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Federal Councillorship

07.10.2004

Wer vor einer Volksdiktatur warnt, der handelt zynisch

07.10.2004, Weltwoche (Markus Somm und Urs Paul Engeler) Bundesrat Pascal Couchepin bezeichnet Sie als «eine Gefahr für die Demokratie». Eine härtere Kritik an einem Bundesrat ist kaum möglich. Dennoch reagierten Sie erst mit Verzögerung. Ich wollte keine Folge der Serie «Knatsch im Bundesrat» schreiben. Dafür sind die Themen zu wichtig für unser Land. Sie stecken die Attacken einfach weg? Im Gegenteil, ich bin zufrieden, dass die wichtige Diskussion über den Zustand unserer Demokratie, über das Verhältnis der Institutionen zum Volk endlich lanciert ist. Ich habe am Abend des Abstimmungssonntags bewusst versucht eine Kursänderung einzuleiten. Bis jetzt war es üblich, dass der Bundesrat nach einer Abstimmung das Volk beurteilt hat: er lobte, wenn es der Regierung gefolgt war, oder er tadelte, wenn es eine abweichende Haltung eingenommen hatte. Nun ist diese Belehrung nicht mehr möglich. Das erschüttert die Politik und auch die Presse, die ja in den meisten Fragen meinungsgleich sind. Herr Couchepin hat mein Anliegen aufgenommen. Er hat den Satz geprägt «Das Volk ist nicht der Souverän» und vor einer «Volksdiktatur» gewarnt. Bundespräsident Joseph Deiss hat sich der Meinung angeschlossen, die Mehrheit sei nicht immer massgebend. Die Positionen sind bezogen, die Debatte kann beginnen. Sie heben einen Streit oder Machtkampf im Bundesrat auf die Ebene eines demokratietheoretischen Seminars. Es gab im Bundesrat weder Streit noch Machtkampf. Aber jetzt ist eine heilsame Erschütterung des politischen Systems nötig. Mit den Wahlen vom 10. Dezember wurde, zum erstenmal in der Geschichte des Bundesstaates, der so genannte Oppositionsführer in die Regierung gewählt. Daraus ergeben sich zwangsläufig politische Auseinandersetzungen, auch über das Verhältnis zwischen Regierung, Parlament und Volk. Auch ein Volksentscheid kann falsch sein. Die Feststellung ist bezeichnend. Wer heute vor einer «Volksdiktatur» warnt, der handelt geradezu zynisch. In ganz Europa ist eher der gegenteilige Trend auszumachen. Darum will man im Hinblick auf einen EU-Beitritt die Demokratie auch hierzulande abbauen. Dies ist das langfristige Ziel der Relativierung der Volksentscheide. Bereits der Schengen-Vertrag entzieht gewisse Bereiche der direkten Demokratie, der EU-Beitritt täte dies noch mehr. Würden Sie sagen, Couchepins Vorliebe für die Integration in die EU ist ebenso gefährlich? Lassen Sie die Personen beiseite. Zu klären gilt: Welches sind die wahren Gefahren? Ist es die «Volksdiktatur» oder der allmächtige Staat? Keiner der Diktatoren des letzten Jahrhunderts, auch Hitler nicht, ist durch eine Volkswahl an die Macht gekommen. Aber er wurde durch das Volk bestätigt. Erst als die Demokratie nicht mehr funktionierte und nur mit Hilfe einer gleichgeschalteten Presse. Angenommen die Demokratie funktioniert: Hat das Volk immer Recht? Man kann es verführen. Nehmen Sie das Volk ernst. Natürlich gibt es solche Gefahren, aber man kann auch den Bundesrat verführen und auch das Parlament - und das ist viel einfacher, weil das sehr viel weniger Leute sind. Manipulieren Sie einmal vier Millionen Stimmbürgerinnen und Stimmbürger! Denken Sie nur an die Medien: Bundesrat und Parlament sind viel anfälliger auf Kritik und Lob in der Presse als das Volk. Da kommt es vor, dass eine Zeitung Ereignisse, die angeblich im Bundesrat stattgefunden haben, zum Gegenstand einer Kampagne macht. Und dabei ist nie etwas Derartiges vorgefallen. Am Schluss glauben manche Bundesräte selbst daran und nehmen Stellung zu Dingen, die so nie passiert sind. Tatsache ist, es braucht ungeheure Mittel, um in einer Abstimmung eine Mehrheit zu gewinnen. Die SVP hat offensichtlich diese Mittel und kann so die Meinung der Bürger beeinflussen. Dem glaubt die Regierung etwas entgegensetzen zu müssen. Die Mittel der SVP werden massiv überschätzt - im übrigen muss die Partei diese Gelder mühsam zusammenkratzen. Wichtiger ist: Wären die Mittel so entscheidend, wären viele Abstimmungen anders ausgegangen. Zudem: Wer die Presse hinter sich weiss, spart viel Geld. In den vergangenen Jahren standen bei wichtigen Auseinandersetzungen praktisch alle Medien auf der Seite der Befürworter. Wieviele Artikel wurden zugunsten der Einbürgerungsvorlagen verfasst? Wieviele dagegen? Ich habe keinen einzigen ablehnenden Artikel gelesen, und das Volk sagte trotzdem Nein. Wer muss da Inserate schalten? Die befürwortende Seite kann da getrost verzichten. Die Gegenpartei dagegen muss Inserate bringen, weil ihre Argumente im redaktionellen Teil nicht vorkommen. Natürlich sind die dann etwas provokativ, aber das ist nötig, um Aufmerksamkeit zu erregen. Ging das Muslime-Inserat Ihres Parteifreundes Schlüer nicht zu weit? Als Bundesrat beteilige ich mich nicht an solchen ästhetischen Debatten. Es geht um mehr als ästhetik: Mit gewissen Themen kann man die Bevölkerung manipulieren, indem man an dessen niedere Instinkte appelliert: Gegen Ausländer, für die Todesstrafe, für einen Krieg. Das lehrt nicht zuletzt die Geschichte. Hat eine Demokratie je beschlossen, einen Angriffskrieg zu führen? Stimmen die Bürger dem so leichtfertig zu? Gemäss meinen Kenntnissen wurden Kriege stets von den führenden Kreisen eines Landes ausgelöst - nie wurde darüber abgestimmt. Einzige glückliche Ausnahme: England 1940. Damals wählten die Briten mit Churchill vermutlich den Krieg. Kein Volk ist kriegslüstern - solange wirklich demokratische Verhältnisse herrschen. Zu den niederen Instinkten, die Sie erwähnen: Es ist eine Tatsache - ob es uns gefällt oder nicht -, dass unsere Ausländerpolitik für viele Bürger ein Problem ist. Würde man diese Sorgen Ernst nehmen, kämen die niederen Instinkte gar nicht erst auf. Niedere Instikte gibt es überall, nicht nur im Volk. Dass Regierungen gefährlich sind, ist seit zwei hundert Jahren unbestritten. Deshalb haben wir die Demokratie und keine Monarchie. Doch auch das Volk braucht Checks. Die haben wir ja - denken Sie an das Ständemehr, an die Menschenrechte, das Volksrecht und so weiter. Ich habe nie die absolute Volksherrschaft verlangt. Doch unsere Ordnung ist klar. Das Volk und die Stände sind der Souverän, der die Verfassung erlässt und ändert. Das Volk hat sich einen Teil der Entscheidungsbefugnisse - zum Beispiel bei den Steuern - ganz klar ausbedungen. Es will den Politikern nur eine beschränkte Macht geben. Die Regierung hat keine Kompetenz, die Entscheide der übergeordneten Instanz, des Volks, auszuhebeln. Der Bundesrat untersteht auch dem Parlament - eine Tatsache, die heute nicht überall geteilt wird. Wo stellt der Bundesrat sich über das Parlament? Es gäbe eine Diskussion bei der Unterzeichnung und Anwendung dringlicher völkerrechtlicher Verträge. Das er es auch gegenüber dem Volk tut, das hat noch niemand so klar gesagt. Pascal Couchepin hat diesen Trend der Machterweiterung der Exekutive angesprochen. Sie übertreiben. Er hat von den Grenzen einer Basisdemokratie gesprochen. Diese Grenzen gibt es bereits mehr als genug: die internationalen Verträge, die über dem Landesrecht stehen, Völkerrecht und Menschenrechte. Da gibt es Konventionen, die zwar von Volk und Ständen angenommen wurden aber laufend ausgebaut werden. Wie der Schengen-Vertrag, der später erweitert werden kann. Was mit einem Beitritt akzeptiert würde. Das muss man dem Volk vor der Abstimmung klar sagen. Was Sie wohl tun werden. Das sind Fehler. Sie darzulegen ist meine Pflicht.. Die politische Realität ist, dass die Macht im Land relativ kompliziert