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25.09.2004

Regulierung, Deregulierung, Selbstregulierung

Referat von Bundesrat Christoph Blocher anlässlich des Schweizerischen Juristentags am 25. September 2004 in Basel 25.09.2004, Basel Es gilt das gesprochene Wort Sehr geehrte Frau Präsidentin, Sehr geehrte Damen und Herren, Dass der Schweizerische Juristenverein über "Regulierung, Deregulierung, Selbstregulierung" spricht, lässt tief blicken. Daraus spricht nämlich die Vermutung, dass sogar die Juristen der Meinung sind, wir seien überreguliert. Das trifft sich gut. Ich teile nämlich diese Bedenken. Warum haben wir es soweit gebracht? Der tiefere Grund ist einfach: Der Staat hat sich in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr ausgeweitet, hat immer mehr Aufgaben übernommen, was in einem Rechtsstaat automatisch zu mehr Regulierungen, zu mehr Beamten, zu mehr Rechtsanwälten und mehr Juristinnen- und Juristen führt. Gefühl der Einengung und der Angst Es ist nicht zu verkennen: Diese Vorschriftenzunahme ruft bei den Menschen ein Gefühl der Ohnmacht und des Überdrusses hervor. Bürgerinnen und Bürger haben mehr und mehr das Gefühl, zu stark eingeengt zu sein, ja im Dickicht der staatlichen Normen zu ersticken. Bei zuviel Regeln müssen sie in ständiger Angst leben, mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. Vor allem Menschen, die Ausserordentliches tun, verspüren diese Angst. Dieses mulmige Gefühl der Angst lähmt. Das ist eine der Ursachen der fehlenden Dynamik unseres Landes - gerade auch wirtschaftlich. Grenzen der staatlichen Leistungsfähigkeit Negativ ist es aber nicht nur für die Bürger, sondern auch für den Staat selbst. Er hat mehr Macht und ist zunehmend überfordert. Seine Mittel reichen nicht mehr aus. Der Staat kann die Aufgabenerfüllung kaum mehr finanzieren, er treibt dem Bankrott entgegen. Der Staat hat sich in den letzten Jahrzehnten übertan. Oder anders ausgedrückt: weil wir den Staat in den letzten Jahrzehnten überfordert haben, muss er alles tun. Wer alles tun muss, kann nichts mehr recht tun. Das Gefühl der Einengung und der Unsicherheit auf der Bürgerseite und die - namentlich finanzielle - Überforderung des Staates auf der anderen Seite erklären, weshalb die Forderung nach Deregulierung heute noch lauter ertönt als noch vor ein paar Jahren. Ich meine, wir sind gezwungen, uns grundsätzlich zu fragen: Wie viel Staat ist überhaupt nötig? Wir müssen mit anderen Worten mehr nach dem "Ob" statt nach dem "Wie" des staatlichen Tätigwerdens fragen: "Soll, muss oder darf der Staat überhaupt tätig werden?" Die Frage der Regulierung und Deregulierung ist also zunächst ein politisches und erst dann ein juristisches oder gesetztechnisches Problem. Bei der Beantwortung der politischen Frage tun wir gut daran, zu den Ursprüngen - zum Fundament - der Schweiz zurückzukehren und uns an diesen zu orientieren. Wir sollten uns wieder dem liberalen Staatsverständnis zuwenden, das den schweizerischen Bundesstaat in seinen Anfängen geprägt und so erfolgreich gemacht hat. Zu viel Ballast hat sich seither auf diesem liberalen Credo abgelagert und versperrt den Blick aufs Wesentliche. Gewährleistung der inneren und äusseren Sicherheit Nach dem liberalen Staatsverständnis gibt es Aufgaben, die der Staat erfüllen muss und die nur er erfüllen kann. In erster Linie ist dies die Gewährleistung der persönlichen Sicherheit. Die Gewährleistung innerer und äusserer Sicherheit ist von gewissen Autoren des 19. Jahrhunderts (so etwa Wilhelm von Humboldt) sogar als einzige Aufgabe des Staates betrachtet worden. So weit gehe ich nicht. Aber innere und äussere Sicherheit - d.h. Polizei und Militär - gehören zu den unverzichtbaren Kernaufgaben des Staates. Es geht dabei um den Schutz von Leib und Leben, um den Schutz der essentiellen, ja der existenziellen Güter des Individuums, auch des Privateigentums. Tut es der Staat nicht, befiehlt das Faustrecht. Sicherung der Freiheitsrechte Der liberale Staat zeichnet sich aber auch aus durch die Gewährleistung der individuellen Freiheitsrechte. Der Schutz dieser Rechte - vor allem gegenüber dem Staat - ist neben dem Schutz von Leib und Leben eine zweite Kernaufgabe und Teil des liberalen Staatsverständnisses. So paradox es klingen mag: der Rechtsstaat muss den Bürger vor den Eigeninteressen eines sich verselbstständigenden Staatsapparates schützen. Nun hat der Staat aber diese Freiheitsrechte wieder reguliert und - unter dem Anliegen des Schutzes des Einzelnen - so umfassend reguliert, dass er gerade diese Freiheit in Frage stellt. Das gilt in ganz besonderem Masse für die Handels- und Gewerbefreiheit. Die Eingriffe und Regulierungen in diesem Bereich sind gewaltig, so dass die Früchte dieser Freiheit - nämlich die Sicherung der Wohlfahrt - allmählich ausbleiben. Die Deregulierung gerade in diesem Bereich wäre eine soziale Forderung dieser Tage. Reform heisst hier Entschlackung. Wir stehen erst am Anfang eines Prozesses. Vorerst wird nur über Deregulierung geredet, getan wird noch nichts. Aber auch in anderen Bereichen, wo individuelle Freiheitsrechte auf dem Spiel stehen, wie etwa im Bereich der Pressefreiheit, der Kulturfreiheit oder der Meinungsäusserungsfreiheit hat sich der Staat gewaltig - meist unter Berufung auf edle Motive - eingemischt und Freiräume vernichtet. Interessanterweise gelten heute Förderungsmassnahmen und Finanzhilfen des Staates ohne weiteres als grundrechtskonform. Gerade bei der Wirtschaftsfreiheit hat dies die rechtliche Dogmatik entgegen jeder vernünftigen ökonomischen Betrachtungsweise stets akzeptiert. Dabei vergessen die Dogmatiker und die Subventionsempfänger immer und gerne eine Maxime, die ihnen sonst lieb und teuer ist, nämlich: "Wer zahlt, befiehlt"! Wer zahlt, wird also auch - und muss auch - regulieren. Wer empfängt, muss sich die Regulierung auch gefallen lassen. Interessant ist in diesem Zusammenhang übrigens auch der Umstand, dass die ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Verankerungen der Freiheitsrechte nicht etwa Ausdruck ihres besseren rechtlichen Schutzes, sondern im Gegenteil Zeichen ihrer wachsenden Gefährdung und Einschränkung sind. Mit andern Worten: je länger und umfassender der Grundrechtskatalog in einer Verfassung ist, desto nahe liegender ist die Vermutung, dass es mit der tatsächlichen Gewährleistung der individuellen Freiheiten nicht zum Besten steht. So ist zum Beispiel die Eigentumsgarantie in der