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22.10.2006

Gedenkfeier 50 Jahre Ungarn-Aufstand: Sorge tragen zur Freiheit

Festrede von Bundesrat Christoph Blocher im alten Börsensaal in Zürich Zürich. An der Gedenkfeier erinnerte Bundesrat Christoph Blocher an die Opfer des Ungarn-Aufstands und daran, mit wieviel Sympathie und Solidarität die 14'000 ungarischen Flüchtlinge in der Schweiz empfangen worden seien. Er lobte die gute Integration der Flüchtlinge und mahnte die Schweizer, zur gemeinsam errungenen Freiheit Sorge zu tragen. 22.10.2006, Zürich Sehr geehrte Damen und Herren Sorge tragen zur Freiheit Der Ruf nach Freiheit Als im Oktober 1956 Zehntausende Menschen in Budapest auf die Strasse gingen, äusserte sich ihr Protest in einem eindrücklichen Akt: Die Demonstranten holten das Stalin-Denkmal von seinem Sockel. Mit dem symbolischen Sturz des Diktators wollten die Ungarn auch ganz konkret das Ende der sozialistischen Knechtschaft herbeiführen. Der Ruf nach Freiheit und demokratischen Reformen erfüllte das Land. Es gibt geschichtliche Momente, die sich im Gedächtnis regelrecht einbrennen. Als sich die Ungarn 1956 erhoben, blickte die westliche Welt mit Sorge und grosser Anteilnahme über den Eisernen Vorhang. Für jeden Schweizer wurde augenfällig demonstriert, was es heisst, in einem freiheitlichen Land leben zu dürfen – oder eben nicht. Der Aufstand der Ungarn war auch für die so ganz anders geartete Schweiz ein tief empfundener Kampf für die Freiheit und Demokratie. In diesem Sinn liess sich damals auch der Schweizerische Bundesrat verlauten: "Mit Bestürzung hat der Bundesrat die Ereignisse, die sich in Ungarn abspielen, zur Kenntnis genommen. Der Bundesrat weiss sich einig mit dem Schweizervolk, wenn er seinem Schmerz Ausdruck gibt darüber, dass die Unabhängigkeit, Freiheit und das Selbstbestimmungsrecht des mit der Schweiz befreundeten ungarischen Volkes unterdrückt werden." Drei Schweigeminuten Einen Monat später, am 20. November 1956, stand die ganze Schweiz im eigentlichen Wortsinne still. Das galt auch für den sechzehnjährigen Christoph Blocher, der gerade mit dem Fahrrad durch das Zürcher Weinland in die landwirtschaftliche Fortbildungsschule unterwegs war. Die Bevölkerung gedachte mit drei Schweigeminuten der Opfer der brutalen Niederschlagung des Ungarnaufstandes. Ich höre heute noch, wie die Kirchglocken durch die stille Winterlandschaft klangen. Die Schweiz, alle Autos, alles was unterwegs war, stand still. Uns Jungen rollten die Tränen über die Wangen! Es kam vieles zusammen in diesem Herbst 1956. Unruhen in Polen, die Suez-Krise im Nahen Osten, Chruschtschows Raketendrohungen gegen Frankreich und Grossbritannien und dann die sowjetischen Truppen in Budapest. Im Schatten dieser Ereignisse ergriffen über 200'000 Ungarn die Flucht und fanden eine erste Aufnahme in Österreich. Von dort aus verteilten sich die Menschen im restlichen Europa. Rund 12'000 kamen in die Schweiz und fast alle Zeitzeugen bestätigen: Ihnen brandete eine uneingeschränkte Welle der Solidarität und Sympathie entgegen. Unbürokratische Hilfe Der Bundesrat stellte damals für die Aufnahme der ungarischen Flüchtlinge keine Bedingungen, wie dies die Schweiz im Zeichen kollektiver Not stets getan hat. Die Aufnahme erfolgte rasch, unbürokratisch und ohne Prüfung individueller Fluchtgründe. Die Menschen wurden allesamt als politische Flüchtlinge oder als vorläufig Aufgenommene mit sofortiger Arbeitsbewilligung anerkannt. Die Behörden durften dabei auf die Unterstützung der Bevölkerung zählen. Von Sympathie getragen In unserem Gedenken sollten wir einen Umstand nicht vergessen: Bei der Aufnahme der Ungarn handelte es sich nicht einfach um einen von den Behörden verordneten Bürokratieakt. Nein, die Schweizer Bevölkerung fühlte sich mit dem bedrängten Kleinstaat auf ganz besondere Weise verbunden: Wohltätigkeitskonzerte, Kerzenaktionen, Spendenaufrufe erfolgten. Die Zürcher Tageszeitungen erstellten während sechs Monaten ein Gratis-Mitteilungsblatt auf Ungarisch, den "Hirado" (Anzeiger). Die Flüchtlinge wurden in den Bahnhöfen von Schweizer Bürgern empfangen, die keineswegs dorthin bestellt waren. Die Ungarn-Sympathie ging sogar soweit, dass sich die Schweiz aus Protest gegen die sowjetische Vorgehensweise zum Boykott der Olympischen Spiele, die vom 22. November bis zum 8. Dezember 1956 stattfinden sollten, entschied. Man muss sich heute, 50 Jahre nach dem Aufstand und 17 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer und der Öffnung des Eisernen Vorhanges, wieder in Erinnerung rufen, was es heisst, in einer freien Demokratie zu leben. Den Schweizer Bürgerinnen und Bürgern im Jahr 1956 musste diese Wertschätzung nicht speziell beigebracht werden. So schrieb mir angesichts des 40. Jahrestages im Jahre 1996 ein ungarischer Freund: "In einem kleinen Land kämpften wir – damals junge Menschen – gegen Tyrannen. Und wir kämpften für all das, was den Schweizern höchstes Gut war: Unabhängigkeit, Neutralität und Freiheit!" Vorbildliche Integration Die Eingliederung der Ungarn geschah deshalb so vorzüglich, weil die Verfolgten sich ohne Einschränkung auf ihr neues Heimatland einliessen und der Wunsch gross war, sich in dieser neuen, freiheitlichen Gesellschaftsordnung zu bewähren. Wir können der jetzt erschienen Gedenkschrift "Flucht in die Schweiz" entnehmen, dass sich laut einer Umfrage 98,6 Prozent der Befragten als gut bis sehr gut in der Schweiz integriert sieht. Das ist eine Erfolgsgeschichte – nicht nur für unser Land – sondern vor allem für jeden einzelnen der ehemaligen Flüchtlinge. Auch schwierige Momente Wir wollen aber trotz der geglückten Integration nicht vergessen: Jeder Flüchtling brachte sein persönliches Schicksal mit: Den Verlust der Heimat. Die Trennung von der Familie und Freunden. Ein abrupter Schnitt von der ungarischen Kultur und Sprache. Auch die Eingliederung selbst forderte die Betroffenen. Jeder Integrationsprozess ist für die Beteiligten mit Schwierigkeiten, Erwartungen und Enttäuschungen verbunden. So war es auch bei den Ungarn, die durch ihre Flucht aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen wurden. Dabei sind (wie im Bericht des Eidgenössichen Justiz- und Polizeidepartements vom 7. März 1957 über die Aufnahme der ungarischen Flüchtlinge ausgeführt wird) "zwei Welten" aufeinander gestossen: Die Flüchtlinge mussten sich nach den Erfahrungen in einer Diktatur an die Verhältnisse in der Schweiz anpassen, eine Arbeitsstelle suchen, eine Wohnung finden, die Landessprachen erlernen, sich an das für sie neue politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Umfeld in der Schweiz gewöhnen. Kurz: Jede Freiheit ist eine Chance, aber auch die Pflicht, ein Leben in Eigenverantwortung zu führen. Frei und neutral Wie bei Volksaufständen üblich, hatten die Aufständischen in Ungarn keine Zeit für ein detailliertes politisches Programm. Ein solches wäre wahrscheinlich auch nicht zustande gekommen. Nur eines verband die Widerstandskämpfer: Die Einigkeit in der Ablehnung des Terrors, der Bevormundung, der täglichen Propagandalügen, der servilen Anbetung der sowjetischen Macht. Beweggrund des Aufstandes war die schwer gekränkte nationale Würde. Im Willen zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit, der Freiheit und Neutralität waren sich Linke wie Rechte einig! Die geflüchteten Ungarn erhielten damals die Möglichkeit, ein Land auszuwählen, in dem sie sich niederlassen wollten. Abgesehen von persönlichen Motiven nannten jene Befragten, die sich für die Schweiz entschieden, folgende Gründe: * Die schweizerische Demokratie * Die schweizerische Neutralität * Die Bildungs- und Berufsmöglichkeiten Man könnte die Auswahl der Schweiz also auch als eine Art Auszeichnung verstehen. Darum verbindet sich der Gedenktag zum Ungarnaufstand von 1956 mit einem Auftrag für die Gegenwart: Tragen wir Sorge zu unserer Demokratie, zu unserer Neutralität und zu unserer liberalen Wirtschaftsordnung. Oder in einem Satz: Tragen wir Sorge zu unserer gemeinsam errungenen Freiheit. Die Ungarn in der Schweiz haben erlebt, was passiert, wenn man diese hohen Güter preisgibt. Die Ungarn haben damals zwar äusserlich eine Niederlage einstecken müssen. Doch die verlorene Schlacht bereitete den späteren Sieg vor. Sie mussten allerdings noch 30 Jahre bis zur Befreiung warten! Der heutige Gedenktag sei auch uns allen ein Mahnmal!