geteilt ist. Sie aber verabsolutieren den Volkswillen. Nicht das Volk leidet unter den Grenzen der direkten Demokratie. Den Politikern ist die Kompetenzordnung lästig. Darum versuchen sie, sich davon zu lösen. Das erzeugt in der Bevölkerung das lähmende Gefühl, nichts bewirken zu können. Die Urnengänge werden - immer mit Hilfe der regierungsfreundlichen Medien - in Bern hinterfragt, interpretiert, relativiert, umgebogen. Dass zwischen Bundesrat und Volk ein Spannungsverhältnis besteht, ist nicht neu. Die Regierung muss Reformen vorbereiten, voran gehen, Vorlagen unterbreiten. Aber der Bundesrat muss sich strikte an die Entscheide des Volkes halten! Wenn der Vorschlag gut ist, wird er auch angenommen; wenn er schlecht ist, nicht. Wenn die erleichterte Einbürgerung dreimal mit immer höheren Nein-Anteilen abgelehnt wird, dann war der Antrag schlecht und ist der Volkswille zu respektieren. Warum dürfen verworfene Vorlagen nicht wieder aufgegriffen werden? Viele Projekte wurden erst im dritten oder vierten Anlauf genehmigt - so die auch die AHV, die heute im Volk völlig unbestritten ist. Solange sich nicht wesentliche Rahmenbedingungen geändert haben, kann man die gleiche Vorlage nicht mehr bringen. Steuersenkungen sind nach dem Nein zum Steuerpaket also kein Thema mehr? Sicher nicht mehr in dieser Form. Wenn die Regierung einen Urnenentscheid kommentiert, verletzt sie die demokratischen Regeln doch nicht. Es geht um die prinzipielle Frage des Respekts gegenüber dem Souverän. Die Leute sind es mehr als überdrüssig, nach dem doppelten Nein zu den Einbürgerungsvorlagen sich von Medien und Politikern als «Rassist und Ausländerfeinde» betiteln zu werden. Demokratie gibt das Recht, Nein zu stimmen. Sie führen einen Rachefeldzug; Sie sind immer noch verletzt, weil der Bundesrat am 6. Dezember 1992, als das Nein zum EWR feststand, den Tag als «schwarzen Sonntag» bezeichnet hat. Nein. Das war nur ein besonders krasser Fall der bis heute andauert. Ich weise seit langem auf dieses Problem hin; nur hat es bis jetzt niemand aufgenommen. Der Bundesrat kommentiert, weil er weiss, dass die Leute ihn respektieren und eine Einschätzung erwarten. Es freut mich, dass die Leute den Bundesrat respektieren. Meine Kontakte mit der Bevölkerung zeigen aber, dass man auf diese Belehrungen gerne verzichtet. Sie wollen den Bundesrat doppelt schwächen: zum einen mit dem Maulkorb nach den Abstimmungen, zum andern mit dem Verbot einer aktiven Informationspolitik. Unsinn. Ich will den Bundesrat stärken in seinem Kompetenzbereich. Er soll dort seine Verantwortung wahrnehmen und zum Beispiel die Finanzen in Ordnung bringen. Er soll aber nicht länger politische Gruppierungen und Veranstaltungen finanzieren, Meinungsumfragen (die gar nie publiziert wurden) organisieren oder Leserbriefschreiber beschäftigen. Das wurde in den letzten Jahren gemacht, nun aber dank Bundesratsbeschluss gestoppt. Abstimmungskämpfe sind Sache der Parteien und Verbände. Die jetzige Zusammensetzung der Regierung entspricht der Stärke der Parteien. Wird sie künftig mehr Abstimmungen gewinnen? Das ist nicht entscheidend. Sie können immer Vorlagen ausarbeiten, die garantiert eine Mehrheit finden. Wenn Sie grosse Veränderungen anstreben - wie sie jetzt nötig wären, um die Probleme des Landes zu lösen -, dann werden Sie auch Niederlagen erleiden. Ich weiss nicht, ob das Volk einem radikalen Paradigmawechsel hin zu mehr Selbstverantwortung und 30 Prozent weniger Staat heute zustimmen würde. Das überraschend knappe Ja zur Mutterschaftsversicherung und die Zustimmung zum Zürcher Sparpaket zeigen allerdings, dass viele Leute viel Selbstverantwortung tragen wollen. Sind die verschärften Auseinandersetzungen im Bundesrat Ausdruck davon, dass das Konkordanzsystem am Ende ist? Sollte man zu einem Oppositionssystem wechseln? Das muss das Parlament entscheiden. Wenn sich drei Parteien zusammenraufen können und die Kraft haben gegen eine starke Opposition zu regieren, sollen sie es tun. Wer regiert die Schweiz? Das grösste Gewicht hat die Verwaltung. Ebenfalls ziemlich einflussreich sind die Wirtschaftsverbände und die Gewerkschaften. Das liegt nicht zuletzt daran, dass dem Schweizer die Wirtschaft am Herzen liegt. Wieviel Macht hat der Bundesrat? Der gehört meistens auch zur Verwaltung - das hängt vom einzelnen Departementsvorsteher ab. Als Bundesrat läuft man immer Gefahr, von der Verwaltung geführt zu werden. Die Beamten haben die Mittel, sie stellen die Anträge. Wer Anträge stellen kann, ist immer stark. Zu einem gewissen Grad muss das auch sein. Ehrlich gesagt: Als Bundesrat könnten sie es sehr schön haben. Sie müssten einfach alles unterschreiben, was von unten kommt..Kraft um Nein zu sagen, braucht es da nicht. Droht statt einer Volksdiktatur die Verwaltungsdiktatur? Diktatur ist der falsche Begriff - das würde ja bedeuten, dass einer allein etwas diktieren kann. Das ist bei der Verwaltung natürlich nicht der Fall - ich würde von einer Dominanz sprechen. Sollte der Bundesrat direkt vom Volk gewählt werden? Ich war immer dafür und bin es heute noch. Wir haben in den Kantonen mit der Volkswahl der Regierungsräte gute Erfahrungen gemacht. Die Regierung muss alle vier Jahre vor die Bevölkerung treten, muss sich der Kritik aussetzen und ab und zu gibt es auch Abwahlen. Welche anderen Institutionen wollen Sie verändern? Das ist ein Missverständnis: Ich will institutionell gar nichts verändern - die Volkswahl ist ein altes Thema. Ob meine Partei das verfolgt, weiss ich nicht. Die Institutionen sollen so bleiben, wie sie sind. Aber ich möchte, dass die Politik die Bevölkerung ernst nimmt. Dass ich am Abstimmungssonntag aus diesem Grund darauf verzichtet habe, das Volk darüber zu belehren, wie gut oder schlecht es gestimmt hat, war nur ein kleiner Schritt in diese Richtung. Ein kleiner Kulturbruch, der zeigen soll, was ich anstrebe. Und die Botschaft ist angekommen - sonst würden wir heute kaum mehr darüber sprechen. Mit anderen Worten, es läuft gut. Es läuft gut? Man wirft Ihnen vor, dauernd die Kollegialität zu verletzen. Ich wüsste nicht, wann. Es ist ja interessant, wie aufmerksam mich alle beobachten an einer Pressekonferenz: Verletzt er die Kollegialität oder nicht? Hat er genug Herzblut? Da stimmt doch etwas nicht. Das Kollegialitätsprinzip darf nicht missbraucht werden, um unangenehme Dinge zuzudecken. Ich bin für Transparenz. Kollegial sein heisst: Wenn die Regierung etwas beschlossen hat, darf ich nicht mehr dagegen kämpfen. Das habe ich noch nie gemacht. Aber ich bin nicht verpflichtet, meine eigene Meinung in den Kühlschrank zu legen. Und Tatsachen auszusprechen ist kein Widerspruch zum Kollegialitätsprinzip. Daraus kann man auch eine Kunstform entwickeln. In der Arena haben Sie die Einbürgerungsvorlagen bekämpft, indem sie nichts erwähnten, das dafür sprach. Weil alle wussten, wie Sie wirklich denken, war das ein sehr effiziente Methode. Ich habe die Vorlagen nicht bekämpft. Die Wahl vom 10. Dezember war eine Entscheidungswahl. Das Parlament hat jemanden gewählt, von dem man ganz genau weiss, dass er in den wesentlichen Fragen anders denkt. Früher war es ja oft so, dass man vor der Wahl eines Bundesrates nicht wusste, wo er eigentlich steht. Das erleichtert es ungemein, "kollegial" zu sein. Ist es im Rahmen der Kollegialität, wenn Ihnen Couchepin vorhält, Sie seien totalitär? Ich habe das nicht so gelesen. Kollegial? Ich weiss es nicht und kümmere mich hier nicht darum. Dieser Begriff ist so abgedroschen, dass er nichts mehr heisst. Man soll nicht so empfindlich sein: Es ist doch einem Regierungskollegen nicht verboten, mich zu kritisieren.