Bundesverfassung erst ausdrücklich aufgenommen worden, als es darum ging gleich festzuschreiben, wie und auf welchem Wege man diese verletzen könne. Der Grundsatz der Subsidiarität Die Verfassung hat diese Gefahren an sich erkannt und Grundsätze als Schranken eingebaut. So das Subsidiaritätsprinzip. Dieses Subsidiaritätsprinzip gehört zweifellos zu unserem Grundverständnis des Verhältnisses zwischen Staat und Gesellschaft und soll im Rahmen der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA), über die Volk und Stände Ende November dieses Jahres abstimmen werden, als Artikel 5a explizit in der Bundesverfassung verankert werden. Parallel dazu ist aber eine Tendenz zur Zentralisierung - d.h. gegen das Subsidiaritätsprinzip - unverkennbar. Dabei fällt bei dieser Missachtung der Freiheitsrechte auf, dass die Privaten, die Gemeinden und die Kantone ihre Rechte sehr oft an die höhere Ebene gegen Staatsbeiträge veräussern. Auch hier gilt eben: Wer zahlt, befiehlt! Der Eingriff in die eigene Souveränität lässt man sich nicht gerne gefallen - ausser man bekommt dafür Geld! Bekenntnis zu einer privatwirtschaftlich orientierten Marktwirtschaft Ebenfalls zu erwähnen ist schliesslich, dass Artikel 94 BV deutlich macht, dass die Wirtschaftsfreiheit nicht nur ein individuelles Freiheitsrecht, sondern auch ein Entscheid für ein bestimmtes Wirtschaftssystem beinhaltet. Damit werden der Übernahme von Aufgaben durch den Staat sowohl aus individualrechtlicher als auch aus institutioneller, systemischer Sicht Grenzen gesetzt: Leistungen, die von Privaten, welche im Wettbewerb untereinander stehen, erbracht werden, dürfen nicht vom Staat erbracht werden, wenn der Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit nicht ausgehöhlt werden und zu einem Papiertiger verkommen soll. Fehlentwicklungen Leider fehlt es nicht an Beispielen, die zeigen, dass die genannten verfassungsrechtlichen Grundsätze im politischen oder legislatorischen Entscheidungsprozess nicht genügend Orientierungskraft entfalten. Wohin führen diese Entwicklungen? Neben der Lähmung des Einzelnen und neben der Überforderung des Staates geschieht ein Drittes: Es verleitet die wirtschaftlichen Akteure dazu, nach Lücken zu suchen und mit vordergründiger Normkonformität gleichwohl ihre Interessen wahrzunehmen. Die sehr detaillierten amerikanischen Vorschriften im Bereich der Rechnungslegung von Firmen scheinen mir diesbezüglich ein besonders lehrreiches Beispiel zu sein. Haben sie etwa den Fall Enron verhindert? Im Gegenteil, sie haben sich als absolut kontraproduktiv erwiesen und letztlich die Transparenz verunmöglicht, die sie eigentlich schaffen sollten. Zu dichte und detaillierte Regulierungen sind in mehrfacher Hinsicht verfehlt: Einerseits verursachen sie Mehraufwand, um eine zumindest vordergründige Normkonformität sicherzustellen; das mag zwar die Anwälte freuen, ist aber volkswirtschaftlich unsinnig. Und anderseits führen sie dazu, dass Rechtsunterworfene, also zum Beispiel Unternehmen, ihre Entscheide zum Teil nicht mehr nach wirtschaftlichen Kriterien und Bedürfnissen treffen, sondern auf Anforderungen ausrichten müssen, die sachlich nicht gerechtfertigt sind. Es geht darum - bar jeder wirtschaftlichen Logik - Paragraphen zu erfüllen. Wahrnehmung von Verantwortung verlangt etwas anderes. Auch die Rechtsordnung sollte dies berücksichtigen. So ist zum Beispiel der Unternehmer und nicht der Revisor verantwortlich für eine richtige Bilanzierung. Wir haben diesem Gedanken bei der Revision des Obligationenrechtes betreffend der Bestimmungen im Bereich der Rechnungslegung von Unternehmen Rechnung zu tragen, indem auf dem Grundsatz der Verantwortung aufzubauen ist. Selbstregulierung Das Wort "Selbstregulierung" ist bezeichnend für unsere Denkweise. So sehr glaubt man an die gestaltende Kraft der Regulierung, dass man die Selbstverantwortung wieder ersetzt durch den Begriff Selbstregulierung. Was unsere Gesellschaft aber braucht ist: Mehr Selbstverantwortung, und diese kann oft auch ohne Regulierung auskommen. Den Bürger mittels Regulierung auf Selbstverantwortung zu trimmen, stellt bloss einen weiteren gut gemeinten Versuch dar, mit falschen Mitteln richtige Ziele erreichen zu wollen - ein Irrweg. Dank an den Schweizerischen Juristenverein "La loi devient insupportable, mais son absence l'est au moins autant", hat der französische Philosoph Jean-Maire Domenach treffend geschrieben. Ich weiss: Ohne Gesetzgebung, ganz ohne statthafte Regulierung geht es nicht. Aber mit zu viel geht es auch nicht. Gerade deshalb sind die Bemühungen um das richtige Mass und die Qualität staatlicher Regulierung so wichtig. Weniger staatliche Eingriffe, mehr Selbstverantwortung und die konsequente Beachtung des Subsidiaritätsprinzipes würden zu mehr Freiheit der Bürgerinnen und Bürger, zu mehr Wohlfahrt und einem wieder bezahlbaren Staat führen. Ich danke Ihnen und dem Schweizerischen Juristenverein, dass Sie sich dieser wichtigen Sache annehmen.

17.09.2004

Zu den Medien

Ansprache von Bundesrat Christoph Blocher anlässlich des Jahreskongresses der Schweizer Presse in Lausanne 17.09.2004, Lausanne Es gilt das gesprochene Wort Sehr geehrte Damen und Herren Sie haben mich gebeten, vor der Schweizer Presse über die Arbeit der Medien zu sprechen. Das ist eine delikate Ausgangslage. Wie auch immer die Rede ausfällt, es wird Vorwürfe absetzen. Finde ich allzu lobende Worte, werden die Kommentare lauten: "Schaut, schaut, der Blocher. Jetzt wirft er sich den Medien an die Brust. Seit er in der Regierung sitzt, ist offenbar auch bei ihm die Sehnsucht nach Pressezuneigung grösser geworden." Kommt hingegen von meiner Seite auch nur ein kritisches Wort zu viel, so war es die Rede eines persönlich Beleidigten, eine unangebrachte Medienschelte. Ich muss Ihnen gleich gestehen: Wenn ich mich schon einem Vorwurf aussetzen muss, dann lieber dem zweiten. I Auftrag der Presse Was ist der Auftrag der Presse? Zunächst eine Klarstellung: Weder die Verwaltung, noch eine Regierung, noch das Parlament, noch sonst jemand im Staat hat der Presse einen Auftrag zu erteilen. Es ist nicht Sache des Staates, den Auftrag der Medien zu definieren. Was die Politik dagegen tun muss, ist die Pressefreiheit zu gewährleisten. Die Freiheit der Presse gegenüber dem Staat ist eine Grundvoraussetzung für jede funktionierende Demokratie. II An die Verleger gerichtet Die Gewährleistung dieser Pressefreiheit ist das Wichtigste, was