21.10.2006

Die Partei der Grundsätze – Warum es eine starke SVP im Bundesrat braucht

Ansprache an der Delegiertenversammlung der SVP Schweiz in Fribourg von Bundesrat Christoph Blocher 21.10.2006, Freiburg Freiburg. Es brauche eine starke SVP im Bundesrat, weil diese Partei gute Grundsätze vertrete – so äusserte sich Bundesrat Christoph Blocher an der Delegiertenversammlung der SVP Schweiz. Gute Lösungen müsse man erkämpfen und erstreiten, dazu brauche es starke Vertreter in allen Parteien. Andernfalls habe die Konkordanz keinen Sinn. Es gilt sowohl das mündliche wie das schriftliche Wort, der Redner behält sich vor, auch stark vom Manuskript abzuweichen. Die Partei der Grundsätze Warum braucht es eine starke SVP im Bundesrat? Nehmen wir die Frage auseinander! 1. Warum hat die SVP Anrecht auf eine Zweier-Vertretung im Bundesrat? * Weil wir die wählerstärkste Partei der Schweiz sind. * Weil in unserem Konkordanzsystem die Parteien gemäss ihrer Stärke im Bundesrat vertreten sein sollen. Das ist die rein mathematische Seite der Frage. Die kann jeder nachvollziehen. Wenn er bereit und fähig ist, auf zwei zu zählen. 2. Warum braucht es eine starke SVP im Bundesrat? Ich muss die Frage andersherum stellen: Wer will denn eine schwache SVP im Bundesrat? Ich nicht. Sie nicht. Wir nicht. Aber unsere Gegner wollen eine schwache SVP im Bundesrat. Aber wir machen ja nicht Politik für unsere Gegner. Sondern wir machen Politik für die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes. Und das ist ziemlich genau das Gegenteil der Politik unserer Gegner. Darum müssen wir auch das Gegenteil tun. Dazu braucht es Stärke! Und eine starke SVP in der Regierung. Warum rufen die Linken und Grünen lautstark nach einer schwachen SVP im Bundesrat? Nur schwache Parteien können starke Gegner nicht ertragen. Ich meine, die Zeiten sollten vorbei sein, wo man, wie etwa in sozialistischen Regimes, den Gegnern mundtot macht, ihn ein- oder aussperrt. Nein, das schweizerische System lebt davon, dass wir alle Themen kontrovers behandeln. Dazu braucht es unterschiedliche Köpfe. Ich habe auch als Unternehmer gelernt: Man muss jede Frage möglichst von allen Seiten betrachten. Möglichst alle Alternativen durchdenken. Jedes Problem und jede Lösung muss kritisch durchleuchtet werden. Das ist die Grundlage des Erfolgs. Wenn alle gleich denken, erreichen sie nur eine Pseudeo-Harmonie. Eine Pseudo-Harmonie ist das Gegenteil einer guten Lösung. Gute Lösungen muss man sich erarbeiten. Gute Lösungen muss man erkämpfen und erstreiten. Das gilt im Unternehmen – und auch in der Politik. Dazu braucht es starke Vertreter in allen Parteien! Sonst macht die Konkordanz keinen Sinn. Wenn alle vier Bundesratsparteien die gleiche Meinung vertreten, brauchen wir nicht vier verschiedene Bundesratsparteien. 3. Warum braucht es die SVP? Warum braucht es eine starke SVP im Bundesrat? Weil wir gute Grundsätze vertreten. Die Grundsätze zählen. Wer als Politiker nicht weiss, wofür seine Partei grundsätzlich steht, wird in den konkreten Fragen immer scheitern oder die falsche Politik machen. Wer seinen Kompass nicht richtig einstellt, wird seinen Weg nicht finden. Andererseits: Ist der Kompass erst einmal richtig eingestellt, kann die Lösung im konkreten Fall so falsch nicht sein. Der Hauptfehler in der Politik liegt in der Regel darin, dass man vom Grundsatz abweicht! Darum ist es wichtig, die richtigen Grundsätze zu haben. Und ebenso wichtig ist es: An seinen Grundsätzen festzuhalten. Gegen alle Widerstände von aussen. Denn wenn die Gegner merken, dass eine Partei Grundsätze hat, sogar wichtige und richtige Grundsätze, dann wird diese Partei der Grundsätze aufs Erbitterste bekämpft. Das ist so. Und Sie wissen, wovon ich spreche. Ich weiss es auch. Denn eine Partei mit Grundsätzen – und erst noch eine, die diese verfolgt – ist für den Gegner gefährlich. Die SVP ist die wählerstärkste Partei der Schweiz. Damit haben wir einen Wählerauftrag zu erfüllen. Die Bürgerinnen und Bürger wählen uns, weil sie an unsere Grundsätze, an unsere Lösungen, an unsere Durchsetzungskraft, an unsere Politik glauben. Darum halten wir an unseren Grundsätzen fest: 1. Wir stehen für eine unabhängige Schweiz ein. Darum lassen wir uns nicht institutionell einbinden. Ein EU-Beitritt würde das Ende unserer Unabhängigkeit, das Ende unserer Neutralität, das Ende unserer direkten Demokratie bedeuten. Dafür gilt es zu kämpfen. 2. Wir wollen eine unabhängige Schweiz, damit wir unsere Handlungsfreiheit bewahren können. Nur so können wir eine optimale Politik und optimale Gesetze für unseren Kleinstaat machen. Wir setzen auf die Stärken der Schweiz: Schlanker Staat, wenig Regulierungen, tiefe Steuern, möglichst viel Eigenverantwortung. 