freiheit und Selbstbestimmung. Das Wallis passte darum 1815 hervorragend in die Schweiz. Doch wenn ich die Oberwaldner höre, gehört nicht das Wallis zur Schweiz, sondern die Schweiz zum Wallis. Wie sagen Sie doch zum Rest der Schweiz: „D’Üsserschwiiz“! Doch im ersten Jahrhundert ihrer Mitgliedschaft zur Eidgenossenschaft gab es im Wallis – wie in vielen anderen Kantonen auch – Armut und Arbeitslosigkeit. Viele – auch aus dem Wallis und aus der Gemeinde Oberwald – sind darum im 19. Jahrhundert nach Amerika ausgewandert. Was brachten sie mit? Viel Hoffnung, aber auch die Bereitschaft, durch Leistung und Einsatz etwas zu erreichen. Heute ist es anders geworden. Die Schweiz ist vielmehr zu einem Einwanderungsland geworden. Dieser Tatsache haben wir uns zu stellen. Mit über 20 Prozent Ausländern gehört die Schweiz zu den Staaten mit den höchsten Ausländeranteilen. Und das bei einer Einbürgerungsquote, die an vierter Stelle weltweit liegt. Es ist ein gutes Zeichen für die Schweiz, dass sie der eigenen Bevölkerung und dazu so vielen Ausländern Arbeit bietet. Auch hierher kommen nun Menschen mit Hoffnung. Wenn sie diese Hoffnung mit dem Willen zur Leistung und Integration kombinieren und wir Ihnen einen Arbeitsplatz bieten können, sind sie herzlich willkommen. Das haben wir immer wieder gezeigt. Wer aber glaubt, die Zuwanderung könnte ohne Regeln und Kontrolle vor sich gehen, ist naiv und gefährdet das Zusammenleben in der Schweiz. Wir sind weltoffen – das heisst aber nicht, dass wir nicht das Wohl und das Interesse der eigenen Bevölkerung zum Massstab unserer Politik nehmen sollten. Wir stehen zu einer langen humanitären Tradition – das heisst aber nicht, dass wir die offensichtlichen und eklatanten Missbräuche im Asylwesen nicht bekämpfen sollten. 7. Zum Schluss Ob Stadt oder Land, ob Berggemeinde oder Weltdorf, ob deutschsprachig oder französisch sprechend, welche konfessionelle Ausrichtung auch immer: Es muss uns etwas verbinden, was über den alltäglichen Dingen, über wandelbaren Gesetzen, über den Niederungen der politischen Grabenkämpfe, über den profanen Interessen einzelner Gruppierungen steht. Die Schweiz schafft ihre Identität nur über die Geschichte. Umso bedeutsamer ist ihre ständige Bewusstwerdung. Und umso schöner ist ein solcher Tag wie heute, wo wir erkennen, was uns dieses alte Bekenntnis gemeinsam geschenkt hat – und zwar überall, ob in Mont-sur-Rolle, Uster, Kerns oder Oberwald: Unsere freie Schweiz.