07.10.2004

Der regulierte Bauer

Ansprache von Bundesrat Blocher an der Eröffnungsfeier der OLMA, Schweizer Messe für Landwirtschaft und Ernährung 07.10.2004, St. Gallen Es gilt das gesprochene Wort Herr Nationalratspräsident Meine Damen und Herren Vertreter der Eidgenössischen Räte Herr Präsident des Bundesgerichtes Frau Kantonsratspräsidentin Herren Regierungspräsidente des Kantons St. Gallen und des Tessins Meine Damen und Herren Regierungsrätinnen und Regierungsräte Herr Stadtpräsident Vertreterinnen und Vertreter der Politik, der Justiz, des Militärs, der Wirtschaft und der Landwirtschaft, der Kirchen, der Kultur und der Medien Liebe Frauen und Männer Cari amici della Svizzera Italiana OLMA OLMA. Die meisten - vor allem jüngere Leute - wissen heute nicht mehr, was sich ganz ursprünglich hinter den vier Buchstaben verbirgt. Das ist an sich auch nicht tragisch, denn die OLMA ist ein Markenzeichen besonderer Art geworden. An der OLMA können wir den rasanten Wandel der Zeit verfolgen, den gerade auch die Landwirtschaft in den letzten 60 Jahren erfasst hat. Die OLMA als Ostschweizerische Land- und Milchwirtschaftliche Ausstellung ist zum Gütezeichen für eine weit über die Landwirtschaft hinaus wirkende bedeutende Ausstellung und Messe geworden. Doch vieles hat sie aus den Ursprüngen mitgenommen. Die Ostschweiz Ganz gewiss die Ostschweiz. Ich verhehle es nicht: Gerade weil die OLMA ein Grossereignis für die Ostschweiz darstellt, bin ich besonders gerne gekommen. Ich weiss, meine Damen und Herren: Die Ostschweiz hat oft das Gefühl, von der Bundeshauptstadt vernachlässigt zu werden. Ganz unberechtigt ist dieses Gefühl nicht. Von den Grossagglomerationen der Schweiz und der Romandie wird in Bern weit mehr geredet, als von der Ostschweiz. Weil sie auch mehr fordern als die Ostschweiz. Und da zähle ich Zürich dazu. Wer mehr fordert, bekommt auch mehr. Ich meine aber, seien Sie froh. Die Ostschweizer sind besonders fleissig, tüchtig und vor allem selbstverantwortliche Menschen. Darum stehen diese Kantone in Bern nicht gerade im Rampenlicht, dafür stehen sie insgesamt besser da. Eine Reise durch die Kantone beweist meinen Eindruck: Diese Ostschweizer Qualität prägt die Menschen, die Landschaft, die Sauberkeit, den Blumenschmuck, die Gärten, die Firmen und vieles mehr. Ich meine, der Ostschweizer Charakter habe Vorbildfunktion für die Schweiz und die OLMA ist Ausdruck davon. Das Tessin Es trifft sich gut, dass in diesem Jahr der Kanton Tessin Ihr Gast ist. Viele Tessiner verspüren nämlich auch das Gefühl, dass ihr Kanton von Bern geradezu vernachlässigt werde. Auch dieses Gefühl ist nicht ganz unberechtigt. Es fällt mir auf, dass zum Bespiel dann, wenn von "welschen" Kantonen gesprochen wird, die Südschweiz oft vergessen wird. Dabei verfügt auch der Tessin wie die Ostschweiz über ganz besondere Eigenheiten und trägt so zum grossen Reichtum unseres Landes bei. Also lassen wir den Kantonen und Regionen nicht nur ihre Besonderheiten, sondern pflegen wir sie - gerade an einem Tag und Anlass wie heute. Es ist schön, dass die Ostschweiz und das Tessin die beiden neuen höchsten Gerichte in St. Gallen und Bellinzona bekommen. Die Landwirtschaft Noch heute stehen an der OLMA aber auch die Landwirtschaft und die Bauernkultur im Vordergrund. Ein junger Bauer erzählte mir kürzlich, sein Vater hätte ihm auf dem Totenbett gesagt: "Nimm mit, was ich dir sage, mein Sohn: Du musst immer genau hinhören, was sie dir in Bundesbern empfehlen und dann stets das Gegenteil tun." Als Bundesrat gibt mir dieser Ratschlag zu denken: Ein wahrer Kern steckt leider darin. Unsere so stark gelenkte Landwirtschaft wird von Bern aus zentral gesteuert. So oft ein Missstand oder eine Lücke erkannt wird, versucht man sofort zu korrigieren, zu lenken, zu planen. Was geschieht? Der Markt reagiert sensibel auf jede staatliche Massnahme, aber weil alle das gleiche tun, kommt es zu einer Überreaktion des Marktes und die Misere beginnt wieder von vorne. Daher glaubt der alte Bauer: Wer stets das Gegenteil tut, ist dann der Erste, wenn in Bern das Gegenteil vom Gegenteil empfohlen wird. Aber aus dieser Äusserung spricht natürlich auch eine gewisse Resignation. Nämlich die Erkenntnis, dass die Schweiz zum Opfer ihrer eigenen Agrarbürokratie geworden ist. Alles - der kleinste Missstand - wurde und wird durch eine neue Vorschrift reguliert, so dass die Bauern zunehmend in eine heillose, die Produktion verteuernde Zwangsjacke gesteckt wurden und sich nicht mehr recht zu bewegen wissen. Es ist dringend und zwingend, die Bauern aus ihrer dauernden Bevormundung in die Mündigkeit zu entlassen. Dies zum Wohle des Landes, zum Wohle der wichtigen Aufgaben, die der Bauernstand zu erfüllen hat, aber nicht zuletzt auch zum Wohle der Bauern selbst. Nur wenn der Bauer wieder ein freier Unternehmer sein kann, können wir diese Probleme lösen. Ein Rheintaler Bauer hat kürzlich in einer Zeitschrift beschrieben, wie ihm die hiesige Bürokratie das Leben schwer macht: "Ich will ja nicht jammern, aber de huere Gugus mit all diesen Richtlinien... Mein künftiger Schwiegersohn bauert ennet dem Rhein, und der lacht nur, wenn er mich mit dem Blöckli im Poschettli herumlaufen und immer alles aufschreiben sieht. Wie viel bschütte ich? Wann? Wo? Was spritze ich wohin? Bei mir kommt der Milchinspektor, der Tierschutzkontrolleur, der IP-Suisse-Kontrolleur, der Schweine-Inspektor, der Henneneier-Kontrolleur, insgesamt acht Kontrollen pro Jahr. Drüben kommen sie einmal in zehn Jahren und erst noch nach Voranmeldung." Bürokratie kostet. Den Preis zahlen wir alle. Die Bedeutung der Landwirtschaft Meine Damen und Herren, wir haben es zu weit gebracht mit unseren wohlmeinenden Interventionen des Staates. Lassen wir die Bauern wieder Unternehmer werden! Wir haben doch mit dem Unternehmertum in der übrigen Wirtschaft gute Erfahrungen gemacht und so eine ausgezeichnete Versorgung der Konsumenten mit Gütern erreicht. Unsere Wirtschaft leidet ja höchstens darunter, dass es zu wenig echte Unternehmer gibt, das heisst Menschen, welche die Unternehmen besitzen und diese selbst führen, die Gewinn und Risiko tragen. Meine Damen und Herren, was ist denn der Bauer anderes als Eigentümer seines Hofes, den er auch selbst zu führen hat? Aber kann er in unserer bürokratisierten Landwirtschaft überhaupt als Unternehmer tätig werden? Es wird heute oft vergessen, dass die Bundesverfassung und das Landwirtschaftsgesetz dem Bauernstand sehr bedeutende Aufgaben zugewiesen haben. Und wir müssen uns fragen, ob wir mit diesen Aufgaben die Bauern nicht grundsätzlich überfordern. So haben die Landwirte laut Gesetz und Verfassung dafür zu sorgen: - dass das Land nicht vergandet. Der Bauer ist Landschaftspfleger, - dass die Nahrungsmittelversorgung aus eigenem Boden gewährleistet ist. Der Bauernstand ist Nährstand, - dass die Entvölkerung abgelegener Gebiete gestoppt wird. Aber nicht nur die genannten Aufgaben haben die Bauern zu erfüllen. Man hat auch bis ins letzte Detail geregelt, wie sie diese zu erfüllen haben - mit Vorschriften, Geboten und Verboten. Ich bin der Ansicht, dass die Bauern weiterhin per Verfassung angehalten werden, dafür zu sorgen, dass das Land nicht vergandet. In Oberitalien hat die EU jedem Bauer eine Prämie versprochen, wenn er seinen Betrieb stilllegt. Gehen Sie heute dort wandern. Es könnten einem die Tränen kommen. Innerhalb weniger Jahre ist die Region vollkommen verödet. Diesen Prozess müssen wir aus gemeinsamem Interesse heraus verhindern. Die minimale Bewirtschaftung soll man abgelten, die heutigen Direktzahlungen sogar erhöhen. Hingegen könnte man die Nahrungsmittelproduktion ganz dem Bauern überlassen, ohne Lenkung, ohne staatliche Unterstützung und Bevormundung. Bei den Produkten soll der Markt möglichst frei spielen. So können wir den bürokratischen Ballast kurzerhand streichen. Es ist ja verrückt, wie viele Formulare der Bauer jeden Tag auszufüllen hat. Das verteuert bloss die Produktion und schwächt die Konkurrenzfähigkeit. Der Kontrollapparat ist zu reduzieren. Es braucht diesen extensiven, speziellen Kontrollapparat nicht. Zum Beispiel ist völlig überflüssig, dass man dem Bauern vorschreibt, wie