3. Ohne die SVP und ohne die direkte Demokratie wäre die Schweiz schon lange Mitglied der Europäischen Union. Man hat uns schon 1992 bei der EWR-Debatte schlimme Konsequenzen vorausgesagt. Der damalige Staatssekretär Franz Blankart sagte, wir würden die EU nach fünf Jahren auf den Knien bitten, „uns um jeden Preis als Mitglied aufzunehmen“. Wie gut, dass so viele Propheten immer wieder durch die Zukunft widerlegt werden. Heute – d.h. 14 Jahre nach dem EWR-Nein – hat eine Studie des WEF (World Economic Forum) ergeben, dass die Schweiz das wettbewerbsfähigste Land der Welt sei. Dies ohne EWR und ohne EU. Aber dank unserer Unabhängigkeit, dank einer starken SVP, dank der direkten Demokratie, dank der Standhaftigkeit unserer Bürgerinnen und Bürger. Dank Ihnen, liebe Delegierte der Schweizerischen Volkspartei. Wenn die SVP ihre Arbeit richtig macht, dann bringt sie ihre Grundsätze überall ein. In den Gemeinden, Kantonen und im Bund. Politik hat man dort zu machen, wo es sich aufdrängt, in den Parlamenten und Exekutiven, aber vor allem auch mit den Mitteln der direkten Demokratie. Darum bringen wir das Gedankengut der SVP auch in den Bundesrat ein. Und zwar mit voller Überzeugung und vollem Einsatz. 4. Der Auftrag der SVP Es nützt nichts, eine Alibi-SVP im Bundesrat zu haben. Wir wollen keine „Wir-sind-im-Bundesrat-und-das-genügt-uns-SVP“. Die Wahl in ein Gremium heisst: Jetzt beginnt die Arbeit. Die Wahl in den Bundesrat darf nicht das Ziel sein, um sich dann zurückzulehnen und das Amt und die Vergnügungen dieses Amts zu geniessen. Nein. Dann erreicht man mit der Opposition mehr. Mit der Wahl verbindet sich ein Auftrag der Bürgerinnen und Bürger. Und diesen Auftrag gilt es zu erfüllen. Dies bringt Bürde. Und wenn man es recht macht, dann mehr Bürde als Würde! Wir werden gewählt, weil wir für ein klar definiertes Parteiprogramm stehen. Wir werden gewählt, weil wir tun, wofür wir gewählt werden. Wir werden gewählt, weil wir Lösungen, Konzepte, Köpfe bieten. Wir werden gewählt, weil wir wissen, dass zuerst alle Probleme schonungslos auf den Tisch gehören. Angenehm kann diese Arbeit nicht sein! Unsere Stärke muss sein: Hinschauen. Wir orientieren uns an der Wirklichkeit. An den Fakten. Wir interessieren uns für die Bürgerinnen und Bürger und was sie beschäftigt. Wer die Wirklichkeit zum Massstab nimmt, muss auch sagen können, wo die Probleme liegen. In einer Demokratie muss es möglich sein, alle Themen auf den Tisch zu bringen. Auch die unbequemen Fragen. Darum halte ich die Meinungsfreiheit für die entscheidende Voraussetzung einer Demokratie. Besonders in der Schweiz, wo auch Sachthemen zur Abstimmung kommen. Hier muss jeder sagen können, was er denkt, ohne dass man ihn gleich verhaftet oder ohne dass er für seine Meinung Nachteile im beruflichen oder öffentlichen Leben befürchten muss. Die vergangenen Jahre führten zu einem Klima der Einschüchterung im Land. Wer eine andere Meinung hat, wird moralistisch abgeurteilt. Wer über Ausländerkriminalität spricht, wird sofort als Fremdenfeind abgestempelt oder gar mit dem Richter bedroht. Warum soll man nicht zugeben: Ja, wir haben Integrationsprobleme. Wer diese Probleme leugnet oder tabuisiert, löst die Probleme nicht. Im Gegenteil: Er verschärft sie. Die Grundlage einer Demokratie ist immer die Meinungsäusserungsfreiheit. Diese Meinungsfreiheit ist zurzeit weltweit bedroht. Zum Beispiel durch islamische Extremisten, die auf gewaltsame Einschüchterung setzen. Aber die Meinungsfreiheit kann nur jemand glaubwürdig vertreten, der sich nicht zu einer moralistischen Koalition zählt, die ganze Tabuzonen errichtet, um wichtige Debatten zu unterdrücken. Das war bei den Asyl-Missständen jahrelang so. Das ist bei der Ausländerkriminalität so. Das war beim IV-Missbrauch der Fall und ist es zum Teil heute noch. Das ist bei der Schuldenpolitik der öffentlichen Hand so. Das ist bei der Finanzierung unserer Sozialwerke so. Es wird tabuisiert. Es wird moralisiert. Es wird die Wirklichkeit geleugnet. So kommen wir nicht weiter. Man muss die Tatsachen aussprechen können. Man muss seine Meinung sagen können. Das sind wir einer direkten Demokratie schuldig. Das gehört zum Freiheitsverständnis unserer Schweiz. Es ist Aufgabe der SVP, dies aufzudecken. Schonungslos. Die Wirklichkeit ist oft unangenehm. Warum sind wir stark geworden? 1. Weil die SVP in den dunklen 90-er Jahre Grundsätze vertrat. Gegen den Modetrend. 2. Weil die SVP die Wirklichkeit sehen wollte. 3. Weil die SVP damit Probleme sehen und sie auch benennen konnte. 4. Weil die SVP Lösungen bot. Andere als die anderen. 5. Aufbauend auf dem Boden der Wirklichkeit, den Problemen offen in die Augen schauend, die Lösungen unbeirrt vertretend – trotz aller Anfeindungen – das hat die SVP stark gemacht. Wir konnten den Bundesrat und die Mehrheit des Parlaments wenigstens für einen Teil unserer Lösungen gewinnen. Und schliesslich hat das Volk mit fast siebzig Prozent dem neuen Asylgesetz zugestimmt. Ein Lichtblick! Sie sehen: Es lohnt sich. Es braucht Zeit. Aber es lohnt sich. Das Wichtigste ist Durchhalten. Und an unseren Grundsätzen festhalten. Wer seinen Kompass richtig stellt, wird seinen Weg finden. Weil er ein Ziel erreichen will. Dafür nimmt man auch einen beschwerlichen Weg in Kauf. Denn wir wollen Ziele erreichen. Dafür engagieren wir uns. Meine Damen und Herren, ich verstehe nicht, dass sich da und dort in der SVP Selbstzufriedenheit und Anerkennungssucht breit machen. Das erfüllt mich mit Sorge. Merken Sie sich: Je weniger Sie an sich denken, desto mehr denkt der Bürger an Sie! Halten Sie durch. Halten Sie an unseren Grundsätzen fest. Dann kommt es gut.

20.10.2006

Was macht die schweizerische Wirtschaft erfolgreich?