25.07.2006

Die Kirchen reden schön, doch sie machen nichts

Das revidierte Asylgesetz ist unmenschlich und schafft mehr Sans-Papiers – sagen die Kirchen und opponieren vehement gegen die Vorlage. Das revidierte Asylgesetz verhindert Missbräuche und wahrt die humanitäre Tradition – sagt Bundesrat Christoph Blocher und bezichtigt die Kirchen der Heuchelei. Ein Gespräch. 25.07.2006, Saemann, Matthias Herren, Martin Lehmann Herr Blocher, dem revidierten Asylgesetz erwächst grosse Opposition, gerade auch von Seiten der Kirchen. Sie sind Pfarrerssohn und Pfarrersbruder – ärgert Sie das? Ich habe keine Mühe mit Menschen, die anderer Meinung sind als ich. Was mich hingegen erstaunt, ist die oberflächliche Opposition der Kirchen: Man bekommt fast den Eindruck, sie hätten das Gesetz gar nicht gelesen. Wie kommen Sie denn darauf? In einer kirchlichen Stellungnahme zum Asylgesetz war zu lesen, dass Asylsuchende ohne Reisedokumente inskünftig nicht mehr als Flüchtlinge aufgenommen werden. Das ist Blödsinn. Auch mit dem neuen Asylgesetz werden alle, die an Leib und Leben verfolgt sind, in der Schweiz aufgenommen – mit oder ohne Ausweis. Die Kirchen machen sich im Asylbereich für den Schutz aller Menschen stark – sie setzen sich dafür ein, dass auch illegal Anwesende hier bleiben. Damit verunmöglichen sie, dass echte Flüchtlinge aufgenommen werden. Das ist heuchlerisch. Die Kirchen reden schön, doch sie machen nichts. «Christ sein heisst nicht christlich schwätzen», hat Zwingli gesagt. Mit Verlaub, immerhin setzen sich die Kirchen an vorderster Front und ganz praktisch für Asylsuchende ein… Dagegen habe ich nichts. Aber sie sorgen nicht dafür, dass in der Schweiz jene aufgenommen werden, die wirklich verfolgt sind – und die anderen gar nicht erst kommen. Wo ist da die Verantwortung? Das ist aber bisweilen schwierig auseinander zu halten. Über die Aufgabe der Kirche hat ein Theologe einmal gesagt: «Lieber dreimal zu viel für die Schwachen eintreten als einmal zu wenig, lieber unangenehm laut die Stimme erheben, wo Recht und Freiheit gefährdet sind, als etwa angenehm leise.» – Wissen Sie, von wem das Zitat stammt? Nein, doch es ist gut. Es ist von Karl Barth, einem Theologen, der Ihnen, wie wir hören, sehr viel bedeutet. Ich habe dem Satz nichts beizufügen und rufe die Kirchen auf, danach zu handeln. Aber das tun sie doch gerade – z.B. mit ihrem Widerstand gegen das Asylgesetz: Sie stehen für die Schwachen ein. Wer sind die Schwachen? Unter anderen jene Menschen, die aus Ländern kommen, wo Not herrscht. Dann müssten die Kirchen konsequent sein und für die Aufnahme aller plädieren, denen es schlechter geht als uns. Aber Sie wissen so gut wie ich, dass das nicht geht. Nicht einmal die Kirchen sind der Meinung, es solle kommen, wer wolle. Aber sie befürchten, dass mit den Verschärfungen die Menschenwürde mit Füssen getreten wird. Von welchen Menschen? Von jenen, die in der Schweiz ein Asylgesuch stellen… ...und keine Flüchtlinge sind. Wie wollen Sie das wissen? Behaupten Sie, dass der Staat Flüchtlinge zurückschickt? Seit 1964 haben wir 530000 Asylgesuche behandelt, 165000 Menschen wurden aufgenommen. Mir ist nur ein Fall bekannt, wo wir jemanden nicht hätten zurückschicken sollen. Er bekam bei der Rückkehr eine unverhältnismässige Gefängnisstrafe. Darauf haben wir die Rückführung in dieses Land eingestellt. Menschenrechtsorganisationen haben weit mehr Fälle dokumentiert. Wie wollen Sie mit dem neuen, noch schärferen Gesetz garantieren, dass an Leib und Leben bedrohte Menschen auch weiterhin aufgenommen werden? Wie gesagt: Mir sind keine anderen Fälle bekannt. Aber wo Menschen Verantwortung tragen, kann man nie ganz ausschliessen, dass Fehler passieren. Garantieren kann ich aber, dass es auch künftig nicht zu mehr Fehlentscheiden kommen wird. Auch im neuen Asylverfahren sind sehr viele Sicherungen eingebaut. Sie verkaufen die Asylgesetzrevision als Stärkung der humanitären Tradition der Schweiz… …ich verkaufe nichts – ich bitte Sie, die Ernsthaftigkeit dieser Vorlage anzuschauen! Das Ziel dieser Revision ist es, die humanitäre Tradition der Schweiz zu bewahren – und Missbräuche zu verhindern. Damit die Bevölkerung die Aufnahme von Flüchtlingen weiter unterstützt, müssen wir konsequenter gegen den Asylmissbrauch vorgehen – denken Sie an die Schlepper, an die Kriminellen. Das wird mit dem neuen Asylgesetz möglich. Tatsächlich werden die Hürden massiv erhöht: Wer ohne Papiere einreist, auf dessen