Sie als Verleger von uns Politikern verlangen können. Pressefreiheit ermöglicht Pressevielfalt, Pressevielfalt wäre die Basis für Meinungsvielfalt. Erfüllt unser Staat diese Aufgabe? Leider nur sehr mangelhaft. Sie hätten Grund genug, uns Politiker deswegen heftig zu kritisieren. Aber interessanterweise tun Sie es nicht. Schätzen Sie, verehrte Verlegerinnen und Verleger, verehrte Fernseh- und Zeitungsmacherinnen- und macher diese Freiheit etwa nicht? Es ist doch eine unwiderlegbare Tatsache, dass staatliche Beschlüsse nur ein einziges landesweites Fernsehen zulassen. Das Wichtigste an der Freiheit, nämlich private Vielfalt, die Konkurrenz der Meinungen, der Wettbewerb von Ideen wird mindestens beim nationalen Fernsehen unterbunden. Und auch Sie werden nicht behaupten wollen, dass unser Schweizer Fernsehen, welches sich zwar formell unabhängig nennt, punkto Personal oder in Bezug auf die Gebührenordnung, Werberegelung, etc. vom Staat unabhängig sei. Das gleiche gilt für die landesweiten Sender von Radio DRS. Und was ist mit jenen Nachrichtenagenturen, die vom Staat finanziert werden? Wie weit beeinträchtigt dies die unabhängige Berichterstattung? Natürlich! Als Regierungsmitglied muss mich dies nicht stören. Und ist da nicht auch etwas im Tun, dass künftig auch die Verleger vom Staat finanziell unterstützt werden sollen? Von einem entsetzten Aufschrei Ihrerseits habe ich bisher nichts vernommen. Eigenartig, dass ausgerechnet ein Bundesrat Sie auf solche Verwicklungen aufmerksam machen muss. Zwar reden alle Verleger stolz von ihrer Unabhängigkeit - nur wenn es um die Finanzen geht, gibt man sich plötzlich viel weniger rigoros. Haben Sie vergessen: Wer zahlt - befiehlt! Und der Staat wird den Verlegern befehlen - freilich subtil! Schämen müssen Sie sich allerdings deswegen nicht. Sie sind ja in guter Gesellschaft. Niemand hat je staatliche Unterstützung aus höheren Motiven abgelehnt. Weder die Wirtschaftsverbände, noch Banken oder Versicherungen; nicht einmal die Industrie oder der Gewerbeverband, obwohl diese sonst bei jeder Gelegenheit die Handels- und Gewerbefreiheit hochleben lassen. III Erwartungen Wenn ich mich als Bundesrat schon nicht in Ihren Auftrag einzumischen habe, so ist doch vielleicht die Frage nach den Erwartungen an die Medien erlaubt. Würde ich die Leser, Hörer und Seher fragen, so wäre die Antwort klar: "Informationen". Frage ich Journalisten, so sagen sie "Stellung-nahmen". Nehmen wir an, es gelte beides. Eigenartigerweise ist die Vielfalt gerade bei "Tatsachenschilderungen" relativ gross - auch wenn eine Tatsache eigentlich wenig Beschreibungsspielraum zuliesse. Bei den Stellungnahmen dagegen beobachte ich eine beelende Eintönigkeit. Müsste es nicht eher umgekehrt sein? IV Wie erlebe ich die Presse als Politiker und neuerdings als Bundesrat? Die schönste und wichtigste Pflicht des Journalismus bestünde immer noch darin, die Wirklichkeit so abzubilden, wie sie ist - auch die weniger populären Seiten. Und eine Vielfalt der Meinungen über den Sachverhalt. Mir scheint: Wir haben zwar eine beeindruckende Titelvielfalt, aber keine Pressevielfalt. Auf allen Redaktionsstuben scheint die gleiche Angst vor den gleichen Tabuthemen vorzuherrschen. Offenbar haben sich die meisten Journalisten auf einen imaginären politischen Knigge verständigt. Wer ausschert, wird geköpft; vor allem, wenn es sich um einen Bürger-lichen handelt. Vertritt er aber linke Positionen, dann gilt er umgehend als interessanter Querdenker und darf auf einen Auftritt im Zischtigsclub hoffen. Wer die Geschichte kennt, wird bestätigen, dass grosse Fehlentwicklungen meistens durch eine uniforme Berichterstattung zustanden gekommen sind. Und Sie werden mir Recht geben: Gerade die direkte Demokratie, besonders freiheitliche Staaten sind auf eine Vielfalt von Meinungen angewiesen - mag es darunter auch noch so viele abwegige oder falsche Meinungen geben (was ist denn schon Falsch und Richtig?). Wegen der Vielfalt von Meinungen sind Staaten meines Wissens noch nie fehlgeleitet worden. Aber allzu einheitliche Meinungen haben Demokratien schon zu Grunde gerichtet. Diktaturen - ob braune, rote oder andere - haben immer als erstes die Presse vereinnahmt. Meinungsvielfalt ist Gift für Diktaturen, Meinungseinheit ist Gift für Demokratien. Ein Beispiel aus der Geschichte: In den dreissiger Jahren hat man im freiheitlichen England und in den USA - zwar nicht vom Staate verordnet aber in freiwilliger "political correctness" - unisono die "Appeasement-Politik" gegenüber Hitler gepredigt. Abweichler - wie zum Beispiel Winston Churchill - waren isolierte Rufer in der Wüste. Kein ernst zu nehmendes Presseorgan hätte seine Meinung als massgebend aufgegriffen. In Deutschland wurden die Medien ebenfalls gleichgeschaltet. Erst durch den Verleger Hugenberg, dann mit aller Konsequenz durch das Regime selbst. Nicht anders erging es der Presse in den kommunistisch regierten Ländern Osteuropas nach dem Krieg. Solche Vorgänge haben mich schon immer sehr beschäftigt. Oft beginnt die Gleichschaltung im stillen Einvernehmen, verbunden mit moralistischen Untertönen. Man geht dann langsam über zu staatlichen Geboten und Verboten, natürlich stets unter Berufung auf die politische Kultur und der richtigen moralischen Haltung. Nicht, dass damals in England eine "Appeasement-Politik" vertreten wurde, ist das Problem - sondern, dass fast nur diese Meinung verbreitet wurde. Nicht, dass hinter dem Eisernen Vorhang auch eine kommunistische Meinung vertreten wurde, war das Verheerende - sondern, dass nur diese vertreten werden durfte. V Und in der Schweiz? Ich halte nichts davon, der Presse von aussen oder von innen Fesseln anzulegen. Ich halte grundsätzlich nichts davon, Meinung zu unterbinden - auch jene nicht, die mir widersprechen oder die ich als verwerflich erachte. Solche Verbote sollte es in einem liberalen Staat nicht geben. Bei der Beschreibung von Tatsachen indes lege ich strengste Massstäbe an. Als ehemaliger Unternehmer und auch heute als Bundesrat weiss ich, wie sehr wir auf eine ungeschminkte Berichterstattung angewiesen wären. Falsche Realitätsbeurteilungen führen zwangsläufig zu falschen Entscheidungen. Ich erlebe es jetzt in der Verwaltung wieder, wie stark das Bestreben ist, die Wahrnehmung dem anzupassen, was man gerne hätte. Und umgekehrt: Was nicht sein soll, darf nicht sein. Aus Erfahrung weiss ich, dass auch wir nur in einem kritischen Umfeld zu tragbaren