Bundesrat Christoph Blocher an der Generalversammlung der Tessiner Handels-, Gewerbe- und Industriekammer in Lugano 20.10.2006, Lugano Lugano. "Handelsfreiheit setzt politische Handlungsfreiheit voraus" – diese Devise begründe den Erfolg der Schweizer Wirtschaft, liess Bundesrat Christoph Blocher an der Generalversammlung der Tessiner Handels-, Gewerbe- und Industriekammer verlauten. Wegen des Mangels an natürlichen Ressourcen sei die Schweiz von jeher auf den Handel angewiesen und mit anderen Ländern und Regionen vernetzt gewesen. Entscheidend sei, dass die Schweiz sich nie habe institutionell einbinden lassen. Es gilt sowohl das mündliche wie das schriftliche Wort, der Redner behält sich vor, auch stark vom Manuskript abzuweichen. Sehr geehrte Damen und Herren 1. Das Tessin – ein Glücksfall für den Rest der Schweiz Wenn immer Deutschschweizer sich über das Tessin äussern, drohen zwei Fallen. Die eine Falle ist die Romantisierung: Man spricht mit verträumtem Blick über die Valli, preist den Merlot und die gute Küche und wir staunen über das Miteinander von alpiner Welt und südlichem Flair: Hier die schneebedeckten Berge und gleich daneben die mediterranen Palmen und Kakteen. Der Deutschschweizer fährt ja ins Tessin, um sich tageweise als besserer Mensch zu fühlen. Die zweite Falle ist die Dämonisierung des Tessins. Sobald eine politische Unkorrektheit bekannt wird oder irgend eine behördliche Schlamperei, rümpft der gemeine Deutschschweizer seine Nase (die er in diesem Fall noch etwas höher trägt als normal) und sagt vielwissend: "Typisch Tessin". Das zeigt, man muss nicht unbedingt ins Tessin fahren, um sich als besserer Mensch zu fühlen. Sie kennen meine Meinung: Wir leiden in der Politik eher an zu viel Moralismus als an zu wenig. Wenn ich also in eine der beiden Fallen tappen möchte, dann mit vollem Bewusstsein in die erste. Ich bin der Ansicht, man soll das Tessin als das nehmen, was es ist: Eine glückliche Fügung für die ganze Schweiz. Die Schönheit der Schweiz ist ihre Vielfältigkeit und die Südschweiz stellt eine besonders gelungene Variation davon dar. Und Sie wissen gar nicht, wie oft mir ihr Kanton schon Freude bereitet hat bei Abstimmungen, besonders zu europapolitischen Fragen. Nie konnten die Kommentatoren einfach einen Graben zwischen der deutschen und der lateinischen Schweiz herbeireden. Denn hier unten widersetzte sich das Stimmvolk beharrlich allen Verlockungen des Mainstreams und sagte Nein, wo das Ja zur unabhängigen Schweiz bedroht war. 2. Politik, Staat und Wirtschaft Nun bin ich nicht hierher gekommen, um über die Befindlichkeiten von Deutschschweizern gegenüber dem Tessin und umgekehrt zu berichten. An einer Generalversammlung der Handels-, Gewerbe- und Industriekammer soll ein anderes Thema im Mittelpunkt stehen: Die Wirtschaft. Im heutigen Fall die Frage: "Was macht die schweizerische Wirtschaft erfolgreich?" Denn offenbar ist unsere Wirtschaft erfolgreich. Weil anders könnte man folgende Meldung gar nicht interpretieren: Eine umfangreiche, erst kürzlich erschienene Studie des World Economic Forum (WEF) setzte die Schweiz auf den ersten Rang als wettbewerbsfähigstes Land der Welt. Ich will hier jetzt nicht auf die näheren Faktoren eingehen – denn es gibt durchaus Bereiche, wo die Schweiz nur Mittelmass ist und diese beziehen sich vor allem auf staatliche Aufgaben. Nein, freuen wir uns vorbehaltlos an diesem ersten Platz und fragen wir uns gleichzeitig, warum die Schweiz so erfolgreich geworden ist. Der wichtigste Punkt ist: Ein Staat steht dann gut da, wenn möglichst viele Leute in der Wirtschaft tätig sind, und es ist gleich anzufügen: Die Menschen können dann mit Erfolg wirtschaftlich tätig sein, wenn der Staat sie möglichst gewähren lässt. Warum aber geht es der Schweiz denn – ich formuliere jetzt vorsichtig – weniger schlecht als anderen Ländern? Die Schweiz kennt schliesslich von der Natur her keinen Standortvorteil. Wir verfügen praktisch über keine natürlichen Ressourcen und Bodenschätze. Die Schweiz hat keinen eigenen, nennenswert grossen Binnenmarkt, kein Meeresanstoss usw. Das mag uns bedauerlich erscheinen. Aber nur auf den ersten Blick. Denn die Schweizer waren so von Anfang an gezwungen, auf anderen Gebieten zu reüssieren. Mit Geld und Geist. Mit Produkten und Präparaten. Mit Wissen und Kenntnissen. Wer über wenig natürliche Ressourcen verfügt, ist auf den Handel angewiesen. Die Schweiz war von jeher vernetzt mit anderen Ländern und Regionen. Wir haben seit jeher Handel getrieben, importiert, exportiert; aber – und das ist entscheidend – wir haben uns dafür nie institutionell einbinden lassen. Darum lautet die schweizerische Devise, die unseren Erfolg begründet: Handelsfreiheit setzt politische Handlungsfreiheit voraus. Wir sind ein weltoffenes Land – wobei die Welt über die Europäische Union hinausgeht. Weltoffenheit heisst aber nicht Vereinbarungen einzugehen, die unsere Souveränität einschränken! Die Unabhängigkeit ist die Grundlage. Sie ermöglicht uns, eine Politik zu betreiben und Gesetze zu erlassen, die optimal sind für unseren rohstoffarmen Kleinstaat. In diesem Rahmen konnte sich unser Staat herausbilden und mit ihm seine liberalen Säulen: die direkte Demokratie, der Föderalismus und die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger. In diesem Rahmen kommen auch unsere wirtschaftlichen Stärken zum Ausdruck. 3. Die Stärken der Schweiz Die Hauptstärken der Schweizer Wirtschaft sind nach wie vor: * wir haben einen flexiblen Arbeitsmarkt (immer im Vergleich zu den meisten europäischen Staaten) * wir haben qualifizierte und fleissige Beschäftigte (wir haben auch andere) * wir gewährleisten ein stabiles politisches Umfeld * wir haben in vielen Bereichen kein optimales, aber immerhin ein akzeptables Steuerklima * wir haben einen leistungsfähigen Finanzplatz, der die Unternehmen mit Krediten zu versorgen weiss * wir haben hochstehende öffentliche Infrastrukturen und * wir sind gegenüber dem Ausland offen. * Wir verfügen über innovative Unternehmen, was wohl am Wichtigsten ist. Wenn ich sage, dass wir einen flexiblen Arbeitsmarkt haben und dass die Beschäftigten qualifiziert und fleissig sind, heisst dies auch, dass wir in erster Linie wegen der Menschen, die hier arbeiten, Erfolg haben. 