viele Kühe er pro hundert Quadratmeter Land halten darf. Oder ab welchem Tag er das Gras mähen kann, wie schwer ein geschlachteter Ochse sein darf oder wie viel Milch einer melken darf. Das ist doch absurd. Es braucht Vorschriften, damit der Boden nicht vergiftet wird, aber die gelten ja für alle, auch für Industrielle. Die Produkte werden ohnehin schon heute von den Grossverteilern, von der Lebensmittelkontrolle und von den Konsumenten überprüft. Auch die generellen Vorschriften des Tierschutzgesetzes genügen als Richtlinien für die Tierhaltung. Wenn der Konsument beispielsweise Eier von glücklichen Hühnern will, so werden die Grossverteiler diese von den Bauern verlangen. Und wenn der Kunde Eier von superglücklichen Hühnern mit psychologischer Rundumbetreuung will und bereit ist, den Preis dafür zu zahlen, dann wird er diese superglücklichen Eier bekommen. Der Staat muss hier nicht eingreifen. Wenn der Markt danach verlangt, so werden die Bauern ökologisch produzieren. Qualitätskriterien müssen die Bauern und die Abnehmer untereinander aushandeln. Der regulierte Bauer als Sündenbock Das grundsätzliche Problem wird vielerorts gesehen. Nur will man die Ursachen nicht erkennen. Man lastet alles den Bauern an: Die hohen Lebensmittelkosten, die Subventionen, Umweltverschmutzungen. Es mangelt nicht an Kritikern und Besserwissern. Doch was ihnen allen gemeinsam ist: Sie kritisieren nur das, was ist, und verschweigen, warum es so weit gekommen ist. So hat kürzlich wieder einmal ein Wirtschaftsprofessor - er bezieht seinen Lohn kaum aus der freien Marktwirtschaft - pauschal mit den Bauern abgerechnet. Er warf den Bauern vor, die Umwelt zu belasten, ja gar zu zerstören. Aber was versteht besagter Wirtschaftsprofessor unter "Umweltzerstörung"? Er schreibt: "Unsere heiligen Kühe produzieren nicht nur beruhigendes Glockengeläut, sondern nebst dem Mist auch schädliches Methangas in rauen Mengen. Industriell produzierte Treibhausgase werden scharf besteuert. Nicht so die aufgeblähten Mägen unseres aufgeblähten Viehbestandes." Was will er nun, der Herr Wirtschaftsprofessor? Eine Umweltabgabe für furzende Kühe? Zu den "aufgeblähten Mägen" also noch eine aufgeblähte Steuerbürokratie? Gewissermassen eine verursachergerechte Furzsteuer auf Kühe? Abgesehen davon, der Internationalist hat vergessen: Furzen etwa nur Schweizer Kühe? Verströmen die Kühe Argentiniens oder Frankreichs einzig Wohlgerüche? Müssen wir einen Vorstoss der Grünen erwarten, der die Abschaffung aller Kühe fordert? Wegen verantwortungslosem Ausstoss von Methangas? Lasst endlich die Bauern in Ruhe - und lasst endlich die Kühe in Ruhe... Die hohen Kosten Ein ebenso verbreitetes Gesellschaftsspiel ist, die Bauern für die hohen Lebensmittelpreise verantwortlich zu machen. Dass ein Hochpreisland auch eine Folge von vielen hohen Preisen - so auch gerade der hohen Löhne - ist, übersehen die Kritiker geflissentlich. Ein Innerschweizer Milchbauer berichtete mir nach einer Besichtigung österreichischer Landwirtschaftsbetriebe: Er habe nach dem Besuch nachgerechnet. Er könnte seine Milch dem hiesigen Verarbeiter gratis abgeben - ich wiederhole: GRATIS - die Milch würde dennoch teurer zum Verkauf angeboten als in österreichischen Läden. Offensichtlich leidet die Verarbeitung auch unter dem Preisniveau wie die Bauern. Ein anderes Beispiel: Ein bekannter Walliser Hotelier verbreitet regelmässig den Eindruck, die Bettenbelegung seines Hotels sei direkt an den Kartoffelpreis gebunden. Natürlich ist die Schweiz kein billiges Reiseland. Doch ist daran der Bauer schuld? Wie erklärt sich dieser Hotelier dann die Preisdifferenz zum Beispiel bei den Getränken? Oder macht er die Bauern auch für die Preisdifferenz eines Mineralwassers oder eines Kamillentees verantwortlich? Der unternehmerische Bauer der Zukunft Es ist dringend, dass die Landwirtschaftspolitik den Weg zum unternehmerischen Bauer ebnet. Das gilt auch für jeden einzelnen: Wer heute denkt, ich warte lieber ab, ich mache einfach weiter wie bis anhin und schaue, wie die Situation in fünf, zehn Jahren ausschaut, wird letztlich keinen Schritt weiter kommen. Noch schlimmer: Er wird immer einen Schritt zu spät sein. Das ist übrigens kein auf den Bauernstand beschränkter Vorgang. Auch ein Metallbauer, Drucker oder Informatiker muss beweglich bleiben. Jede Berufsgattung hat ihre Probleme und kann nur ahnen, was die Zukunft bringt, und sich entsprechend wappnen. Auch die Landwirtschaftspolitik der EU ist kein brauchbarer Ersatz. Die Union kennt die gleichen Probleme wie in der Schweiz, wenn auch auf einer höheren Ebene: Wer im deutschen Allgäu einen kleineren Betrieb mit vielleicht 30 Stück Vieh bewirtschaftet, steckt in der gleich schwierigen Situation, wie hierzulande ein Bauer mit 15 Kühen. Die Schweiz muss ihren eigenen Weg gehen, auch in der Landwirtschaft. Kopieren hat uns nie weiter gebracht. Mit der industriellen Produktion können wir ohnehin nicht konkurrenzieren. Wir müssen es anders und besser machen - nicht die anderen kopieren: Ich kenne viele deutsche Geschäftskunden von früher, die immer, wenn sie die Schweiz aufsuchten, hier Fleisch einkauften. Ich fragte: "Was? Fleisch? Ist doch hier viel teurer!" "Ja", sagten sie: "Aber die Qualität sei besser und insofern das Fleisch den höheren Preis wert." In den Grenzgebieten ist es keineswegs so, dass alle ins Ausland pilgern, um an billigeres Fleisch zu kommen. Denn viele Schweizer sind sich an andere Standards, an höhere Standards gewöhnt. Ein grosser Teil eines geschlachteten Viehs gelangt gar nie in unsere Läden. Im Gegensatz zum benachbarten Ausland. Qualität hat ihren Preis. Wenn bloss 50 statt 80 Prozent eines Schlachtviehs effektiv zu Lebensmittel verarbeitet werden, wird das Fleisch teurer - aber auch exklusiver! Meine Damen und Herren, Die gegenwärtige Agrarpolitik ist weit mehr eine erzieherische Sozialgesetzgebung mit Umweltschutz, Naturerhaltung und einem Wildwuchs bürokratischer Kontrollen. Die Landwirtschaftspolitik ist dermassen staatlich verknorzt, dass sie niemanden befriedigt: Sie wird teurer und trotzdem verarmen die Bauern. Das muss ändern! Es wäre zum Wohle des Landes, der Finanzen und nicht zuletzt des Bauernstandes - mindestens aller tüchtiger und unternehmerischer Bauern. OLMA als Zeichen des Besonderen Auch wenn der Zeitgeist in eine ganz andere Richtung weht: Es ist noch heute von Bedeutung, dass ein Land einigermassen autark funktioniert. Wir müssen weitsichtig und vorsichtig genug sein, einen gewissen Grad der Selbstversorgung aufrecht zu erhalten. Ein Land, das sich nicht mehr selber ernähren kann, ist abhängig, erpressbar und vielerlei Bedrohungen ausgeliefert. Nur: Diese wichtige Aufgabe verdient eine bessere Landwirtschaftspolitik. Meine Damen und Herren, die OLMA zeigt zum 62. Mal, was fähige, innovative Menschen erzeugen und erarbeiten können. Alle dürfen stolz darauf sein: die Ostschweiz - stellvertretend für die ganze Schweiz -, die Produzenten und die Konsumenten, der Nährstand und die Konsumenten. Am vergangenen Wochenende war ich Gast der Toggenburger Berggemeinde Mosnang. Sie feierte ihr 1150-Jahr-Jubiläum. Ich durfte eine intakte Dorfgemeinschaft in einer wunderschönen Landschaft erleben. Wir wurden verköstigt mit feinen Gerichten aus Schweizer Produktion. Wir waren Teilhaber einer lebendigen Volkskultur. Die Schweiz ist berühmt und beliebt für ihre Vielfältigkeit. Das zeigt sich gerade in der Volkskultur. Sei es bei der Musik, bei den Trachten oder in den kulinarischen Spezialitäten. Luganighe aus dem Tessin, Raclette aus dem Wallis, Weisswein aus der Romandie, Äpfel aus dem Thurgau, Bratwürste aus St. Gallen. Fast jede Region kennt ihre eigenen Brot- und Käsesorten. Diese ganze Vielfalt gründet in der Bauernkultur. Je mehr von Globalisierung geschwärmt wird, desto mehr schätzen die Menschen das Besondere und Eigenständige. Machen Sie es ihnen bekannt! Vermarkten Sie es! Werden Sie zu Verkäufern und Unternehmern Ihrer Produkte! Befreien Sie sich darum vom Vorschriftenkorsett des Staates. Viel Glück auf diesem steinigen Weg! Ich bin als Bundesrat bereit mit Ihnen den Weg der Entbürokratisierung des Bauernstandes zu gehen!