Entscheidungen kommen. Hier könnte und dürfte uns eine vielfältige Medienlandschaft helfen. Aber auch nur dann, wenn sie nichts ausklammert. Und hier staune ich oft über unsere so genannte "Pressevielfalt". Gerade in den wichtigsten Fragen herrscht ein grosser Einheitsbrei vor. Dies kommt der Regierung zu gute, wenn man auch nicht immer weiss, ob die Regierung und Verwaltung die Sicht der Gegebenheit von der Presse übernommen hat, oder umgekehrt. Ich weiss, oft nährt Sie die Verwaltung mit ausführlichen Dokumentationen, die Sie nur noch abzuschreiben brauchen. Manchmal habe ich deshalb das Gefühl, die Zeitungen würden mehr geklebt als geschrieben. VI Finanzielle Überlebensfähigkeit des Staates Nehmen wir ein Beispiel: Jeder denkende Staatsbürger - und dazu zähle ich auch die Journalisten - weiss, dass unser Land unter einer riesigen Schuldenlast leidet, die bald 150 Milliarden Franken zählt. Jeder weiss, unser Staat lebt weit über seine Verhältnisse und beeinträchtigt massiv das Wirtschaftswachstum, unsern Wohlstand, unsere sozialen Errungen-schaften. Die Verschuldung stellt die Lebensgrundlage unseres Volkes zunehmend in Frage. Wer jedoch in der heutigen Zeit eine Ausgabenreduktion vorschlägt, wird fast unisono als "neoliberaler Zukunftsverhinderer", als "Staatsdemontierer" verunglimpft. Die Mehrheitspresse schürt sofort die Angst: "Sozialabbau", "tot sparen", "Bildung vernachlässigen" heissen die Schlagzeilen, die Sie täglich zu lesen oder zu hören bekommen und zwar gleichgültig in welchem Medium. Wohl gibt es Schattierungen: Die Ringierblätter und der Tagesanzeiger erklären den Kampf gegen das Sanierungsprogramm zur Doktrin, während die NZZ wenigstens noch im Grundsatz die Notwendigkeit einer Ausgabenreduktion anerkennt. Diese grundsätzliche Zustimmung - vor allem im Wirtschaftsteil - entpuppt sich dann schnell als höflichste Form der Ablehnung im Inlandteil, wo die Ausgabenreduktionen im Einzelfall eher abgelehnt werden. Ist das unsere ganze Pressevielfalt? Herr Bundeskanzler Schröder: Wenn ich von der Schweiz aus urteilen darf, auch Sie kennen diese schrillen Töne. Sie sind selber zum Objekt solcher Anwürfe geworden, weil Sie heute ausbaden müssen, was in den letzten 30 Jahren nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Schweiz von allen gutgeheissen worden war: Nämlich die weitgehend durch den Staat aufgebaute und garantierte soziale Sicherheit für alle. Sie werden durch die realen Verhältnisse zu Korrekturen gezwungen und müssen sich als "neoliberaler Sozialabbauer" beschimpfen lassen - da schützt auch kein sozialdemokratisches Parteibuch mehr. Wenn ich unseren Zeitungen glauben darf, leiden Sie bei sich zu Hause unter einem Lafontaine. Ich kann Sie trösten: Sie haben einen, wir haben eine ganze Reihe davon. Angesichts dieser Erfahrungen dürfte Ihr Verhältnis zur deutschen Medienlandschaft etwas belastet sein. Das hat Sie, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, schon dazu verführt, in die Schweiz zu blicken wie ins gelobte Land. So rühmten Sie etwa unsere einheimische Boulevardpresse dafür, stets "die politische Kultur" bewahrt zu haben. Doch ich glaube, das ist Ihre Gnade des fernen Blicks. Unser täglicher "Blick" sieht etwas anders aus. Wo aber wird in unserem Land "gespart"? Schauen Sie nur mal das Wort "sparen" an. "Sparen" heisst doch, Geld, das man hat, auf die Bank zu bringen, auf dass es bleibe, bis man es braucht. Davon sind wir weit entfernt. Unsere Kassen sind leer. Wir machen täglich mehr Schulden. Aber alles spricht vom Sparen. Dabei ist etwas ganz anderes gefragt: Wir müssen Ausgaben senken und Kosten senken. Das, was gute Unternehmer und gute Familienväter täglich machen, nämlich die Kosten im Griff halten. Diese Tugend wäre im Staat gefordert und sie wäre die sozialste Forderung unserer Zeit. Sie hören viel von "Sparprogrammen" aus dem Bundeshaus: Entlastungsprogramm 03, Entlastungsprogramm 04, Ausgabenverzichts-planung und dergleichen mehr. Doch wer die Realität erkennen will, sieht anderes. Für die nächsten Jahre ist im Bund keine Senkung der Ausgaben angesagt. Im Gegenteil: es sind Ausgabensteigerungen und weitere Verschuldungen trotz höherer Steuern, Abgaben und Gebühren vorgesehen. Die Ausgaben werden bis 2008 um 10% steigen - das entspricht einem jährlichen Ausgabenwachstum von 2,5%. Und dies trotz aller so genannten "Sparpakete"! Warum kommt diese himmelschreiende Misswirtschaft in unserer Medienvielfalt kaum zur Sprache? Herr Bundeskanzler Schröder, Sie sehen, wir befinden uns leider auf dem gleichen Irrweg, den Deutschland schon begangen hat . Es ist ja gerade der Charme der Schweiz, dass wir die Fehler des Auslandes nachvollziehen - wenn auch etwas später. Die hat ein Deutscher festgestellt, der in der Schweiz an der Universität lehrte. Der Obmann von Weizsäcker in Bern. VII Tabuthemen Eine ganze Reihe von Themen, die die Bevölkerung beschäftigen, werden von den Medien weitgehend ausgeklammert, so auch die bedenkliche Entwicklung zu einigen Superstaaten in der Welt. Der Wert der Eigenständigkeit und Unabhängigkeit für die Schweiz wird gänzlich totgeschwiegen. Ebenso Fragen der Immigrationspolitik, der Ausländerkriminalität und des Asylrechtes. Auch hier herrscht eine feige Einheitsmeinung vor, diktiert von einer totalitär verstandenen "Political correctness". XI Inseratensperre In dieses Bild passt, dass Medien politische Inserate sperren. Ich habe solche Vorgänge vor meinem Eintritt in die Regierung öfters erleben müssen. Auch wenn ich die Fronten gewechselt habe: Ich halte solche Zensuren für völlig falsch. Damit werden bloss andere Meinungen kriminalisiert. Falsche Meinungen sind aber zu widerlegen und nicht zu verbieten. Ein Bundespräsident bezeichnete seine Gegner in einem Abstimmungskampf als "moralisch verwerflich". Sind denn Bundesräte moralische Instanzen, die sich wie Ersatzgötter aufführen und die Menschen in Gut und Böse teilen? Da dieser Bundesrat die gleiche Meinung vertrat wie die Mehrheitspresse blieb er vor Kritik verschont. Inserate sperren, weil die Meinung einem nicht entspricht? Ich frage mich: Verspüren die Medien eigentlich Angst, dass die Bevölkerung andere Meinungen nicht verkraften könnte? Dass sie nicht fähig sei, selber abzuwägen und zu urteilen? In dieser Beziehung war der römische Statthalter Pontius Pilatus viel weiter als die meisten Medien in der Schweiz; er war sich dieser Schwierigkeit bewusst, als er fragte: "Was ist die Wahrheit"?