3.1. Flexibler Arbeitsmarkt Obwohl wir diese Flexibilität mit der Übernahme der Personenfreizügigkeit eingeschränkt haben, stehen wir etwas besser da. Vor allem wenn wir bedenken, was in andern Ländern der Kündigungsschutz bewirkt. Dort sieht der Staat die Beschäftigten als "Lohnabhängige". Und da dieser abhängig ist, muss notfalls der Staat dafür sorgen, dass er weiterhin Lohn bekommt, und nicht nur während einer beschränkten Zeit Lohnersatz wie bei uns mit der Arbeitslosenversicherung. Da der Staat diesen Lohn als notwendig erachtet, aber diese Notwendigkeit nicht erfüllen kann, überträgt der Staat in den umliegenden Ländern diese Verantwortung für die Weiterbeschäftigung von Angestellten an die Unternehmen, indem er ihnen strenge Kündigungsvorschriften auferlegt. Mit unserem schweizerischen Kündigungsschutz, ja mit der Arbeitsmarktregulierung generell, stehen wir glücklicherweise dem angelsächsischen Modell näher als dem kontinentaleuropäischen. So ernten wir die Früchte in Form einer vergleichsweise tiefen Arbeitslosigkeit und kennen gute Chancen der Wiedereinstellung nach einem Stellenverlust. 3.2. Qualifizierte und fleissige Beschäftigte Selbstverantwortung ist der Schlüssel zum Erfolg. Es ist wichtig, dass die Beschäftigten Mitarbeiter sind und nicht nur Befehlsempfänger. Das Wort "Mitarbeiter" bringt zum Ausdruck, dass sie am Erfolg des Unternehmens mitarbeiten. Dass die Schweizer fleissig sind, ist eine kulturelle Frage, dafür kann der Staat nichts. Aber der Staat kann den Leuten die Lust nehmen, fleissig zu sein. Zum Beispiel, indem er zu hohe Steuern einfordert und so den Tüchtigen straft. Wir haben eine Tendenz, Erfolg und Leistung mit einer Vielzahl von Abgaben und Steuern zu bestrafen und dafür Misserfolg und Bequemlichkeit mit einer ebenso grossen Zahl von staatlichen Leistungen zu belohnen. Ein solches Signal an die Bevölkerung ist verheerend für die Volkswirtschaft als ganzes. 3.3. Politische Stabilität Die selbständigen und selbstbewussten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind auch selbständige und selbstbewusste Bürgerinnen und Bürger. Dies ist neben unseren Institutionen ein wesentlicher Grund, dass sich die Schweiz durch hohe politische Stabilität auszeichnet. Mancher Wandel geht bei uns etwas zähflüssiger voran als in andern Staaten. Das stört zum Teil auch die Wirtschaft, die rasch auf neue Herausforderungen reagieren können muss. Wenn wir aber den Verantwortungskreis des Staates nicht zu gross machen, ist es kein Nachteil, wenn die politischen Institutionen Stabilität vermitteln. Dass die Mühlen des Gesetzgebers langsam mahlen, hat auch Vorteile. Schon manch unsinniges Gesetz ist bereits auf dem langen Entstehungsweg glücklich entschlafen. 3.4. Hochstehende öffentliche Infrastrukturen Im Infrastrukturbereich rühmen wir die hohe Qualität der öffentlichen Leistungen. Müssen wir hier, wo der Staat traditionellerweise als Unternehmer tätig war, etwas ändern? Ich meine ja. Wenn der Staat sowohl als Regulator und Mitbewerber in einem Markt auftritt, haben wir es mit einer heiklen Wettbewerbssituation zu tun. Denn der Staat ist ja nicht nur Konkurrent, er definiert auch die Spielregeln des Markts. Spieler und Schiedsrichter zu trennen, ist eine weise Devise. Und welche Rolle dem Staat zukommt, ist klar: Er sollte, wenn möglich, nicht Spieler, d.h. Unternehmer sein. Nur schon deshalb, weil neben ihm dann keine andere Instanz die Rolle des Schiedsrichters, d.h. des Regelsetzers, ausüben kann. 3.5. Akzeptables Steuerklima Unser Steuerklima ist gut, jedenfalls für die Unternehmen. Deshalb kommen immer wieder auch ausländische Firmen in die Schweiz. Sollte sich der Staat anders finanzieren, das heisst andere Steuern erheben? Sicher könnte man bei der Konsumbesteuerung etwas hinaufgehen und im Gegenzug die Einkommenssteuersätze etwas herunternehmen. Das würde voraussichtlich Wachstum bringen, ist aber politisch ein höchst schwieriges und unsicheres Manöver. Das Problem der Steuern muss deshalb weniger von der Seite der Steuerstruktur her angegangen werden. Man muss es von der Seite der Staatsquote her angehen, d.h. das Niveau der öffentlichen Ausgaben ist zu hinterfragen und herunter zu setzen. Jeder Franken, den der Staat weniger ausgibt, ist ein Franken mehr für die Bürgerinnen und Bürger, für die Unternehmerinnen und Unternehmer. Zudem darf die Steuerhoheit der Gemeinden und Kantone nicht angetastet werden. Nur die Steuerautonomie und damit die direkte Vergleichbarkeit der Steuersätze schafft den nötigen Druck auf die Politik, die Belastungen für die Bürgerinnen und Bürger zu verbessern. Gerade der Kanton Tessin hat gezeigt, dass eine zielgerichtete Entlastungspolitik und eine offensive Strategie bei der Besteuerung von Unternehmen zum Erfolg führt. So gehört das Tessin heute zu den attraktivsten Standorten, was sich vor allem auch über die Grenze nach Norditalien herumgesprochen hat. Und vergessen wir an dieser Stelle nicht, dass der Vater der Tessiner Steuerpolitik eine Mutter ist: Marina Masoni. Sie hat erkannt, dass die beste Politik für die Menschen eine gute Wirtschaftspolitik ist. Das Tessin steht heute im innerkantonalen Steuervergleich weit vorne. Gleichzeitig sind die Aufgaben und Ausgaben des Kantons konsequent hinterfragt worden. Das ist keine dankbare Aufgabe – wer in der Politik Bequemlichkeit sucht, geht andere Wege. Umso grösseren Respekt gebührt jenen, die das Undankbare tun. 3.6. Offenheit gegenüber dem Ausland Wenn wir schauen, welche Branchen in der Schweiz sich besonders dynamisch entwickeln, dann sind es vorab diejenigen, welche sich auf die globalen Märkte ausgerichtet haben: Banken, Versicherungen, Chemie und weite Teile der Maschinenindustrie. Gerade auch das Wachstum über Direktinvestitionen im Ausland ist ein wesentlicher Pfeiler der unternehmerischen Dynamik in der Schweiz. Dank dieser Entwicklung weitet sich das Angebot an qualifizierten Stellen bei uns aus, was der immer besseren Ausbildung der Bevölkerung entgegenkommt. 3.7. Gutes betriebliches Innovationsvermögen Internationalen Vergleichserhebungen zufolge ist die Schweizer Volkswirtschaft weiterhin auch eine der innovativsten. Wie in vielen andern Sektoren auch hat die Konkurrenz allerdings zur Schweiz aufgeschlossen. 