25.09.2004

Regulierung, Deregulierung, Selbstregulierung

Referat von Bundesrat Christoph Blocher anlässlich des Schweizerischen Juristentags am 25. September 2004 in Basel 25.09.2004, Basel Es gilt das gesprochene Wort Sehr geehrte Frau Präsidentin, Sehr geehrte Damen und Herren, Dass der Schweizerische Juristenverein über "Regulierung, Deregulierung, Selbstregulierung" spricht, lässt tief blicken. Daraus spricht nämlich die Vermutung, dass sogar die Juristen der Meinung sind, wir seien überreguliert. Das trifft sich gut. Ich teile nämlich diese Bedenken. Warum haben wir es soweit gebracht? Der tiefere Grund ist einfach: Der Staat hat sich in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr ausgeweitet, hat immer mehr Aufgaben übernommen, was in einem Rechtsstaat automatisch zu mehr Regulierungen, zu mehr Beamten, zu mehr Rechtsanwälten und mehr Juristinnen- und Juristen führt. Gefühl der Einengung und der Angst Es ist nicht zu verkennen: Diese Vorschriftenzunahme ruft bei den Menschen ein Gefühl der Ohnmacht und des Überdrusses hervor. Bürgerinnen und Bürger haben mehr und mehr das Gefühl, zu stark eingeengt zu sein, ja im Dickicht der staatlichen Normen zu ersticken. Bei zuviel Regeln müssen sie in ständiger Angst leben, mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. Vor allem Menschen, die Ausserordentliches tun, verspüren diese Angst. Dieses mulmige Gefühl der Angst lähmt. Das ist eine der Ursachen der fehlenden Dynamik unseres Landes - gerade auch wirtschaftlich. Grenzen der staatlichen Leistungsfähigkeit Negativ ist es aber nicht nur für die Bürger, sondern auch für den Staat selbst. Er hat mehr Macht und ist zunehmend überfordert. Seine Mittel reichen nicht mehr aus. Der Staat kann die Aufgabenerfüllung kaum mehr finanzieren, er treibt dem Bankrott entgegen. Der Staat hat sich in den letzten Jahrzehnten übertan. Oder anders ausgedrückt: weil wir den Staat in den letzten Jahrzehnten überfordert haben, muss er alles tun. Wer alles tun muss, kann nichts mehr recht tun. Das Gefühl der Einengung und der Unsicherheit auf der Bürgerseite und die - namentlich finanzielle - Überforderung des Staates auf der anderen Seite erklären, weshalb die Forderung nach Deregulierung heute noch lauter ertönt als noch vor ein paar Jahren. Ich meine, wir sind gezwungen, uns grundsätzlich zu fragen: Wie viel Staat ist überhaupt nötig? Wir müssen mit anderen Worten mehr nach dem "Ob" statt nach dem "Wie" des staatlichen Tätigwerdens fragen: "Soll, muss oder darf der Staat überhaupt tätig werden?" Die Frage der Regulierung und Deregulierung ist also zunächst ein politisches und erst dann ein juristisches oder gesetztechnisches Problem. Bei der Beantwortung der politischen Frage tun wir gut daran, zu den Ursprüngen - zum Fundament - der Schweiz zurückzukehren und uns an diesen zu orientieren. Wir sollten uns wieder dem liberalen Staatsverständnis zuwenden, das den schweizerischen Bundesstaat in seinen Anfängen geprägt und so erfolgreich gemacht hat. Zu viel Ballast hat sich seither auf diesem liberalen Credo abgelagert und versperrt den Blick aufs Wesentliche. Gewährleistung der inneren und äusseren Sicherheit Nach dem liberalen Staatsverständnis gibt es Aufgaben, die der Staat erfüllen muss und die nur er erfüllen kann. In erster Linie ist dies die Gewährleistung der persönlichen Sicherheit. Die Gewährleistung innerer und äusserer Sicherheit ist von gewissen Autoren des 19. Jahrhunderts (so etwa Wilhelm von Humboldt) sogar als einzige Aufgabe des Staates betrachtet worden. So weit gehe ich nicht. Aber innere und äussere Sicherheit - d.h. Polizei und Militär - gehören zu den unverzichtbaren Kernaufgaben des Staates. Es geht dabei um den Schutz von Leib und Leben, um den Schutz der essentiellen, ja der existenziellen Güter des Individuums, auch des Privateigentums. Tut es der Staat nicht, befiehlt das Faustrecht. Sicherung der Freiheitsrechte Der liberale Staat zeichnet sich aber auch aus durch die Gewährleistung der individuellen Freiheitsrechte. Der Schutz dieser Rechte - vor allem gegenüber dem Staat - ist neben dem Schutz von Leib und Leben eine zweite Kernaufgabe und Teil des liberalen Staatsverständnisses. So paradox es klingen mag: der Rechtsstaat muss den Bürger vor den Eigeninteressen eines sich verselbstständigenden Staatsapparates schützen. Nun hat der Staat aber diese Freiheitsrechte wieder reguliert und - unter dem Anliegen des Schutzes des Einzelnen - so umfassend reguliert, dass er gerade diese Freiheit in Frage stellt. Das gilt in ganz besonderem Masse für die Handels- und Gewerbefreiheit. Die Eingriffe und Regulierungen in diesem Bereich sind gewaltig, so dass die Früchte dieser Freiheit - nämlich die Sicherung der Wohlfahrt - allmählich ausbleiben. Die Deregulierung gerade in diesem Bereich wäre eine soziale Forderung dieser Tage. Reform heisst hier Entschlackung. Wir stehen erst am Anfang eines Prozesses. Vorerst wird nur über Deregulierung geredet, getan wird noch nichts. Aber auch in anderen Bereichen, wo individuelle Freiheitsrechte auf dem Spiel stehen, wie etwa im Bereich der Pressefreiheit, der Kulturfreiheit oder der Meinungsäusserungsfreiheit hat sich der Staat gewaltig - meist unter Berufung auf edle Motive - eingemischt und Freiräume vernichtet. Interessanterweise gelten heute Förderungsmassnahmen und Finanzhilfen des Staates ohne weiteres als grundrechtskonform. Gerade bei der Wirtschaftsfreiheit hat dies die rechtliche Dogmatik entgegen jeder vernünftigen ökonomischen Betrachtungsweise stets akzeptiert. Dabei vergessen die Dogmatiker und die Subventionsempfänger immer und gerne eine Maxime, die ihnen sonst lieb und teuer ist, nämlich: "Wer zahlt, befiehlt"! Wer zahlt, wird also auch - und muss auch - regulieren. Wer empfängt, muss sich die Regulierung auch gefallen lassen. Interessant ist in diesem Zusammenhang übrigens auch der Umstand, dass die ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Verankerungen der Freiheitsrechte nicht etwa Ausdruck ihres besseren rechtlichen Schutzes, sondern im Gegenteil Zeichen ihrer wachsenden Gefährdung und Einschränkung sind. Mit andern Worten: je länger und umfassender der Grundrechtskatalog in einer Verfassung ist, desto nahe liegender ist die Vermutung, dass es mit der tatsächlichen Gewährleistung der individuellen Freiheiten nicht zum Besten steht. So ist zum Beispiel die Eigentumsgarantie in der Bundesverfassung erst ausdrücklich aufgenommen worden, als es darum ging gleich festzuschreiben, wie und auf welchem Wege man diese verletzen könne. Der Grundsatz der Subsidiarität Die Verfassung hat diese Gefahren an sich erkannt und Grundsätze als Schranken eingebaut. So das Subsidiaritätsprinzip. Dieses Subsidiaritätsprinzip gehört zweifellos zu unserem Grundverständnis des Verhältnisses zwischen Staat und Gesellschaft und soll im Rahmen der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA), über die Volk und Stände Ende November dieses Jahres abstimmen werden, als Artikel 5a explizit in der Bundesverfassung verankert werden. Parallel dazu ist aber eine Tendenz zur Zentralisierung - d.h. gegen das Subsidiaritätsprinzip - unverkennbar. Dabei fällt bei dieser Missachtung der Freiheitsrechte auf, dass die Privaten, die Gemeinden und die Kantone ihre Rechte sehr oft an die höhere Ebene gegen Staatsbeiträge veräussern. Auch hier gilt eben: Wer zahlt, befiehlt! Der Eingriff in die eigene Souveränität lässt man sich nicht gerne gefallen - ausser man bekommt dafür Geld! Bekenntnis zu einer privatwirtschaftlich orientierten Marktwirtschaft Ebenfalls zu erwähnen ist schliesslich, dass Artikel 94 BV deutlich macht, dass die Wirtschaftsfreiheit nicht nur ein individuelles Freiheitsrecht, sondern auch ein Entscheid für ein bestimmtes Wirtschaftssystem beinhaltet. Damit werden der Übernahme von Aufgaben durch den Staat sowohl aus individualrechtlicher als auch aus institutioneller, systemischer Sicht Grenzen gesetzt: Leistungen, die von Privaten, welche im Wettbewerb untereinander stehen, erbracht werden, dürfen nicht vom Staat erbracht werden, wenn der Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit nicht ausgehöhlt werden und zu einem Papiertiger verkommen soll. Fehlentwicklungen Leider fehlt es nicht an Beispielen, die zeigen, dass die genannten verfassungsrechtlichen Grundsätze im politischen oder legislatorischen Entscheidungsprozess nicht genügend Orientierungskraft entfalten. Wohin führen diese Entwicklungen? Neben der Lähmung des Einzelnen und neben der Überforderung des Staates geschieht ein Drittes: Es verleitet die wirtschaftlichen Akteure dazu, nach Lücken zu suchen und mit vordergründiger Normkonformität gleichwohl ihre Interessen wahrzunehmen. Die sehr detaillierten amerikanischen Vorschriften im Bereich der Rechnungslegung von Firmen scheinen mir diesbezüglich ein besonders lehrreiches Beispiel zu sein. Haben sie etwa den Fall Enron verhindert? Im Gegenteil, sie haben sich als absolut kontraproduktiv erwiesen und letztlich die Transparenz verunmöglicht, die sie eigentlich schaffen sollten. Zu dichte und detaillierte Regulierungen sind in mehrfacher Hinsicht verfehlt: Einerseits verursachen sie Mehraufwand, um eine zumindest vordergründige Normkonformität sicherzustellen; das mag zwar die Anwälte freuen, ist aber volkswirtschaftlich unsinnig. Und anderseits führen sie dazu, dass Rechtsunterworfene, also zum Beispiel Unternehmen, ihre Entscheide zum Teil nicht mehr nach wirtschaftlichen Kriterien und Bedürfnissen treffen, sondern auf Anforderungen ausrichten müssen, die sachlich nicht gerechtfertigt sind. Es geht darum - bar jeder wirtschaftlichen Logik - Paragraphen zu erfüllen. Wahrnehmung von Verantwortung verlangt etwas anderes. Auch die Rechtsordnung sollte dies berücksichtigen. So ist zum Beispiel der Unternehmer und nicht der Revisor verantwortlich für eine richtige Bilanzierung. Wir haben diesem Gedanken bei der Revision des Obligationenrechtes betreffend der Bestimmungen im Bereich der Rechnungslegung von Unternehmen Rechnung zu tragen, indem auf dem Grundsatz der Verantwortung aufzubauen ist. Selbstregulierung Das Wort "Selbstregulierung" ist bezeichnend für unsere Denkweise. So sehr glaubt man an die gestaltende Kraft der Regulierung, dass man die Selbstverantwortung wieder ersetzt durch den Begriff Selbstregulierung. Was unsere Gesellschaft aber braucht ist: Mehr Selbstverantwortung, und diese kann oft auch ohne Regulierung auskommen. Den Bürger mittels Regulierung auf Selbstverantwortung zu trimmen, stellt bloss einen weiteren gut gemeinten Versuch dar, mit falschen Mitteln richtige Ziele erreichen zu wollen - ein Irrweg. Dank an den Schweizerischen Juristenverein "La loi devient insupportable, mais son absence l'est au moins autant", hat der französische Philosoph Jean-Maire Domenach treffend geschrieben. Ich weiss: Ohne Gesetzgebung, ganz ohne statthafte Regulierung geht es nicht. Aber mit zu viel geht es auch nicht. Gerade deshalb sind die Bemühungen um das richtige Mass und die Qualität staatlicher Regulierung so wichtig. Weniger staatliche Eingriffe, mehr Selbstverantwortung und die konsequente Beachtung des Subsidiaritätsprinzipes würden zu mehr Freiheit der Bürgerinnen und Bürger, zu mehr Wohlfahrt und einem wieder bezahlbaren Staat führen. Ich danke Ihnen und dem Schweizerischen Juristenverein, dass Sie sich dieser wichtigen Sache annehmen.