16.09.2004

Die Zürcher Freiheitsrede: Ein Versuch, sich Winston Churchills Charakter zu nähern

Ansprache von Bundesrat Christoph Blocher anlässlich des Churchill-Symposiums vom 16. September 2004 in Zürich 16.09.2004, Zürich Es gilt das gesprochene Wort Herr Staatspräsident Kwasniewski Liebe Gäste aus Polen Meine Damen und Herren Es ist ein symbolträchtiges Zusammentreffen, wenn sich heute Polens Staatspräsident und ein Vertreter der Schweizer Regierung hier in Zürich begegnen, um an den grossen Engländer Churchill zu erinnern. Die historischen Verflechtungen lassen niemanden ungerührt: Unmittelbar nach dem Warschauer Aufstand, am 5. Oktober 1944, sprach Churchill die Bedeutung dieses heroischen Kampfes aus: "Es wird eine unvergängliche Erinnerung der Polen und der Freunde der Freiheit in aller Welt sein." In den 80er Jahren war es wiederum Polen, das den entscheidenden Freiheitskampf führte und damit der Freiheit und Unabhängigkeit der Staaten in Osteuropa Auftrieb verlieh. Churchill begegnete auch der Schweiz mit grösster Sympathie, besonders wegen ihrer aussenpolitischen Zurückhaltung. Er anerkannte, dass unser Land gerade dank der dauernd bewaffneten Neutralität vom Krieg verschont blieb und mit ihm mehr als 10'000 polnische Soldaten, die hier ab 1940 Zuflucht gefunden hatten. Churchills Widersprüchlichkeit und sein historisches Denken Churchills Wirken für ein freies Europa ist allgemein anerkannt - weit weniger aber seine Person und sein Charakter. Als ob sich Taten von einer Persönlichkeit trennen liessen, machen viele einen vorsichtigen Bogen um die komplexe Gestalt Churchills. Winston Churchill ist der einzige Politiker von Weltrang, der je den Nobelpreis erhalten hat - nicht etwa für Friedensbemühungen, was bei Staatsmännern üblich ist - sondern für Literatur. Und zwar für seine mehrbändige Geschichte des Zweiten Weltkrieges, die 1953 - im Todesjahr Stalins - erschienen ist. Seine Autobiographie, 30 Bände stark - identisch mit der Weltgeschichte des halben Jahrhunderts und zweier erdballbewegender Kriege - runden dieses literarische Schaffen ab. Und all dies schrieb der gleiche Churchill, der Jahre zuvor noch erklärte: "Ich bin kein Journalist, der über Ereignisse schreibt, ich mache Ereignisse, über die Journalisten berichten." Hier zeigt sich eines: Die kantige Widersprüchlichkeit Churchills. Genau diese fasziniert. Denn widersprüchliche Menschen entwickeln ein positives Verhältnis zur Kritik. In ihrer Brust führen mindestens zwei Seelen eine dauernde Auseinandersetzung, was ihre Entscheide und ihre Sicherheit nach aussen stärkt. Diese Widersprüchlichkeit paarte sich bei Churchill mit einem ausgesprochen konservativen Temperament, das im historischen Denken selbst gründete. Dieses Denken immunisierte ihn gegen alle totalitären oder utopischen Versuchungen der Zeit. Ohne seine innere Kritikfähigkeit, ohne sein geschichtliches Verständnis wäre Churchills Leistung kaum denkbar. Vorbild Churchill war ein Politiker mit der Fähigkeit zur schonungslosen Analyse und einer fast beängstigenden Weitsicht: Schon 1933, kurz nach dem Machtantritt Hitlers, redete er illusionslos über die aufziehende Gefahr des Nationalsozialismus. Er nannte diese Bedrohung zu einer Zeit beim Namen, als sie kaum jemand wahr haben mochte. Mit seinen Kassandra-Reden schreckte er regelmässig und unbeirrbar Englands Politiker auf, predigte den Widerstand, warnte vor der nazistischen Expansionslust. Mit wenig Erfolg. Noch schlimmer: mit gegenteiligem Erfolg. Er gilt damals als anachronistischer Querulant. Das Parlament lässt seine Reden stoisch über sich ergehen, sofern die Abgeordneten überhaupt im Saal verbleiben. Man wirft ihm schliesslich Populismus vor, um so alle Mahnungen in den Wind zu schlagen. Der gefeierte Mann der Stunde ist Chamberlain und dessen Appeasement-Politik. Nach dem Münchner Abkommen lässt sich der Rückkehrer Chamberlain von allen als Friedensretter bejubeln (Peace for our time), während Churchill einsam von einer "vollständigen Niederlage" (total and unmitigated defeat) spricht und anfügt, dass es besser sei, genau zu sagen, "was wir über öffentliche Angelegenheiten denken", und dass jetzt sicherlich nicht die Zeit sei, "in der es irgend jemandem anstünde, um politische Popularität zu werben". Davon mochte freilich niemand etwas hören. Der Zeitgeist scheute sich, der hässlichen Wirklichkeit ins Gesicht zu schauen. So wie sich der Zeitgeist immer scheut, die unangenehmen Dinge zu sehen, geschweige denn zu benennen. Mann der Stunde und seine Abwahl Erst als buchstäblich jedes Wort eintraf, das Churchill über München und seine Folgen vorausgesagt hatte, wurde er - dieser gescholtene Querulant und Einzelgänger - 1940 in der grössten Not zum Kriegspremier gemacht. Erst jetzt - unter dem Druck der Not und leider sehr spät - war man bereit, die Wirklichkeit zu hören. Angesichts des entfesselten Hitlers sprach der mutige Realist wiederum nur die Wirklichkeit ungeschminkt aus! Er versprach bei seiner Antrittsrede seinem Volk Blut, Schweiss, Tränen und Mühsal. Doch diesmal fand er dank seiner Glaubwürdigkeit und trotz der bitteren Worte sogar Zustimmung. Glaubwürdigkeit hat eben viel mit Realitätssinn zu tun. Aber 1945 - der Krieg war gewonnen - wählte das britische Volk seinen Helden ab. Die Sehnsucht nach endgültigem Frieden war im Volk nach dem Krieg begreiflicherweise stark und Churchills Opposition nährte diese Friedenssehnsucht nach Kräften und verhiess Ruhe und Versöhnung. Hätte es Churchill auch getan - er wäre spielend wiedergewählt worden. Doch er handelte anders: Trotz heftiger Bedenken seiner eigenen Partei weigerte er sich, in diese Schalmeienklänge einzustimmen. Er warnte kurz nach der Kapitulation Deutschlands prophetisch vor einer neuen Tyrannei, nämlich dem drohenden Polizeistaat im Osten. "They would have to fall back on some form of Gestapo." (BBC, 4. Juni 1945), prophezeite er nicht einmal einen Monat nach dem Kriegsende. Heute, bald 60 Jahre nach diesen Worten, wissen wir, wie berechtigt auch hier seine Weitsicht war. Churchills Charaktergrösse und seine Verpflichtung zur Sache wird noch sichtbarer durch diese Abwahl. Die Nachkriegsjahre Doch der 71jährige, abgewählte Energiemensch wollte nichts von Ruhestand wissen. Kaum abgewählt, arbeitete er von der ersten Stunde an auf seine Rückkehr ins höchste Amt hin, was ihm 1951 auch gelang. Daneben tat er, was er immer getan hatte: er schrieb und hielt Reden. Wie er vor seinem Rücktritt 1944 für ein unabhängiges Polen kämpfte, prägte er nach seinem Rücktritt 1946 in Fulton das berühmte Wort vom "Eisernen Vorhang". Er sprach auch hier aus, was wohl viele dachten, aber nicht zu sagen wagten: "Das sind die betrübenden Tatsachen am Morgen nach einem Sieg, der in so herrlicher Waffenbrüderschaft und im Dienste von Freiheit und Demokratie errungen wurde." (Fulton, 5. März 1946) Ein grosser Teil Europas sollte erneut einem totalitären Regime zufallen. Churchill in der Schweiz Im gleichen Jahr nahm Churchill die Einladung einer Gruppe schweizerischer Unternehmer an und verbrachte einen Monat in unserem Land. Domizil bot das malerische Bursinel oberhalb des Lac Léman. Erst gegen Ende