4. Das Fundament des Erfolgs: Die Souveränität der Schweiz Trotz aller Einflussmöglichkeiten des Staates dürfen wir eines nicht vergessen: Der Staat kann Wachstum nur mitgestalten, aber nicht selber direkt verantworten. Mitgestalten heisst aber in erster Linie nicht behindern. Der Bundesrat trägt als Kollegium eine Verantwortung dafür, dass die Schweizer Wirtschaft stark ist. Bei vielen Determinanten des Wachstums kommt zusätzlich den Kantonen eine grosse Verantwortung zu. Ich habe in der Einleitung von den widerspenstigen Tessinern gesprochen, die sich ihre Unabhängigkeit bewahrt haben und damit auch die Unabhängigkeit der ganzen Schweiz. Wenn wir daran denken, was unser Land und unsere Wirtschaft erfolgreich macht, dann sollten wir immer wieder an das Fundament dieses Erfolgs denken: Unser unabhängiger, föderalistischer, neutraler Kleinstaat, der auf dieser Basis Gesetze und Rahmenbedingungen schaffen kann, die diesem Kleinstaat am besten dienen. Ein entscheidender Verdienst kommt dabei der direkten Demokratie zu. Machen wir uns nichts vor: Ohne direkte Demokratie würde die Schweiz heute der EU angehören und hätte damit ihre entscheidenden Vorteile (Handlungsfreiheit, unabhängige Währungspolitik, niedriges Zinsniveau, tiefere Steuern, Neutralität usf.) eingebüsst. Auch unsere Steuergesetze und – vor allem – unsere Steuersätze sähen ohne direkte Demokratie ganz anders aus! Es ist gerade auch die direkte Demokratie, der wir beispielsweise einen so tiefen Mehrwertsteuersatz zu verdanken haben. Denn jede Steuererhöhung in der Schweiz muss vor das Volk. Ich erinnere daran, dass erst vor zwei Jahren eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um 0,8% für die AHV durch den Souverän deutlich verworfen wurde. Ich erinnere an Deutschland. Da hatte die SPD vor den Wahlen jegliche Erhöhung kategorisch abgelehnt, die CDU kündigte eine Erhöhung von zwei Prozent an. Doch nach den Wahlen war alles anders: Die beiden Parteien schlossen einen „Kompromiss“, nämlich eine Erhöhung von drei Prozent… Das wäre bei der direkten Demokratie nie möglich gewesen. Die direkte Demokratie ist ein Disziplinierungsmittel für Politiker! Gewonnene Wahlen heissen gar nichts, denn schon am nächsten Tag muss sich die Politik wieder bewähren und ihre Entscheide erklären, sonst gibt es die rote Karte durch den Souverän schon bei der nächsten Sachabstimmung. Zu den Rahmenbedingungen gehört auch der Föderalismus, der völlig zu Unrecht als "Kantönligeist" verschrien wird. Gerade das Tessin beweist die Vorzüge dieses Systems. Wir organisieren unseren Staat von unten nach oben. Gemeinde, Bezirk, Kanton, Bund. Wäre dem nicht so, müssten Sie sich heute gar nicht treffen. Denn eine Tessiner Wirtschaftskammer ergibt nur dann Sinn, wenn sie im Tessin selbst auch Einfluss nehmen kann. So wie es in einer Demokratie Alternativen geben muss, damit der Bürger nicht nur wählen, sondern auch auswählen kann, bietet der Föderalismus dem Bürger Vergleichsmöglichkeiten zwischen den Systemen. Auch über die Landesgrenzen hinaus. Der Mendrisiotto ist in den Mailänder Wirtschaftsraum integriert, aber eben politisch der Schweiz zugehörig. Das macht die erfolgreiche Mischung aus. Die norditalienischen Produktionsbetriebe haben das Tessin als vorteilhaften Standort entdeckt. Eine viel tiefere Unternehmensbesteuerung (in Italien liegt diese bei über 40 Prozent, im Tessin unter 20 Prozent), niedrige Lohnnebenkosten, kaum Streiks, ein gutes Bildungsniveau, Mehrsprachigkeit, politische Stabilität, flexibler Arbeitsmarkt – Sie sehen, ich komme wieder auf die allgemeinen Vorzüge des schweizerischen Wirtschaftsstandortes zu sprechen. Sie gelten für die ganze Schweiz und dazu kommen die speziellen Pluspunkte Ihres Kantons. Wenn ich jetzt viel von der Verantwortung der Politik für den wirtschaftlichen Erfolg gesprochen habe, dann will ich es nicht versäumen, den Hauptverantwortlichen für Wohlstand und Wachstum zu nennen: Das sind Sie, Ihre Unternehmen und Ihre Mitarbeiter. Für diesen Einsatz danke ich Ihnen im Namen der Landesregierung. An uns liegt es, Sie in Ihrer Arbeit wenigstens nicht zu behindern.

18.10.2006

Die Schweiz und Europa – die Entwicklung seit dem EWR-Nein von 1992

Grussbotschaft zum 5-Jahr-Jubiläum der SVP Neuenburg am Mittwoch, 18. Oktober 2006, 21.15 Uhr, Grand salle polyvalente, Auvernier NE 18.10.2006, Auvernier Auvernier. Bundesrat Christoph Blocher ermutigt die Zuhörer zum Durchhalten. Anhand den Entwicklungen in der Schweiz seit dem EWR-Nein zeigt er auf, dass es sich lohnt, Inhalten und Zielen treu zu bleiben, und man in der Politik nicht aus Bequemlichkeit einem Modetrend nachgeben soll. Es gilt sowohl das mündliche wie das schriftliche Wort, der Redner behält sich vor, auch stark vom Manuskript abzuweichen. 1. Die SVP ist angekommen Die gute Nachricht voraus: Die SVP ist in der Romandie angekommen. Die SVP ist mit ihren Botschaften und mit ihren Lösungen angekommen. Das hat die Volksabstimmung zum Asyl- und Ausländergesetz deutlich gezeigt. Die Bürgerinnen und Bürger wollen Lösungen sehen. Sie haben genug von beschönigenden Theorien. Die Menschen sehen und erleben die Missstände – und sie wollen eine Politik, die diese Probleme angeht und nicht Politiker, die diese Probleme bloss tabuisieren. 2. Die Gründe Warum ist die SVP in der Romandie angekommen? * Weil die SVP sich als einzige Partei für die Souveränität der Schweiz einsetzte, als es in den 90-er Jahren nicht mehr Mode war. Wir stehen ein für eine freie und unabhängige Schweiz. Das ist die Grundlage unseres Staates und die Voraussetzung für eine erfolgreiche Politik. Wie wollen Sie eine gute Politik machen, wenn andere die Politik bestimmen? * Weil die SVP die Anliegen des Volkes vertritt. Die Bürgerinnen und Bürger möchten Arbeit, Verdienst, gute Schulen, weniger Abgaben, sichere Strassen und auch in der Zukunft eine sichere und bezahlbare Energieversorgung. Kurz: Die Menschen wollen leben. * Weil die SVP Probleme beim Namen nennt. Wir haben jahrzehntelang gegen die offensichtlichen Missbräuche im Asylwesen gekämpft. Man hat uns deswegen beschimpft und verunglimpft. Man hat die Missstände geleugnet, um sie nicht bekämpfen zu müssen. Wir haben mit Beharrlichkeit weiter gemacht. Wir haben Lösungen gebracht. Wir wurden für diese Lösungen wiederum beschimpft und verunglimpft. Heute bilden unsere Lösungen im Asylwesen die offizielle Politik im Lande. Die SVP ist angekommen, weil sie Rückgrat hat. Weil auch unser Land ein Rückgrat braucht. Das Rückgrat der Schweiz heisst Selbstbestimmung, direkte Demokratie, Neutralität und Föderalismus. Zu diesen Grundwerten stehen wir und darum kommt ein Beitritt zur Europäischen Union für uns nicht in Frage. 