17.09.2004

Zu den Medien

Ansprache von Bundesrat Christoph Blocher anlässlich des Jahreskongresses der Schweizer Presse in Lausanne 17.09.2004, Lausanne Es gilt das gesprochene Wort Sehr geehrte Damen und Herren Sie haben mich gebeten, vor der Schweizer Presse über die Arbeit der Medien zu sprechen. Das ist eine delikate Ausgangslage. Wie auch immer die Rede ausfällt, es wird Vorwürfe absetzen. Finde ich allzu lobende Worte, werden die Kommentare lauten: "Schaut, schaut, der Blocher. Jetzt wirft er sich den Medien an die Brust. Seit er in der Regierung sitzt, ist offenbar auch bei ihm die Sehnsucht nach Pressezuneigung grösser geworden." Kommt hingegen von meiner Seite auch nur ein kritisches Wort zu viel, so war es die Rede eines persönlich Beleidigten, eine unangebrachte Medienschelte. Ich muss Ihnen gleich gestehen: Wenn ich mich schon einem Vorwurf aussetzen muss, dann lieber dem zweiten. I Auftrag der Presse Was ist der Auftrag der Presse? Zunächst eine Klarstellung: Weder die Verwaltung, noch eine Regierung, noch das Parlament, noch sonst jemand im Staat hat der Presse einen Auftrag zu erteilen. Es ist nicht Sache des Staates, den Auftrag der Medien zu definieren. Was die Politik dagegen tun muss, ist die Pressefreiheit zu gewährleisten. Die Freiheit der Presse gegenüber dem Staat ist eine Grundvoraussetzung für jede funktionierende Demokratie. II An die Verleger gerichtet Die Gewährleistung dieser Pressefreiheit ist das Wichtigste, was Sie als Verleger von uns Politikern verlangen können. Pressefreiheit ermöglicht Pressevielfalt, Pressevielfalt wäre die Basis für Meinungsvielfalt. Erfüllt unser Staat diese Aufgabe? Leider nur sehr mangelhaft. Sie hätten Grund genug, uns Politiker deswegen heftig zu kritisieren. Aber interessanterweise tun Sie es nicht. Schätzen Sie, verehrte Verlegerinnen und Verleger, verehrte Fernseh- und Zeitungsmacherinnen- und macher diese Freiheit etwa nicht? Es ist doch eine unwiderlegbare Tatsache, dass staatliche Beschlüsse nur ein einziges landesweites Fernsehen zulassen. Das Wichtigste an der Freiheit, nämlich private Vielfalt, die Konkurrenz der Meinungen, der Wettbewerb von Ideen wird mindestens beim nationalen Fernsehen unterbunden. Und auch Sie werden nicht behaupten wollen, dass unser Schweizer Fernsehen, welches sich zwar formell unabhängig nennt, punkto Personal oder in Bezug auf die Gebührenordnung, Werberegelung, etc. vom Staat unabhängig sei. Das gleiche gilt für die landesweiten Sender von Radio DRS. Und was ist mit jenen Nachrichtenagenturen, die vom Staat finanziert werden? Wie weit beeinträchtigt dies die unabhängige Berichterstattung? Natürlich! Als Regierungsmitglied muss mich dies nicht stören. Und ist da nicht auch etwas im Tun, dass künftig auch die Verleger vom Staat finanziell unterstützt werden sollen? Von einem entsetzten Aufschrei Ihrerseits habe ich bisher nichts vernommen. Eigenartig, dass ausgerechnet ein Bundesrat Sie auf solche Verwicklungen aufmerksam machen muss. Zwar reden alle Verleger stolz von ihrer Unabhängigkeit - nur wenn es um die Finanzen geht, gibt man sich plötzlich viel weniger rigoros. Haben Sie vergessen: Wer zahlt - befiehlt! Und der Staat wird den Verlegern befehlen - freilich subtil! Schämen müssen Sie sich allerdings deswegen nicht. Sie sind ja in guter Gesellschaft. Niemand hat je staatliche Unterstützung aus höheren Motiven abgelehnt. Weder die Wirtschaftsverbände, noch Banken oder Versicherungen; nicht einmal die Industrie oder der Gewerbeverband, obwohl diese sonst bei jeder Gelegenheit die Handels- und Gewerbefreiheit hochleben lassen. III Erwartungen Wenn ich mich als Bundesrat schon nicht in Ihren Auftrag einzumischen habe, so ist doch vielleicht die Frage nach den Erwartungen an die Medien erlaubt. Würde ich die Leser, Hörer und Seher fragen, so wäre die Antwort klar: "Informationen". Frage ich Journalisten, so sagen sie "Stellung-nahmen". Nehmen wir an, es gelte beides. Eigenartigerweise ist die Vielfalt gerade bei "Tatsachenschilderungen" relativ gross - auch wenn eine Tatsache eigentlich wenig Beschreibungsspielraum zuliesse. Bei den Stellungnahmen dagegen beobachte ich eine beelende Eintönigkeit. Müsste es nicht eher umgekehrt sein? IV Wie erlebe ich die Presse als Politiker und neuerdings als Bundesrat? Die schönste und wichtigste Pflicht des Journalismus bestünde immer noch darin, die Wirklichkeit so abzubilden, wie sie ist - auch die weniger populären Seiten. Und eine Vielfalt der Meinungen über den Sachverhalt. Mir scheint: Wir haben zwar eine beeindruckende Titelvielfalt, aber keine Pressevielfalt. Auf allen Redaktionsstuben scheint die gleiche Angst vor den gleichen Tabuthemen vorzuherrschen. Offenbar haben sich die meisten Journalisten auf einen imaginären politischen Knigge verständigt. Wer ausschert, wird geköpft; vor allem, wenn es sich um einen Bürger-lichen handelt. Vertritt er aber linke Positionen, dann gilt er umgehend als interessanter Querdenker und darf auf einen Auftritt im Zischtigsclub hoffen. Wer die Geschichte kennt, wird bestätigen, dass grosse Fehlentwicklungen meistens durch eine uniforme Berichterstattung zustanden gekommen sind. Und Sie werden mir Recht geben: Gerade die direkte Demokratie, besonders freiheitliche Staaten sind auf eine Vielfalt von Meinungen angewiesen - mag es darunter auch noch so viele abwegige oder falsche Meinungen geben (was ist denn schon Falsch und Richtig?). Wegen der Vielfalt von Meinungen sind Staaten meines Wissens noch nie fehlgeleitet worden. Aber allzu einheitliche Meinungen haben Demokratien schon zu Grunde gerichtet. Diktaturen - ob braune, rote oder andere - haben immer als erstes die Presse vereinnahmt. Meinungsvielfalt ist Gift für Diktaturen, Meinungseinheit ist Gift für Demokratien. Ein Beispiel aus der Geschichte: In den dreissiger Jahren hat man im freiheitlichen England und in den USA - zwar nicht vom Staate verordnet aber in freiwilliger "political correctness" - unisono die "Appeasement-Politik" gegenüber Hitler gepredigt. Abweichler - wie zum Beispiel Winston Churchill - waren isolierte Rufer in der Wüste. Kein ernst zu nehmendes Presseorgan hätte seine Meinung als massgebend aufgegriffen. In Deutschland wurden die Medien ebenfalls gleichgeschaltet. Erst durch den Verleger Hugenberg, dann mit aller Konsequenz durch das Regime selbst. Nicht anders erging es der Presse in den kommunistisch regierten Ländern Osteuropas nach dem Krieg. Solche Vorgänge haben mich schon immer sehr beschäftigt. Oft beginnt die Gleichschaltung im stillen Einvernehmen, verbunden mit moralistischen Untertönen. Man geht dann langsam über zu staatlichen Geboten und Verboten, natürlich stets unter Berufung auf die politische Kultur und der richtigen moralischen Haltung. Nicht, dass damals in England eine "Appeasement-Politik" vertreten wurde, ist das Problem - sondern, dass fast nur diese Meinung verbreitet wurde. Nicht, dass hinter dem Eisernen Vorhang auch eine kommunistische Meinung vertreten wurde, war das Verheerende - sondern, dass nur diese vertreten werden durfte. V Und in der Schweiz? Ich halte nichts davon, der Presse von aussen oder von innen Fesseln anzulegen. Ich halte grundsätzlich nichts