Asylgesuch wird gar nicht mehr eingetreten. Und reichte bislang ein Hinweis auf Verfolgung, muss sie neu glaubhaft belegt werden. Nochmals: Ich bitte Sie, das Gesetz zu lesen! Echte Flüchtlinge erhalten weiterhin Asyl, mit oder ohne Papiere. Aber es ist heute so, dass ein grosser Teil jener Asylsuchenden, die keine Flüchtlinge sind, ihre Ausweise vernichten oder verstecken. Sie weigern sich, zu sagen, wer sie sind und woher sie kommen. Wer heute die Ausweise fortwirft, ist gegenüber Asylsuchenden mit Reisedokumenten sogar im Vorteil. Das ist nicht richtig, und das müssen wir ändern, um nicht diejenigen zu bestrafen, die zur Zusammenarbeit bereit sind. Übrigens haben von den anerkannten Flüchtlingen rund achtzig Prozent einen Ausweis. Bei den Nichtflüchtlingen ist es umgekehrt. 48 Stunden, um die Papiere zu beschaffen: Das ist sehr kurz – auch im internationalen Vergleich. Wenn jemand seine Papiere wegwirft, reichen auch zwei Stunden. Und wenn einer glaubhaft erklären kann, warum die Papiere fehlen, kommt er weiterhin ins Verfahren – selbst dann, wenn Zweifel bestehen. Dieses Vorgehen gibt Gewähr, dass alle echten Flüchtlinge aufgenommen werden. Jeder Entscheid, ob Nichteintreten oder Abweisung, kann bei der Asylrekurskommission angefochten werden. Wer aber einen negativen Bescheid erhält, muss das Land verlassen, wenn er nicht vorläufig aufgenommen wird. Seit der Einführung des Sozialhilfestopps für Personen mit rechtskräftigem Nichteintretensentscheid im Frühjahr 2004 ist jedenfalls die Anerkennungsquote bei den Flüchtlingen von sieben auf fünfzehn Prozent gestiegen – weil weniger unechte Flüchtlinge und weniger illegale Einwanderer kommen. Und der Prozentsatz jener, die untergetaucht sind? Kirchen befürchten, dass dieser steigt, Hilfswerke sprechen gar davon, das neue Gesetz sei eine «Sans-Papier-Fabrik», und neuerdings opponieren auch Stadtregierungen gegen die Vorlage. Die Städte waren schon dagegen, als man beschloss, Leuten mit Nichteintretensentscheid nur noch die Nothilfe auszurichten. Die Ängste sind aber nicht gerechtfertigt. Die Ergebnisse aus dem Monitoring zeigen das Gegenteil: Nur rund ein Drittel aller Personen mit einem Nichteintretensentscheid haben Nothilfe bezogen, mehr als die Hälfte sind nie in Erscheinung getreten. Es konnte zudem weder eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit noch ein Anstieg der Kriminalität festgestellt werden. Personen mit einem Nichteintretensentscheid sind im Bereich der Kriminalität nicht problematischer als andere Personen aus dem Asylbereich. Und wie erklären Sie sich das? Wer hier mit Sozialhilfe einigermassen gut lebt, geht nicht gerne heim, das ist klar. Doch diese Leute müssen gehen, und darum bekommen sie nach dem ablehnenden Entscheid nur noch Nothilfe. Illegales Verhalten kann man nicht noch mit grosszügiger Sozialhilfe belohnen. Warum ist eine weitere Verschärfung des Asylgesetzes überhaupt nötig? Wir stimmen über die nunmehr achte Revision ab, über ein Gesetz, das weiter geht als die 2002 abgelehnte SVP-Asylmissbrauchsinitiative, in einer Zeit, in der die Zahl der Asylgesuche kontinuierlich abnimmt – und sogar Sie reden von Erfolgen im Asylwesen. Es gibt Erfolge, ja, aber es gibt immer noch grosse Probleme. Tausende weigern sich, ihre Identität offen zu legen, oder vernichten ihre Ausweispapiere. Dank einem strafferen Verfahren und dank der ruhigen Lage in Europa hatten wir teilweise Erfolg. Nach wie vor aber suchen wir die Papiere für 7000 Personen. Schlussfrage, Herr Blocher: Angenommen, ein Pfarrer hat sich nach der Lektüre dieses Interviews von Ihrer Argumentation überzeugen lassen und möchte die Thematik auch im Gottesdienst aufgreifen – welchen Bibeltext würden Sie ihm für die Sonntagspredigt empfehlen? Man findet für jede Situation und Argumentation einen passenden Bibeltext, da braucht es keine Empfehlung von mir. Worüber würden Sie denn predigen? Über die Verantwortung für die Gemeinschaft. Oder über die Nächstenliebe: Dass wir jemanden abweisen müssen, steht nicht im Widerspruch zur Nächstenliebe. Meinen Sie, eine Familie, die abgewiesen wird, aber lieber hier bleiben würde, tue mir nicht Leid? Es ist schwerer, Nein zu sagen; ich möchte die Leute auch lieber hier behalten. Aber wir dürfen den Blick aufs Ganze nicht verlieren, und darum muss man Verantwortung übernehmen und Menschen auch zurückweisen, wenn es nötig und zumutbar ist. Man tut es für diejenigen, die unsere Hilfe dringend brauchen!