seines Aufenthalts folgte ein offizielles Besuchs-programm, das ihn auch nach Bern führte. Tausende Schweizer bereiteten ihm - dem abgewählten Premier - auf seiner Fahrt begeisterte Empfänge. Auf der Freitreppe des Berner Rathauses hielt er eine kurze Ansprache an das Volk. In spontanen Worten erklärte Churchill den Zuhörern, dass er nicht als Feind irgendeines Landes in den Krieg gezogen sei, auch nicht als Feind Deutschlands, sondern einzig und allein gegen die Tyrannei. Oder eben für die Freiheit aller. Das offizielle London beobachtete zunehmend nervös Churchills Redetour und liess über das Foreign Office knapp verlauten, seine Reden nicht kommentieren zu wollen. Die Erklärungen des ehemaligen Premiers seien jedenfalls streng privater Natur und für die britische Regierung in keiner Weise verbindlich. (Solche Distanzierungen kommen uns ja nicht unbekannt vor.) Zürcher Rede Am 19. September 1946 sprach Churchill dann in Zürich. Seine Rede wurde seither oft zitiert und noch öfter missverstanden. Unbestritten dürfte sein, dass Churchill darin Freiheit, Demokratie und Sicherheit für Europa forderte. Also Volksherrschaft im Innern und Selbstbestimmung nach aussen. Er verweist in seiner Ansprache ausdrücklich auf die vier Freiheiten Roosevelts aus dem Jahre 1941 und die Atlantik-Charta, worin der amerikanische Präsident und er selber ihre Grundsätze für die Nachkriegspolitik festhielten: - Freiheit der Rede, das heisst freie Meinungsäusserung - Religionsfreiheit - freie Weltwirtschaft, freie Meere - und das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Weitblickend führt er einen Satz an, der typischerweise selten zitiert wird: "Ich will nicht versuchen, ein detailliertes Programm für Hunderte von Millionen Menschen zu entwerfen, die jene vier Freiheiten [.] geniessen wollen". Spüren Sie wieder seinen Weitblick? Er warnt bereits davor, Politiker könnten einst versucht sein, unter Anrufung der Freiheit und eines "visionären" Europas diese Freiheit zu programmieren, zu legiferieren und so einzuschränken. Auch hier müssen wir heute anerkennen, wie klar der Brite die Zukunft erfasste. Europa Was meinte Churchill mit Europa? Es gilt zu bedenken, dass dieser Aristokrat und Politiker in seinem Denken immer ein Mann des 19. Jahrhunderts und insofern auch Anhänger des britischen Imperiums geblieben ist. Was er auch nach 1945 anstrebte, war ein von Grossbritannien tariertes Gleichgewicht zwischen den europäischen Kontinentalmächten. Folglich will er auch keine französische Dominanz, fordert schon 1946 einen "Akt des Vergessens" und Versöhnung mit Deutschland: "Ohne ein geistig grosses Frankreich und ein geistig grosses Deutschland kann Europa nicht wieder aufleben." Vor allem wäre es zu wenig robust gegen die "fünften Kolonnen" Moskaus. Mit Europa meinte er den Kontinent: Frankreich, Deutschland, die Benelux-Staaten, Italien, wen auch immer - nur nicht Grossbritannien. Sein Land, aber auch das "mächtige Amerika", sah er in der Rolle eines "Freundes und Förderers dieses neuen Europa". Die immer noch lebendigen imperialen Sehnsüchte stillte er woanders: "Wir Briten haben unser eigenes Commonwealth." Churchill wünschte sich hier in Zürich, dass Europa "so frei und glücklich" werde wie die Schweiz. Diese "freie und glückliche" Schweiz hat für sich entschieden, einen anderen, eigenständigen Weg in Europa zu gehen, anders als die meisten anderen Staaten. Das gilt es zu respektieren. Vor allem von denen, die an die gemeinsamen Ideale Churchills appellieren, für die er sich mit seiner ganzen Schaffenskraft politisch und schriftstellerisch eingesetzt hat. Sein Verhältnis zu Europa fasst er in seinen letzten Lebensjahren wie folgt zusammen: "But we have our own dream and our own task. We are with Europe, but not of it. We are linked, but not combined. We are interested and associated, But not absorbed." (Winston Churchill) England hat also seinen eigenen Traum, seine eigene Aufgabe: Es fühlt sich Europa zugetan. Nur vereinnahmen, aufsaugen lassen, muss es sich deswegen nicht. Auf diese Worte Churchills verweise ich als Schweizer gerne, besonders in Erinnerung an die Zürcher Freiheitsrede. Ihnen, Herr Staatspräsident, mag dieses Churchill-Wort am Ende Ihres zweitägigen Staatsbesuches die Schweiz besser erklären helfen. Londoner Times Mit heute selten gewordener Klarsicht kommentierte damals die Londoner Times Churchills Zürcher-Rede: "Die Schweiz war ein besonders geeigneter Ort, um die Forderung nach den Vereinigten Staaten von Europa zu erheben [...] Jedoch hat sich die Schweiz, indem sie sich an ihre Neutralität als ihren besten Schutz klammert, bisher von allen Staaten Europas am wenigsten bereit erwiesen - und die Geschichte rechtfertigt ihre Weisheit - zu einer Einigung mit ihren Nachbarn in einem gemeinsamen Unternehmen. Das lehrt uns, dass, wenn die Vereinigten Staaten von Europa Churchills jemals Wirklichkeit werden sollten, die Schweiz kaum eine Mitgründerin dieser Union sein wird." In der Tat: Sie war weder Mitgründerin, noch ist sie heute Mitglied der Union. Kein einfacher Charakter Churchill war mit Sicherheit kein einfacher Charakter, oft auch kein angenehmer. Aber Leute, die Wohlanständigkeit als wichtigste Charaktereigenschaft vor sich hertragen, haben die Welt noch nie weiter gebracht. Sein Handeln und Denken wird nur auf dem Hintergrund dieses komplexen Charakters sichtbar. Seine innere Widersprüchlichkeit, der ungeschminkte Realitätssinn, seine positive Kraft der Sturheit und die manchmal fast kindliche Provokationslust waren dazu Voraussetzung. Die "Guten" wollten damals alle den Frieden mit Hitler und bekamen den totalen Krieg. Die Freiheit für Europa rettete das "Monster", wie ihn seine Gegner schimpften: Der von den Wohlanständigen geächtete Winston Churchill. Zum Wohle aller hat er es getan, nicht zuletzt auch zum Wohle der Wohlanständigen.

16.09.2004

Einweihung des Bundesstrafgerichts in Bellinzona

Ansprache von Bundesrat Christoph Blocher 16.09.2004, Bellinzona Es gilt das gesprochene Wort Herr Gerichtspräsident, Herr Regierungsrat Herr Ständerat, Sehr geehrte Richter und Richterinnen des Bundesstrafgerichts, Meine sehr verehrten Damen und Herren Die Justiz ist ein kostbares Gut. Ein Land, in dem die Gerichte rasch, unabhängig, unparteiisch und sorgfältig urteilen, hat einen unschätzbaren Vorteil gegenüber Ländern, in denen die Justiz schlecht funktioniert. Je mehr Gesetze ein Land kennt, umso wichtiger ist, dass den Rechts-unterworfenen eine korrekte und rechtsgleiche Anwendung des Rechtes garantiert ist. Dies schafft bei den Bürgern und Bürgerinnen, aber auch bei der Wirtschaft des In- und Auslands, Vertrauen. Vertrauen in die Gerichte erhöht die Verlässlichkeit der Rechts- und Geschäfts-beziehungen des Wirtschaftslebens. Darum: Es ist alles daran zu setzen, dass die Schweizer Justiz ihre Aufgabe effizient, unbeeinflusst und nur dem Recht verpflichtet erfüllt. Denn damit leistet die Justiz einen wesentlichen Beitrag für den Wohlstand unseres Landes. Kann unsere Justiz diese Ansprüche erfüllen? Unser bisheriges Justizsystem stammt aus einer Zeit der lokalen Verhältnisse. Die Rechtsbeziehungen zwischen den Bürgern