3. Durchhalten Es gibt die SVP in Neuenburg erst seit fünf Jahren. Gerade einmal zwei Jahre nach der Gründung sind Sie angetreten zu den nationalen Wahlen. Und Sie haben auf Anhieb das beste Resultat in der Romandie eingefahren. Mit 22,4 Prozenten. Es ist die französische Schweiz und insbesondere sind es auch Sie gewesen, die den doppelten Einzug der SVP in die schweizerische Regierung überhaupt ermöglicht haben. Darauf können Sie mit Recht stolz sein. Ich gratuliere der SVP Neuenburg zu ihrem 5-jährigen Geburtstag! Ihre Erfolge sind grossartig und wichtig. Aber – und das zeigt mir meine jahrzehntelange Arbeit in der Politik – der Erfolg ist nicht der Alltag. Ich muss Sie warnen: Die Bewährung wartet erst noch auf Sie. Darum lautet das wichtigste Prinzip in der Politik: Durchhalten. Durchhalten. Durchhalten. Sie werden Niederlagen erleben. Sie werden Beschimpfungen aushalten müssen. Sie werden vor allem der Versuchung widerstehen müssen, jeder Strömung, jedem Modetrend, jeder kurzfristigen öffentlichen Erregung nachzugeben. Durchhalten! In der Politik gilt es stets der eigenen Bequemlichkeit zu widerstehen. Es gilt, stets die Inhalte und Ziele über die persönlichen Interessen zu stellen. Wie schnell vergisst man dies – vor allem wenn der Chor der classe politique zusammen mit dem Einheitschor der Medien etwas anderes singt. Die Unabhängigkeit der Schweiz, die Neutralität, der Föderalismus, die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger ist nie nur bequem. Denn: Wer diese Werte hochhält, muss auch jene Politik bekämpfen, die genau diese Werte untergraben und zerstören will. Bei allen schweren und schwierigen Zeiten, die auf Sie warten, eine Gewissheit kann ich Ihnen versichern: Wer durchhalten kann, wird am Ende belohnt. Wer hätte vor zehn Jahren gedacht, dass der Kanton Neuenburg zusammen mit der Deutschschweiz und der SVP dem neuen Asylgesetz zustimmt? Durchhalten! Wer hätte vor zehn Jahren gedacht, dass Neuenburg zusammen mit der Deutschschweiz und der SVP die Beitrittsinitiative „Ja zu Europa“ versenken würde? Durchhalten! Wer hätte es vor zehn Jahren für möglich gehalten, dass die SVP im Kanton Neuenburg auf fast einen Viertel Wähleranteil kommen würde? Durchhalten! Es gilt, bei den Grundsätzen zu bleiben. Die Sorgen und Probleme der Bevölkerung ernst zu nehmen. Gehen Sie zu den Menschen, schauen Sie hin, was die Menschen beschäftigt und Sie wissen, was Sie zu tun haben. Es sind die Eliten, die sich von den Bürgerinnen und Bürger entfremdet haben. Die Europafrage ist nur ein, wenn auch besonders aufschlussreiches Beispiel, dass die Eliten über die Köpfe und Herzen der Menschen hinweg politisieren. 4. Für den schweizerischen Weg in Europa und der Welt Am 6. Dezember 2006 sind es vierzehn Jahre her, dass Volk und Stände den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) abgelehnt haben. Dieser Abstimmungskampf war die erste grosse und heftig geführte Auseinandersetzung um die Europa-Frage. Für einen EWR-Beitritt wurden vor allem ökonomische Gründe geltend gemacht. Die Wirtschaftsverbände warnten vereint mit der Classe politique, den Massenmedien, Gewerkschaften und Hochschullehrern eindringlich vor einem Nein zum EWR-Vertrag. Mit Millionenbeiträgen und einem Heer von Journalisten, die sich die Finger wund schrieben, drohten sie den Stimmbürgern… * mit massiver Abwanderung schweizerischer Firmen in den EU-Raum * Verarmung der Schweiz * Investitionsarmut für die Schweiz * mit mangelnder Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz * mit einem Zerfall des Schweizerfrankens * mit stark steigende Schuldzinsen, die mangels Vertrauen in die schweizerische Volkswirtschaft sogar über das europäische Niveau steigen würden * mit vielen weiteren schrecklichen Prophetien Eine besonders prominente Stimme, die des damaligen Verkehrsdirektors der Stadt Luzern, behauptete 1992: „Ohne EWR kann die Schweiz nicht überleben.“ Aber zum Glück werden die meisten Propheten durch die Zukunft widerlegt. Heute schreiben die Zeitungen: „Die Schweiz ist die wettbewerbsfähigste Nation“. „Hohes Wirtschafts-Wachstum für die Schweiz“. „Die Schweiz hat kein Wachstumsproblem“ etc. Nun, das mag übertrieben sein. 5. Die Schweiz, ein Erfolgsmodell Aber fest steht: Ein zusammenfassender Rückblick zeigt, dass eine unabhängige, aber weltoffene Schweiz ein Erfolgsmodell darstellt, solange dieses Erfolgsmodell nicht unterlaufen bzw. aufgegeben wird. Unabhängigkeit, Neutralität und der Wille zur Eigenverantwortung sind das Fundament für eine erfolgreiche Schweiz in Wohlstand und Sicherheit. Dies zu verteidigen ist Aufgabe der SVP! Tatsache ist: Die Wettbewerbsfähigkeit ist weltweit vorteilhaft und liegt weit über den EU-Ländern. Nach der jüngsten Studie des WEF (World Economic Forum) liegt die Schweiz sogar auf Rang eins. Besonders gelobt werden der Finanzplatz, die Forschung, die politische Stabilität, das Steuerniveau und die guten Infrastrukturen. Auch punkto Standortqualität nimmt die Schweiz gemäss einer Umfrage bei Unternehmen die Spitzenstellung in Europa ein. Das zeigt auch die hohe Summe von Direktinvestitionen im Land und die Tatsache, dass sich allein im letzten Jahr rund 500 ausländische Firmen in der Schweiz niedergelassen haben. Wir können festhalten: * Punkto Zinsen, Inflation, Lohnniveau und Wohlstandsniveau schneidet die Schweiz von allen europäischen Staaten am besten ab. * Das Vertrauen in den Schweizerfranken ist ungebrochen. * Die Arbeitslosigkeit ist trotz hohem Ausländeranteil niedriger als in der EU. * Die Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Wirtschaft ist ungebrochen. 6. Die SVP ist auch in der offiziellen Europapolitik angekommen Das EWR-Nein verhinderte den bereits anvisierten EU-Beitritt, welcher der Unabhängigkeit, dem Föderalismus, der direkten Demokratie und der Neutralität einen entscheidenden Schlag versetzt hätte. Die SVP hat sich mit ihrem Hauptziel offiziell durchgesetzt! * Ohne die SVP wäre wohl der EWR-Beitritt damals durchgekommen und die Schweiz heute Mitglied der EU. * Bis vor wenigen Jahren verfolgte der Bundesrat, die Verwaltung, das Parlament und alle anderen Parteien den Beitritt zur EU. * Ich erinnere an die Abstimmung von 2001, wo das Volk mit 76,8 Prozent einen schnellen Beitritt abschmetterte. * Das bis 2003 verfolgte strategische Ziel des EU-Beitritts wurde von Regierung und Parlament fallen gelassen. * Der Bundesrat tritt für bilaterale Verhandlungen ein, „ohne dass die Handlungsfreiheit“ gefährdet werden soll. Es ist uns gelungen, auch in der Europapolitik die Weichen neu zu stellen. Das ist kein Triumph für die SVP, aber der richtige Weg für die Schweiz. Wenn die SVP unbeirrt an diesem Weg festhält, dann geht’s der Schweiz gut. Nur: Wir müssen durchhalten, durchhalten, durchhalten.