10.07.2006

Wenn Sehnsucht auf den Holzweg führt

Rede von Bundesrat Christoph Blocher vom 10. Juli 2006 vor dem 9. Holzbildhauersymposium in Brienz zum Thema "Sehnsucht" 10.07.2006, Brienz Es gilt sowohl das mündliche wie das schriftliche Wort, der Redner behält sich vor, auch stark vom Manuskript abzuweichen. Liebe Symposium-Teilnehmer Es ist mir eine Freude Ihnen, die Sie hier an einem exklusiven Symposium teilnehmen, die Grüsse des Bundesrates zu überbringen. Wie wird aus einem Stück Holz Sehnsucht? Das diesjährige Brienzer Symposium hat sich kein einfaches Thema gesetzt: Holzbildhauer aus aller Welt sollen ihre Vorstellung von „Sehnsucht“ in ein Kunstwerk umarbeiten. Was heisst Sehnsucht? Nun gehört Sehnsucht zu jenen Wörtern der deutschen Sprache, die sich kaum übersetzen lassen. Neben „Weltschmerz“ nannte der Theaterregisseur und Autor George Tabori „Sehnsucht“ als einen jener fast mystischen Begriffe im Deutschen, bei denen es keine befriedigende Entsprechung in einer anderen Sprache gebe. Tabori muss es wissen: 1914 in Ungarn geboren, musste er als Jude vor den Nationalsozialisten fliehen, nahm die britische Staatsangehörigkeit an, lebt heute in Deutschland und hat insgesamt in 17 verschiedenen Ländern gearbeitet. Es ist für uns Muttersprachler schon schwierig, die Sehnsucht zu beschreiben. Ein liebendes Verlangen paart sich mit der schmerzlichen Gewissheit, das Ersehnte wohl nie ganz zu erhaschen. Ja, man ahnt sogar, dass die Erfüllung eines sehnlichen Wunsches wohl auch umgehend die Zerstörung des Ersehnten bedeuten würde. Der englische Dichter Oscar Wilde hat das Dilemma einmal treffend beschrieben. Es gebe zwei Tragödien im Leben: Die Nichterfüllung eines Herzenswunsches – und die Erfüllung eines Herzenswunsches. Der Begriff Sehnsucht vermag diesen Konflikt in sich selbst darzustellen. Trotz dieser rationalen Einwände kann der einmal von der Sehnsucht erfasste Mensch nicht von seinem Verlangen lassen. Es ist diese in einem Wort zusammengebrachte enge Verbindung von brennendem Verlangen (dem Sehnen) und der Sucht , die eben hinter jedem Verlangen lauert und dieses in eine zerstörerische, gegen sich selbst gerichtete Kraft umschlagen lassen kann. Wenn es denn so ist, dass der Begriff „Sehnsucht“ unübersetzbar ist – in den meisten Sprachen behilft man sich mit dem Wort „Verlangen“ (désire, desire) oder „Nostalgie“ (nostalgie, nostalgia) – heisst das aber noch lange nicht, dass die Sehnsucht als Gefühl ein den deutschsprachigen Menschen vorbehaltener Zustand wäre. Das Gefühl der Sehnsucht ist universal. Und gerade in der nonverbalen Ausdrucksweise – in der Malerei, durch die Musik, in der darstellenden Kunst – lässt sich dieser universale Charakter am besten belegen. Etwa im portugiesischen Musikstil Fado, der die Armut besingt und sich nach besseren Zeiten sehnt. Ich persönlich bin ein grosser Liebhaber des Schweizer Malers Albert Anker. Auch in seinen Werken, in der häufigen Darstellung junger Menschen, zeigt sich die Sehnsucht nach der unschuldigen Ernsthaftigkeit, wie sie nur Kinder in dieser Unmittelbarkeit ausstrahlen. Umso gespannter bin ich auf die hier