und Bürgerinnen spielten sich zur Zeit der Gründung unseres Bundesstaats bis weit ins 20. Jahrhundert hinein mehrheitlich in den jeweiligen Regionen ab. Grenzüberschreitende Geschäfte waren selten, ebenso die grenzüberschreitende Kriminalität. Das hat sich grundlegend geändert. Die rasant wachsende Mobilität hat die Welt in den letzten Jahrzehnten kleiner gemacht. Globalisiert wurden Gesellschaft und Wirtschaft - aber auch die Kriminalität. Die im Jahre 2000 von Volk und Kantonen beschlossene Neu-Organisation der dritten Staatsgewalt ist Antwort auf diese Entwicklung. Sie will den Anforderungen unserer heutigen Gesellschaft an die Justiz Rechnung tragen. Zu diesen Anforderungen gehört im Bereich der Straf-Justiz, dass bestimmte grenzüberschreitende Delikte, also Straftaten mit interkantonalem und internationalem Bezug, auch vom Bund verfolgt und beurteilt werden. Mit der Schaffung des Bundesstrafgerichts - das wir heute einweihen dürfen - wurde dieser Internationalisierung der Kriminalität Rechnung getragen. Neben der Neu-Organisation der Strafgerichtsbarkeit bringt die Justizreform zudem eine Vereinheitlichung der Prozessverfahren: Sowohl im Bereich des Zivilrechts als auch im Bereich des Strafrechts sollen die heutigen 26 kantonalen Prozessordnungen bereits in wenigen Jahren durch ein einheitliches eidgenössisches Verfahrensgesetz abgelöst werden. Es ist geplant, dass der Bundesrat dem Parlament bereits im nächsten Jahr die Botschaft zu einer vereinheitlichten Strafprozess-ordnung unterbreiten wird. Der Entwurf für die gesamtschweizerische Zivilprozessordnung soll dann ein weiteres Jahr später folgen. Vereinfachung Auf höchster Gerichtsebene des Landes zeichnet sich ferner eine Vereinfachung der Rechtsmittel ans Bundesgericht ab. Damit einher geht die Schaffung eines Bundesverwaltungsgerichts für die Beurteilung von Streitigkeiten des öffentlichen Rechts. Mit diesen Neuerungen, die zur Zeit vom Nationalrat behandelt werden, soll die in der Verfassung verankerte Rechtsweggarantie eingelöst werden. Wir feiern mit der heutigen Einweihung des Bundesstrafgerichts ein erstes konkretes Ergebnis der Justizreform. Das neue Gericht, welches sich als dritte Justizbehörde neben - oder wenn Sie wollen "unter" - die beiden bereits bestehenden obersten Gerichte in Lausanne und Luzern reiht, stellt eine erste Säule des neu gebauten - oder zumindest grundlegend renovierten - Justizgebildes dar, zu dem Volk und Stände mit ihrem JA vom 12. März 2000 den Grundstein gelegt haben. Was ist nun von diesem neuen Bundesstrafgericht in Bellinzona zu erwarten? - Das Bundesstrafgericht Bellinzona leistet bei neuen Erscheinungsformen der Kriminalität und bei der Bekämpfung dieser neuen Delikte einen wichtigen Beitrag. Es kann dies aus mehreren Gründen besser tun als seine Vorgängerinstitutionen, die Anklagekammer des Bundesgerichts und die kantonalen Gerichte. - Das neue Gericht kann die Beurteilung der zur Anklage gebrachten Sachverhalte rascher, zielgerichteter und konsequenter vornehmen, als dies mit den alten Strukturen der Fall gewesen wäre. - Der Rechtsschutz ist für die von einem Strafverfahren betroffenen Personen deutlich besser: Wer der Bundesstrafgerichtsbarkeit untersteht, hat neu die Möglichkeit, das erstinstanzliche Urteil an eine zweite Instanz, weiterzuziehen. Das war bis Ende März dieses Jahres nicht der Fall. - Der Ersatz der Anklagekammer des Bundesgerichts durch die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts bringt eine willkommene Entlastung unseres obersten Gerichts. - Und es bringt - das nur nebenbei gesagt - auch eine Entlastung der Bundeskasse. Dezentrale Lage im Zentrum Das Bundesstrafgericht liegt in Bellinzona. Die Berner Verwaltung sagt dem dezentral. Sie hat die Schweiz nicht begriffen. Die Schweiz hat kein Zentrum. Das Bundesgericht liegt zwar fernab von der Verwaltungs-betriebsamkeit Bern, dafür im Zentrum der Alpensüdseite. Dieser Umstand ist positiv nicht nur für den Kanton Tessin, der sich ja in der Standortdebatte mit grossem Engagement dafür eingesetzt hatte, den Zuschlag für eine der neuen Justizbehörden zu erhalten. Nein, diese Lage ist auch positiv für das Gericht selbst. Die Justiz als dritte Staatsgewalt tut nämlich gut daran, ein wenig Distanz zu Bern zu haben. Das hat sich beim Bundesgericht in Lausanne und beim Eidgenössischen Versicherungsgericht in Luzern bewährt, und es wird sich auch beim Bundesstrafgericht in Bellinzona und beim Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen bewähren. Die Dezentralisierung entspricht dem Wesen unseres föderalistischen Landes, das kein Zentrum hat und auch kein Zentrum haben will. Welche positiven Auswirkungen hat die Distanz zu Bern nun für Sie, sehr geehrte Richter und Richterinnen des Bundesstrafgerichts? Ganz einfach: Die (strenge) Fuchtel von Regierung und Parlament in Bern ist weit entfernt! Und auch die Fuchtel des grossen Bruders in Lausanne wird weit entfernt sein. Diese Vorteile sind für Ihre Tätigkeit nicht unwesentlich, auch wenn sie vielleicht «nur» psychologischer Natur sein mögen. Sie geben Ihnen nämlich die Möglichkeit, Ihren Beruf noch unbeeinflusster und freier auszuüben. Ergreifen Sie daher diese Chance! Nutzen Sie Ihre Unabhängigkeit «ännet dem Gotthard» - diesem Schutzwall richterlicher Unabhängigkeit. Grösse und Auslastung Mein Grusswort an das neue Gericht wäre aber unvollständig, wenn ich mich nicht zuletzt auch noch zu seiner Zukunft äussern würde. Dies umso mehr, als ja in letzter Zeit viel über die Auslastung des Gerichts geredet und geschrieben wurde. Das neue Gericht ist zur Zeit ein relativ kleines Gericht und wird möglicherweise auch in Zukunft ein relativ kleines Gericht bleiben. Denn es gilt halt auch heute noch, was der Chronist Johannes Meyer schon im Jahre 1875 in seiner Geschichte des Schweizerischen Bundesrechts geschrieben hat. Ich zitiere: «Während die Legislative und die Exekutive auch dann noch, wenn ihnen nichts vorliegt, eine Art von geschäftigem Müßiggange sich hingeben und sich Traktanden schaffen können, falls solche fehlen: ist dies bei der Justiz unmöglich. Der Richter spricht nur in streitigen Fällen; er urtheilt nur, wenn man bei ihm klagt.» Sie werden daher Verständnis haben, dass ein Ausbau des Gerichts, sei es in räumlicher oder personeller Hinsicht, sich einzig und allein nach der künftigen Geschäftslast richten kann. Wie sich diese entwickelt, ist im Moment schwer abzuschätzen. Ich bin aber überzeugt, dass wir bereits im nächsten Jahr etwas mehr Klarheit haben werden, um dann gestützt auf die neuesten Schätzungen die nötigen Entscheide über die Entwicklung des Gerichts treffen zu können. Bis dahin müssen Sie mit der derzeitigen Infrastruktur Vorlieb nehmen. Und im Übrigen hat ein kleines Gericht ja auch vielerlei Vorteile: Es ist überblickbar, einfacher zu führen, und auch wirtschaftlicher als ein grosses Gericht. Ich hüte mich daher davor, Ihnen möglichst viele Fälle zu wünschen. Stattdessen wünsche ich Ihnen und Ihrem Gericht, dass Sie die Ihnen zur Beurteilung vorgelegten Fälle - seien es nun viele oder wenige - unabhängig und nach bestem Wissen und Gewissen beurteilen werden. Es lebe die Justitia!