davon, Meinung zu unterbinden - auch jene nicht, die mir widersprechen oder die ich als verwerflich erachte. Solche Verbote sollte es in einem liberalen Staat nicht geben. Bei der Beschreibung von Tatsachen indes lege ich strengste Massstäbe an. Als ehemaliger Unternehmer und auch heute als Bundesrat weiss ich, wie sehr wir auf eine ungeschminkte Berichterstattung angewiesen wären. Falsche Realitätsbeurteilungen führen zwangsläufig zu falschen Entscheidungen. Ich erlebe es jetzt in der Verwaltung wieder, wie stark das Bestreben ist, die Wahrnehmung dem anzupassen, was man gerne hätte. Und umgekehrt: Was nicht sein soll, darf nicht sein. Aus Erfahrung weiss ich, dass auch wir nur in einem kritischen Umfeld zu tragbaren Entscheidungen kommen. Hier könnte und dürfte uns eine vielfältige Medienlandschaft helfen. Aber auch nur dann, wenn sie nichts ausklammert. Und hier staune ich oft über unsere so genannte "Pressevielfalt". Gerade in den wichtigsten Fragen herrscht ein grosser Einheitsbrei vor. Dies kommt der Regierung zu gute, wenn man auch nicht immer weiss, ob die Regierung und Verwaltung die Sicht der Gegebenheit von der Presse übernommen hat, oder umgekehrt. Ich weiss, oft nährt Sie die Verwaltung mit ausführlichen Dokumentationen, die Sie nur noch abzuschreiben brauchen. Manchmal habe ich deshalb das Gefühl, die Zeitungen würden mehr geklebt als geschrieben. VI Finanzielle Überlebensfähigkeit des Staates Nehmen wir ein Beispiel: Jeder denkende Staatsbürger - und dazu zähle ich auch die Journalisten - weiss, dass unser Land unter einer riesigen Schuldenlast leidet, die bald 150 Milliarden Franken zählt. Jeder weiss, unser Staat lebt weit über seine Verhältnisse und beeinträchtigt massiv das Wirtschaftswachstum, unsern Wohlstand, unsere sozialen Errungen-schaften. Die Verschuldung stellt die Lebensgrundlage unseres Volkes zunehmend in Frage. Wer jedoch in der heutigen Zeit eine Ausgabenreduktion vorschlägt, wird fast unisono als "neoliberaler Zukunftsverhinderer", als "Staatsdemontierer" verunglimpft. Die Mehrheitspresse schürt sofort die Angst: "Sozialabbau", "tot sparen", "Bildung vernachlässigen" heissen die Schlagzeilen, die Sie täglich zu lesen oder zu hören bekommen und zwar gleichgültig in welchem Medium. Wohl gibt es Schattierungen: Die Ringierblätter und der Tagesanzeiger erklären den Kampf gegen das Sanierungsprogramm zur Doktrin, während die NZZ wenigstens noch im Grundsatz die Notwendigkeit einer Ausgabenreduktion anerkennt. Diese grundsätzliche Zustimmung - vor allem im Wirtschaftsteil - entpuppt sich dann schnell als höflichste Form der Ablehnung im Inlandteil, wo die Ausgabenreduktionen im Einzelfall eher abgelehnt werden. Ist das unsere ganze Pressevielfalt? Herr Bundeskanzler Schröder: Wenn ich von der Schweiz aus urteilen darf, auch Sie kennen diese schrillen Töne. Sie sind selber zum Objekt solcher Anwürfe geworden, weil Sie heute ausbaden müssen, was in den letzten 30 Jahren nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Schweiz von allen gutgeheissen worden war: Nämlich die weitgehend durch den Staat aufgebaute und garantierte soziale Sicherheit für alle. Sie werden durch die realen Verhältnisse zu Korrekturen gezwungen und müssen sich als "neoliberaler Sozialabbauer" beschimpfen lassen - da schützt auch kein sozialdemokratisches Parteibuch mehr. Wenn ich unseren Zeitungen glauben darf, leiden Sie bei sich zu Hause unter einem Lafontaine. Ich kann Sie trösten: Sie haben einen, wir haben eine ganze Reihe davon. Angesichts dieser Erfahrungen dürfte Ihr Verhältnis zur deutschen Medienlandschaft etwas belastet sein. Das hat Sie, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, schon dazu verführt, in die Schweiz zu blicken wie ins gelobte Land. So rühmten Sie etwa unsere einheimische Boulevardpresse dafür, stets "die politische Kultur" bewahrt zu haben. Doch ich glaube, das ist Ihre Gnade des fernen Blicks. Unser täglicher "Blick" sieht etwas anders aus. Wo aber wird in unserem Land "gespart"? Schauen Sie nur mal das Wort "sparen" an. "Sparen" heisst doch, Geld, das man hat, auf die Bank zu bringen, auf dass es bleibe, bis man es braucht. Davon sind wir weit entfernt. Unsere Kassen sind leer. Wir machen täglich mehr Schulden. Aber alles spricht vom Sparen. Dabei ist etwas ganz anderes gefragt: Wir müssen Ausgaben senken und Kosten senken. Das, was gute Unternehmer und gute Familienväter täglich machen, nämlich die Kosten im Griff halten. Diese Tugend wäre im Staat gefordert und sie wäre die sozialste Forderung unserer Zeit. Sie hören viel von "Sparprogrammen" aus dem Bundeshaus: Entlastungsprogramm 03, Entlastungsprogramm 04, Ausgabenverzichts-planung und dergleichen mehr. Doch wer die Realität erkennen will, sieht anderes. Für die nächsten Jahre ist im Bund keine Senkung der Ausgaben angesagt. Im Gegenteil: es sind Ausgabensteigerungen und weitere Verschuldungen trotz höherer Steuern, Abgaben und Gebühren vorgesehen. Die Ausgaben werden bis 2008 um 10% steigen - das entspricht einem jährlichen Ausgabenwachstum von 2,5%. Und dies trotz aller so genannten "Sparpakete"! Warum kommt diese himmelschreiende Misswirtschaft in unserer Medienvielfalt kaum zur Sprache? Herr Bundeskanzler Schröder, Sie sehen, wir befinden uns leider auf dem gleichen Irrweg, den Deutschland schon begangen hat . Es ist ja gerade der Charme der Schweiz, dass wir die Fehler des Auslandes nachvollziehen - wenn auch etwas später. Die hat ein Deutscher festgestellt, der in der Schweiz an der Universität lehrte. Der Obmann von Weizsäcker in Bern. VII Tabuthemen Eine ganze Reihe von Themen, die die Bevölkerung beschäftigen, werden von den Medien weitgehend ausgeklammert, so auch die bedenkliche Entwicklung zu einigen Superstaaten in der Welt. Der Wert der Eigenständigkeit und Unabhängigkeit für die Schweiz wird gänzlich totgeschwiegen. Ebenso Fragen der Immigrationspolitik, der Ausländerkriminalität und des Asylrechtes. Auch hier herrscht eine feige Einheitsmeinung vor, diktiert von einer totalitär verstandenen "Political correctness". XI Inseratensperre In dieses Bild passt, dass Medien politische Inserate sperren. Ich habe solche Vorgänge vor meinem Eintritt in die Regierung öfters erleben müssen. Auch wenn ich die Fronten gewechselt habe: Ich halte solche Zensuren für völlig falsch. Damit werden bloss andere Meinungen kriminalisiert. Falsche Meinungen sind aber zu widerlegen und nicht zu verbieten. Ein Bundespräsident bezeichnete seine Gegner in einem Abstimmungskampf als "moralisch verwerflich". Sind denn Bundesräte moralische Instanzen, die sich wie Ersatzgötter aufführen und die Menschen in Gut und Böse teilen? Da dieser Bundesrat die gleiche Meinung vertrat wie die Mehrheitspresse blieb er vor Kritik verschont. Inserate sperren, weil die Meinung einem nicht entspricht? Ich frage mich: Verspüren die Medien eigentlich Angst, dass die Bevölkerung andere Meinungen nicht verkraften könnte? Dass sie nicht fähig sei, selber abzuwägen und zu urteilen? In dieser Beziehung war der römische Statthalter Pontius Pilatus viel weiter als die meisten Medien in der Schweiz; er war sich dieser Schwierigkeit bewusst, als er fragte: "Was ist die Wahrheit"?