zusammengetragenen Werke. Zum Seitenanfang Zum Seitenanfang Nun haben Sie mich aber als Politiker, als Vertreter der Regierung eingeladen, hier ein paar begrüssende Worte zu sprechen. Und so habe ich mich zu fragen: Ist die Sehnsucht überhaupt eine brauchbare Kategorie in der Politik? Ich meine, ja. Und ich meine, nein. Natürlich muss auch der Politiker vom Verlangen, von der Sehnsucht nach einer besseren Welt getragen sein. Er wäre ein armseliger Mensch, würde ihm dieser Wunsch fremd sein. Aber nie dürften wir die Politik in dem Sinne als Kunsthandwerk verstehen, dass wir die Welt einem Holzblock gleich mit dem Beil so herrichten, so gestalten, wie wir sie uns wünschten. Damit würden wir das Lebendige, die Wirklichkeit, das Sein missachten. Es sind die Ideologen – und sie haben es in der Geschichte zur Genüge bewiesen – die mit dem Beil die Gesellschaft zurechthauen wollen und damit letztlich das Leben selbst gefährden. Denn entscheidend in der Politik ist der Lebensbezug: Auf das Leben (die Wirklichkeit) kommt alles an! Denn nur das Leben selbst ist unser Auftrag! Gleichzeitig ist dies eine Absage an alle Ideologien und Visionen. Im Staat und der Politik geht es darum, dass man als Bürger leben kann. Ein schlichter, aber umso erhabenerer Auftrag. Darum ist die Freiheit das Mass der politischen Arbeit. Denn, wo die Freiheit ist, kann sich auch die Sehnsucht entfalten und wo die Freiheit herrscht, kann der einzelne Mensch nach der Erfüllung seiner Sehnsüchte streben. Diese persönliche Freiheit ist dem Menschen unbedingt zu lassen Und nicht durch die Politik – den Staat zu unterbinden! Ich habe es in all den Jahren immer als grösste Kunst der Politik erachtet, die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie ist. Es mag ein pragmatischer, wenig berauschender Ansatz sein: Aber wer die Missstände beseitigen will – damit wieder Platz ist für das Freie und Lebendige – muss diese Missstände erst erkennen. Die Sehnsucht nach besseren Verhältnissen bekommt man gratis dazu. Wenn ich im Titel meines Referats nun schreibe, dass die Sehnsucht auch auf den Holzweg führen kann, ist das eine gewollte Doppelsinnigkeit. In der Politik ist die Gefahr gross, dass die Sehnsucht nur als verkappte Ideologie daherschleicht, die dem Leben feindlich gegenüber steht. Der Holzweg – das weiss jeder, der in einem waldreichen Land aufgewachsen ist – ist eben nur ein vermeintlicher Weg. Er führt zu keinem Ziel, sondern endet plötzlich mitten im Gebüsch. Es waren Holzfäller, die ihre gefällten Baumstämme dorthin schleppten und so eine Schneise im Wald schufen. Wenn aber aus diesen Baumstämmen nun Kunstwerke entstehen, so haben wir es mit einem Weg des Holzes zu tun, dem wir als Betrachter fasziniert folgen wollen. Letztlich versteht jeder unter Sehnsucht etwas anderes, auch wenn das Grundgefühl ein ähnliches ist. Aber den Zustand, wonach man sich sehnt oder den Ort, wohin man sich sehnt, wird bei jedem von uns ein anderer sein. So sieht eben die vielgestaltige Wirklichkeit aus, die sich nach dem Lebendigen ausrichtet. Dieser Sehnsucht nach dem Leben selbst können und dürfen wir uns alle ergeben.