29.08.2004

Bundesräte haben immer wieder Unhaltbares versprochen

Justizminister Blocher über Glaubwürdigkeit, Asylgesetze und das Kollegialitätsprinzip 29.08.2004, SonntagsZeitung (Denis von Burg und Andreas Windlinger) Herr Bundesrat Blocher, mit distanzierten Auftritten zu Schengen haben Sie Schlagzeilen gemacht. Warum sind Sie so erstaunt, dass man Ihnen den Bruch mit der Kollegialität vorwirft? Ich bekämpfe Schengen nicht. Das sähe anders aus. Ich informiere über die Vorlage. Und damit halte ich mich an den Beschluss des Bundesrates, wonach eine beschlossene Vorlage von Bundesräten nicht bekämpft werden darf und glaubwürdig zu vertreten ist. Ihr Auftritt vor Ihrer Partei wurde als Anti-Schengen-Werbespot interpretiert. Ich bitte Sie! Man hat im Interesse der Glaubwürdigkeit davon zu sprechen, dass sich durch den Abbau der Grenzkontrolle Sicherheitsfragen stellen. Wir müssen aufpassen: Das Kollegialitätsprinzip darf nicht zum Alibi dafür werden, dass wir uns nicht mehr mit den Problemen unserer Vorlagen auseinandersetzen müssen. Wenn ein Bundesrat seine Dossiers nur halbherzig vertritt, wird es schwierig Abstimmungen zu gewinnen. Das Problem mit den Abstimmungen ist ein anderes: Die Leute haben das Gefühl, man versuche sie zu manipulieren, indem man nur die positiven Aspekte einer Vorlage präsentiert und die Nachteile verschweigt. Deshalb hat die Politik die Glaubwürdigkeit verloren. Das kommt daher, dass Bundesräte und Bundesämter immer wieder Propaganda und unhaltbare Versprechungen gemacht haben. Das ist zu ändern. Wo zum Beispiel? Die Behauptung, mit den Schengen- und Dublin-Abkommen würden wir im Asylwesen 100 Millionen sparen, ist nicht zu belegen. In Wahrheit weiss heute niemand, ob die Schweiz mit diesen Abkommen wirklich mehr Asylbewerber abgeben kann als sie zurücknehmen muss. Glaubwürdigkeit erreichen wir nur, wenn wir dem Volk die Vor- und Nachteile von Vorlagen darlegen. Ich werde nie Propagandasprüche machen, nur weil eine Bundesratsvorlage vor der Abstimmung steht. Auch wenn sie dereinst Ihre Asylvorschläge vor dem Volk vertreten müssen? Ich werde keine Kampagne machen, keine Steuergelder einsetzen und auch keine Meinungsumfragen durchführen, die dann erst noch geheimgehalten werden. Dafür rufen Sie nach Niederlagen im Bundesrat zur Opposition auf. Ihnen ist es im Bundesrat nicht gelungen, die humanitäre Aufnahme aus der Asylgesetzrevision zu streichen, im Bundesrat unterlegen. Darauf haben sie den Ständerat aufgefordert, dies zu korrigieren. Davon weiss ich nichts. Die meisten Kantone sind gegen die humanitäre Aufnahme, weil die Aufgenommenen nach sieben Jahre in ihre Obhut übergehen und ihnen damit zusätzliche Kosten verursachen können. Ich befürchte, dass die Kantone in einer Volksabstimmung die Asylgesetzrevision deshalb wohl bekämpfen würden. Darum hoffe ich, dass der Ständerat eine mehrheitsfähige Lösung finden wird. Früher haben Sie von einem grundlegend falschen System in der Asylpolitik gesprochen. Wo bleibt jetzt der grosse Wurf? Kurzfristig lässt sich das Asylproblem nur über die laufende Asylgesetzrevision entschärfen. Aber wenn die Revision über die Bühne ist, muss man das Problem grundlegender und auf internationaler Ebene angehen. Es darf doch nicht sein, dass jährlich zwischen 20'000 und 25'000 Asyl Suchende in die Schweiz einreisen, deren Gesuche dann jahrelang geprüft werden und von denen am Schluss dann etwa 2000 bleiben dürfen. Derweil muss man den grossen Teil der abgewiesenen Aslybewerber mühsam ausser Landes schaffen und hat insgesamt Kosten von fast einer Milliarde Franken pro Jahr. Das geht nicht. Dafür will ich Lösungen suchen. Und wie würde die Alternative aussehen? Wenn ich dann noch im Justizdepartement bin, werde ich mich für eine Kontingentslösung einsetzen. Über die Uno könnten die echten Flüchtlinge auf die Staaten aufgeteilt werden. Ein direktes Asylrecht wie bisher gäbe es nur noch gegenüber den Nachbarländern. Was würde dies für die Schweiz bedeuten? Die Schweiz könnte so doppelt so viele Flüchtlinge pro Jahr aufnehmen wie bisher - also rund 4000 - und hätte trotzdem viel weniger Asyl Suchende im Land als heute. Zudem gibt es die Möglichkeit einer Betreuung der Flüchtlinge in den Krisenregionen. Als neutraler Staat hätten wir hiermit eine unglaubliche Chance. Mein Departement, die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit und die Armee könnten gemeinsam Flüchtlingslager in den Krisenregionen auf die Beine stellen. Sie sind für Auslandeinsätze der Armee? Ich war nie dagegen, nur gegen solche mit Bewaffnung. Die Armee könnte Leute so ausbilden, dass sie innerhalb weniger Tage in der Lage wäre, in einer Krisenregion solche Aufbauarbeiten zu leisten. Mit dieser Idee bin ich nicht alleine: Der deutsche Innenminister Schily hat kürzlich ebenfalls vorgeschlagen, Flüchtlingslager in Afrika einzurichten. Sparen ist Ihr zweites grosses Thema. Als Mitglied des Bundesratsausschusses für die Verwaltungsreform haben Sie jetzt die Möglichkeit dazu. Braucht es Massnahmen beim Bundespersonalrecht? Sagen Sie nicht sparen: Es geht darum, Kosten zu senken, Defizite zu vermindern und Schulden abzubauen. Das unflexible Bundespersonalrecht ist ein ganz grosses Problem bei den Bestrebungen, die Kosten zu senken. Bisher sind in meinem Departement einige Leute freiwillig gegangen, und ich habe freie Stellen nicht mehr besetzt. Aber abbauen kann man so nicht. Was ist Ihre Lösung? Ich meine, die Bundesangestellten sollten privatrechtliche Arbeitsverträge haben. Bei der Abschaffung des Beamtenstatus auf Anfang 2002 hat man nur die Pflichten gestrichen, die Rechte sind weit gehend geblieben. Es ist heute sehr schwierig, Angestellte, die den Anforderungen nicht genügen, zu entlassen. Das muss möglich werden. Auch Abgangsentschädigungen in der Höhe von bis zu zwei Jahresgehältern müssen abgeschafft werden. Welches sind für Sie die weiteren Eckpunkte der Verwaltungsreform? Wir haben vielerorts einen Wildwuchs. Zum Beispiel gibt es heute ein Eidgenössisches Personalamt. Daneben hat jedes Departement und jedes Bundesamt nochmals eigene Personalabteilungen. Ein Beispiel: Gegenüber der Ems-Chemie gibt es beim Bund pro Angestellten sechsmal mehr Personalverantwortliche. Gleiche Probleme gibts bei den Informatikabteilungen, den Informationsdiensten oder den Finanzen. Da stimmt doch etwas nicht. Solche Doppelspurigkeiten muss man abbauen. Inwiefern? Beim Bund sollte die Vollkostenrechnung eingeführt werden. Heute tragen die Departemente ihre Kosten nur zum Teil selbst. Beispielsweise laufen die Mietkosten nicht über die Rechnung der einzelnen Departemente. So gibt es überhaupt keinen Anreiz, für leer stehende Büroräume andere Mieter zu suchen oder einen bescheideneren Standard zu wählen. Nur ein Beispiel in meinem Departement: Das Verwaltungsgebäude des Bundesamtes für Flüchtlinge gleicht dem Head-Quarter einer amerikanischen Grossbank. Mit diesen Vorschlägen riskieren Sie eine weitere Polemik. Ist jede Idee eine Polemik? Wir haben doch schwerwiegende Missstände. Ohne neue Vorschläge lassen sich diese nicht beseitigen. Das sind meine persönlichen Ideen. Der Bundesrat muss dann entscheiden, ob er diese Ideen weiterverfolgen will. Ich bin in den Bundesrat gewählt worden, um die Probleme zu benennen und zu lösen, nicht um sie zu ignorieren.