04.10.2006

Übernahme des Schweizerischen ZGB

Begrüssung von Bundesrat Christoph Blocher an der Eröffnung des Symposium anlässlich des 80-jährigen Inkrafttretens des türkischen Zivilgesetzbuches vom 4. Oktober 2006 an der Universität Ankara 04.10.2006, Ankara Es gilt sowohl das mündliche wie das schriftliche Wort. Anrede Schon früh in der Schule habe ich gelernt, dass die Türkei das Schweizerische Zivilgesetzbuch, das so genannte „ZGB“, übernommen hat. Ich habe das schnell und gerne gelernt, bevor ich wusste, was ein Zivilgesetzbuch überhaupt ist! Aber stolz waren wir Schüler auf jeden Fall, dass die mächtige Türkei von der kleinen Schweiz so etwas – wie uns schien - Wichtiges übernommen hatte. Es erfüllt mich auch heute mit Freude – sehr geehrter Herr Rektor, sehr geehrter Justizminister, Frau Dekanin, meine Damen und Herren – mit Ihnen den 80. Geburtstag der Übernahme des schweizerischen Zivilgesetzbuches an der Ankara-Universität feierlich begehen zu können. Als ich in den Vierzigerjahren des letzten Jahrhunderts den schweizerischen Bubenstolz spürte, wusste ich natürlich noch nicht, dass mir einmal diese hohe Ehre zufallen würde. Meinem türkischen Amtskollegen, Herrn Justizminister Cemil Cicek, danke ich für seine freundliche Einladung. Zuhanden der türkischen Regierung möchte ich Ihnen auch gleich die besten Grüsse und Glückwünsche des Schweizerischen Bundesrates übermitteln. In der Schweiz ist das Kollegium der 7 Bundesräte zugleich das „Staatsoberhaupt“. Über einen Premierminister oder Präsidenten verfügen wir nicht. Herr Rektor Professor Nusret Aras, ich danke Ihnen für das heute gewährte Gastrecht an der so wichtigen Ankara-Universität in der Geschichte der Türkischen Republik und auch Ihnen und Ihren geschätzten Kolleginnen und Kollegen, Frau Dekanin Lale Sirmen, gratuliere ich zur Initiative, in der Hauptstadt der Republik ein mehrtägiges Symposium durchzuführen. Dass eine solche Übernahme eines Gesetzbuches wie es die Türkei im Falle des schweizerischen Zivilgesetzbuches vollzogen hat, auch eine ganz andere Bedeutung haben kann, sehen Sie aus folgender kleiner Gegebenheit: Als ich als junger juristischer Mitarbeiter desjenigen Unternehmens, das ich dann später erwarb, einmal eine Anfrage eines türkischen Unternehmers für den Bau einer Fabrikanlage in der Türkei entgegennehmen musste, fragte ich den Gründungspräsidenten unserer Firma, ob wir diesen Auftrag in der fernen Türkei ausführen sollten, obwohl uns die Türkei doch etwas fremd sei. Andere Länder, andere Sitten würden dort gelten. Der Präsident antwortete kurz: „Die Türken sind rechte Leute, sie haben schliesslich das schweizerische Zivilgesetzbuch übernommen. Da werden sie auch gute Geschäftsleute sein!“ Darauf haben wir das Geschäft abgeschlossen und daraus entwickelte sich eine langjährige gute Geschäftsbeziehung, die von grossem gegenseitigem Vertrauen geprägt war, bis auf den heutigen Tag. Mittlerweile haben sich aus dieser geschäftlichen Bekanntschaft verschiedene Projekte in der ganzen Türkei entwickelt z.B. in Izmit, in Bursa und in Adapazari, um nur einige Beispiele zu nennen. Dieses Beispiel zeigt, dass sich hier nicht nur geschäftliche Beziehungen aufgetan, sondern auch langjährige menschliche Kontakte ergeben haben. So ist es kein Zufall, dass eine grössere Zahl namhafter schweizerischer Rechtsprofessoren, aus drei verschiedenen Universitätsstädten der Schweiz (Bern, Freiburg, Lausanne), als Mitwirkende angereist sind, u.a. mit Herrn Prof. Eugen Bucher einer meiner ehemaligen Professoren, was mich beeindruckt. Meine Landsleute sind der lebendige Beweis für die nach 1923 eingesetzten Fach-Kontakte, aber auch wiederum vor allem Ausdruck freundschaftlicher Verbindungen. Wenn wir die letzten 80 Jahre betrachten, stossen wir auf Schlüsselorte mit besonderem Geschehen: So zum Beispiel * „Genf“ - dieser Name ist eng verbunden mit den Jungtürken, – rund 22 osmanische Oppositionszeitungen wurden dort gedruckt; * Der 1923 geschlossene Friedensvertrag von „Lausanne“ gilt noch heute als eigentliche Geburtsurkunde der Republik Türkei, und ist so zu sagen das türkische Pendant zu unserem Freiheitsbrief von 1291; * Mit den „Montreux-Verträgen“ von 1936 erreichte die Türkei die volle Souveränität über die Dardanellen, das Marmarameer und den Bosporus; * In „Zürich“ fand 1960 die Aushandlung der Zypern-Verträge statt; * 1988 war es „Davos“, das als Forum für die türkisch-griechische Annäherung und die so genannte „Davos Declaration“ Pate stand. * Auf dem „Bürgenstock“ hat im Jahre 2004 die letzte Runde der Zyperngespräche stattgefunden. Aber auch auf anderen Gebieten haben sich die Beziehungen zwischen der Schweiz und der Türkei in vielfältiger Art und Weise, geprägt von gegenseitigem Respekt und Wohlwollen, entwickelt. So zum Beispiel: * die Übernahme des “ZGB“ von 1926, deshalb sind wir jetzt hier! * die türkisch-schweizerischen Juristentage, die dank Ihnen seit Jahren in der Türkei oder der Schweiz durchgeführt werden; * die „türkische Migros“, deren Gründung nach dem Besuch von Gottfried Duttweiler, Vater der Migros, und schweizerisches Urgestein, im Jahre 1954 erfolgte; * die türkischen Studenten und Doktoranden in der Schweiz sowie ihre Dissertationen: die Schweiz wies bis etwa 1970 die höchste Pro-Kopf Zahl an türkischen Dissertationen in Europa auf; vor allem die Universitäten Genf, Lausanne, Freiburg und Neuchâtel waren beliebt. – Auch Frau Dekanin Lale Sirmen hat ein Jahr in der Schweiz, genauer an der Universität Zürich, verbracht. Das gigantische Unternehmen das Rechtswesen der Türkei, ja die ganze Gesellschaft, von Grund auf neu zu konstruieren, war 1926 ein historisch gesehen einzigartiges Grossexperiment, das unsere volle Bewunderung und Anerkennung verdient. Dass die Schweiz einen Mosaikstein dabei mit dem Schweizerischen Zivilgesetzbuch und dem Obligationenrecht hat beisteuern dürfen, erfüllt uns mit Stolz. Der Umstand, dass der erste türkische Justizminister, Mahmud Esad Bozkurt, in der Schweiz, genauer gesagt in Lausanne und Freiburg, studiert hat, hat die Übernahme des schweizerischen ZGB beschleunigt. Er äusserte sich zu dieser gigantischen Aufgabe damals folgendermassen: Quote: …„Man muss eine ganz neue türkische Justizorganisation mit neuem Rechtssystem, neuen Gesetzen und neuen Gerichten ins Leben rufen. Welchen Charakter könnte und würde diese Justizorganisation haben, der sich auch die Ausländer unterwerfen müssten? Die Antwort können wir mit einem Worte geben: <weltlich>…“ Professor Ernst Hirsch hat anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des schweizerischen Juristenvereins diese Aussage in einem Artikel zitiert. Der Mut der Gründerväter der Türkei, allen voran von Kemal Atatürk, die Reste des osmanischen Reiches in eine moderne Republik umzuwandeln, ist auch heute noch beeindruckend. Herr Justizminister, Herr Rektor, Frau Dekanin, Meine Damen und Herren Wir freuen uns heute mit Ihnen, dass die „türkische Geburtsurkunde“ in Lausanne verhandelt wurde und dass Sie das „ZGB“ übernommen haben. Sie haben mit dem ZGB ein von einem Mann namens Eugen Huber in grosser Bescheidenheit geschriebenes Gesetzeswerk übernommen. Das erfüllt uns mit Stolz und Demut und ist ein starkes Band zwischen unseren Ländern. Ich wünsche Ihnen ein interessantes juristisches, aber auch ein menschen-verbindendes Forum. Ich würdige den Mut Ihrer Gründerväter, die in grosser Verantwortung den Fortschritt mit Bewährtem in eine lebensfähige und zukunftsgerichtete Synthese gossen. Ich danke Ihnen bestens für Ihr Engagement.