16.09.2004

Die Zürcher Freiheitsrede: Ein Versuch, sich Winston Churchills Charakter zu nähern

Ansprache von Bundesrat Christoph Blocher anlässlich des Churchill-Symposiums vom 16. September 2004 in Zürich 16.09.2004, Zürich Es gilt das gesprochene Wort Herr Staatspräsident Kwasniewski Liebe Gäste aus Polen Meine Damen und Herren Es ist ein symbolträchtiges Zusammentreffen, wenn sich heute Polens Staatspräsident und ein Vertreter der Schweizer Regierung hier in Zürich begegnen, um an den grossen Engländer Churchill zu erinnern. Die historischen Verflechtungen lassen niemanden ungerührt: Unmittelbar nach dem Warschauer Aufstand, am 5. Oktober 1944, sprach Churchill die Bedeutung dieses heroischen Kampfes aus: "Es wird eine unvergängliche Erinnerung der Polen und der Freunde der Freiheit in aller Welt sein." In den 80er Jahren war es wiederum Polen, das den entscheidenden Freiheitskampf führte und damit der Freiheit und Unabhängigkeit der Staaten in Osteuropa Auftrieb verlieh. Churchill begegnete auch der Schweiz mit grösster Sympathie, besonders wegen ihrer aussenpolitischen Zurückhaltung. Er anerkannte, dass unser Land gerade dank der dauernd bewaffneten Neutralität vom Krieg verschont blieb und mit ihm mehr als 10'000 polnische Soldaten, die hier ab 1940 Zuflucht gefunden hatten. Churchills Widersprüchlichkeit und sein historisches Denken Churchills Wirken für ein freies Europa ist allgemein anerkannt - weit weniger aber seine Person und sein Charakter. Als ob sich Taten von einer Persönlichkeit trennen liessen, machen viele einen vorsichtigen Bogen um die komplexe Gestalt Churchills. Winston Churchill ist der einzige Politiker von Weltrang, der je den Nobelpreis erhalten hat - nicht etwa für Friedensbemühungen, was bei Staatsmännern üblich ist - sondern für Literatur. Und zwar für seine mehrbändige Geschichte des Zweiten Weltkrieges, die 1953 - im Todesjahr Stalins - erschienen ist. Seine Autobiographie, 30 Bände stark - identisch mit der Weltgeschichte des halben Jahrhunderts und zweier erdballbewegender Kriege - runden dieses literarische Schaffen ab. Und all dies schrieb der gleiche Churchill, der Jahre zuvor noch erklärte: "Ich bin kein Journalist, der über Ereignisse schreibt, ich mache Ereignisse, über die Journalisten berichten." Hier zeigt sich eines: Die kantige Widersprüchlichkeit Churchills. Genau diese fasziniert. Denn widersprüchliche Menschen entwickeln ein positives Verhältnis zur Kritik. In ihrer Brust führen mindestens zwei Seelen eine dauernde Auseinandersetzung, was ihre Entscheide und ihre Sicherheit nach aussen stärkt. Diese Widersprüchlichkeit paarte sich bei Churchill mit einem ausgesprochen konservativen Temperament, das im historischen Denken selbst gründete. Dieses Denken immunisierte ihn gegen alle totalitären oder utopischen Versuchungen der Zeit. Ohne seine innere Kritikfähigkeit, ohne sein geschichtliches Verständnis wäre Churchills Leistung kaum denkbar. Vorbild Churchill war ein Politiker mit der Fähigkeit zur schonungslosen Analyse und einer fast beängstigenden Weitsicht: Schon 1933, kurz nach dem Machtantritt Hitlers, redete er illusionslos über die aufziehende Gefahr des Nationalsozialismus. Er nannte diese Bedrohung zu einer Zeit beim Namen, als sie kaum jemand wahr haben mochte. Mit seinen Kassandra-Reden schreckte er regelmässig und unbeirrbar Englands Politiker auf, predigte den Widerstand, warnte vor der nazistischen Expansionslust. Mit wenig Erfolg. Noch schlimmer: mit gegenteiligem Erfolg. Er gilt damals als anachronistischer Querulant. Das Parlament lässt seine Reden stoisch über sich ergehen, sofern die Abgeordneten überhaupt im Saal verbleiben. Man wirft ihm schliesslich Populismus vor, um so alle Mahnungen in den Wind zu schlagen. Der gefeierte Mann der Stunde ist Chamberlain und dessen Appeasement-Politik. Nach dem Münchner Abkommen lässt sich der Rückkehrer Chamberlain von allen als Friedensretter bejubeln (Peace for our time), während Churchill einsam von einer "vollständigen Niederlage" (total and unmitigated defeat) spricht und anfügt, dass es besser sei, genau zu sagen, "was wir über öffentliche Angelegenheiten denken", und dass jetzt sicherlich nicht die Zeit sei, "in der es irgend jemandem anstünde, um politische Popularität zu werben". Davon mochte freilich niemand etwas hören. Der Zeitgeist scheute sich, der hässlichen Wirklichkeit ins Gesicht zu schauen. So wie sich der Zeitgeist immer scheut, die unangenehmen Dinge zu sehen, geschweige denn zu benennen. Mann der Stunde und seine Abwahl Erst als buchstäblich jedes Wort eintraf, das Churchill über München und seine Folgen vorausgesagt hatte, wurde er - dieser gescholtene Querulant und Einzelgänger - 1940 in der grössten Not zum Kriegspremier gemacht. Erst jetzt - unter dem Druck der Not und leider sehr spät - war man bereit, die Wirklichkeit zu hören. Angesichts des entfesselten Hitlers sprach der mutige Realist wiederum nur die Wirklichkeit ungeschminkt aus! Er versprach bei seiner Antrittsrede seinem Volk Blut, Schweiss, Tränen und Mühsal. Doch diesmal fand er dank seiner Glaubwürdigkeit und trotz der bitteren Worte sogar Zustimmung. Glaubwürdigkeit hat eben viel mit Realitätssinn zu tun. Aber 1945 - der Krieg war gewonnen - wählte das britische Volk seinen Helden ab. Die Sehnsucht nach endgültigem Frieden war im Volk nach dem Krieg begreiflicherweise stark und Churchills Opposition nährte diese Friedenssehnsucht nach Kräften und verhiess Ruhe und Versöhnung. Hätte es Churchill auch getan - er wäre spielend wiedergewählt worden. Doch er handelte anders: Trotz heftiger Bedenken seiner eigenen Partei weigerte er sich, in diese Schalmeienklänge einzustimmen. Er warnte kurz nach der Kapitulation Deutschlands prophetisch vor einer neuen Tyrannei, nämlich dem drohenden Polizeistaat im Osten. "They would have to fall back on some form of Gestapo." (BBC, 4. Juni 1945), prophezeite er nicht einmal einen Monat nach dem Kriegsende. Heute, bald 60 Jahre nach diesen Worten, wissen wir, wie berechtigt auch hier seine Weitsicht war. Churchills Charaktergrösse und seine Verpflichtung zur Sache wird noch sichtbarer durch diese Abwahl. Die Nachkriegsjahre Doch der 71jährige, abgewählte Energiemensch wollte nichts von Ruhestand wissen. Kaum abgewählt, arbeitete er von der ersten Stunde an auf seine Rückkehr ins höchste Amt hin, was ihm 1951 auch gelang. Daneben tat er, was er immer getan hatte: er schrieb und hielt Reden. Wie er vor seinem Rücktritt 1944 für ein unabhängiges Polen kämpfte, prägte er nach seinem Rücktritt 1946 in Fulton das berühmte Wort vom "Eisernen Vorhang". Er sprach auch hier aus, was wohl viele dachten, aber nicht zu sagen wagten: "Das sind die betrübenden Tatsachen am Morgen nach einem Sieg, der in so herrlicher Waffenbrüderschaft und im Dienste von Freiheit und Demokratie errungen wurde." (Fulton, 5. März 1946) Ein grosser Teil Europas sollte erneut einem totalitären Regime zufallen. Churchill in der Schweiz Im gleichen Jahr nahm Churchill die Einladung einer Gruppe schweizerischer Unternehmer an und verbrachte einen Monat in unserem Land. Domizil bot das malerische Bursinel oberhalb des Lac Léman. Erst gegen Ende seines Aufenthalts folgte ein offizielles Besuchs-programm, das ihn auch nach Bern führte. Tausende Schweizer bereiteten ihm - dem abgewählten Premier - auf seiner Fahrt begeisterte Empfänge. Auf der Freitreppe des Berner Rathauses hielt er eine kurze Ansprache an das Volk. In spontanen Worten erklärte Churchill den Zuhörern, dass er nicht als Feind irgendeines Landes in den Krieg gezogen sei, auch nicht als Feind Deutschlands, sondern einzig und allein gegen die Tyrannei. Oder eben für die Freiheit aller. Das offizielle London beobachtete zunehmend nervös Churchills Redetour und liess über das Foreign Office knapp verlauten, seine Reden nicht kommentieren zu wollen. Die Erklärungen des ehemaligen Premiers seien jedenfalls streng privater Natur und für die britische Regierung in keiner Weise verbindlich. (Solche Distanzierungen kommen uns ja nicht unbekannt vor.) Zürcher Rede Am 19. September 1946 sprach Churchill dann in Zürich. Seine Rede wurde seither oft zitiert und noch öfter missverstanden. Unbestritten dürfte sein, dass Churchill darin Freiheit, Demokratie und Sicherheit für Europa forderte. Also Volksherrschaft im Innern und Selbstbestimmung nach aussen. Er verweist in seiner Ansprache ausdrücklich auf die vier Freiheiten Roosevelts aus dem Jahre 1941 und die Atlantik-Charta, worin der amerikanische Präsident und er selber ihre Grundsätze für die Nachkriegspolitik festhielten: - Freiheit der Rede, das heisst freie Meinungsäusserung - Religionsfreiheit - freie Weltwirtschaft, freie Meere - und das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Weitblickend führt er einen Satz an, der typischerweise selten zitiert wird: "Ich will nicht versuchen, ein detailliertes Programm für Hunderte von Millionen Menschen zu entwerfen, die jene vier Freiheiten [.] geniessen wollen". Spüren Sie wieder seinen Weitblick? Er warnt bereits davor, Politiker könnten einst versucht sein, unter Anrufung der Freiheit und eines "visionären" Europas diese Freiheit zu programmieren, zu legiferieren und so einzuschränken. Auch hier müssen wir heute anerkennen, wie klar der Brite die Zukunft erfasste. Europa Was meinte Churchill mit Europa? Es gilt zu bedenken, dass dieser Aristokrat und Politiker in seinem Denken immer ein Mann des 19. Jahrhunderts und insofern auch Anhänger des britischen Imperiums geblieben ist. Was er auch nach 1945 anstrebte, war ein von Grossbritannien tariertes Gleichgewicht zwischen den europäischen Kontinentalmächten. Folglich will er auch keine französische Dominanz, fordert schon 1946 einen "Akt des Vergessens" und Versöhnung mit Deutschland: "Ohne ein geistig grosses Frankreich und ein geistig grosses Deutschland kann Europa nicht wieder aufleben." Vor allem wäre es zu wenig robust gegen die "fünften Kolonnen" Moskaus. Mit Europa meinte er den Kontinent: Frankreich, Deutschland, die Benelux-Staaten, Italien, wen auch immer - nur nicht Grossbritannien. Sein Land, aber auch das "mächtige Amerika", sah er in der Rolle eines "Freundes und Förderers dieses neuen Europa". Die immer noch lebendigen imperialen Sehnsüchte stillte er woanders: "Wir Briten haben unser eigenes Commonwealth." Churchill wünschte sich hier in Zürich, dass Europa "so frei und glücklich" werde wie die Schweiz. Diese "freie und glückliche" Schweiz hat für sich entschieden, einen anderen, eigenständigen Weg in Europa zu gehen, anders als die meisten anderen Staaten. Das gilt es zu respektieren. Vor allem von denen, die an die gemeinsamen Ideale Churchills appellieren, für die er sich mit seiner ganzen Schaffenskraft politisch und schriftstellerisch eingesetzt hat. Sein Verhältnis zu Europa fasst er in seinen letzten Lebensjahren wie folgt zusammen: "But we have our own dream and our own task. We are with Europe, but not of it. We are linked, but not combined. We are interested and associated, But not absorbed." (Winston Churchill) England hat also seinen eigenen Traum, seine eigene Aufgabe: Es fühlt sich Europa zugetan. Nur vereinnahmen, aufsaugen lassen, muss es sich deswegen nicht. Auf diese Worte Churchills verweise ich als Schweizer gerne, besonders in Erinnerung an die Zürcher Freiheitsrede. Ihnen, Herr Staatspräsident, mag dieses Churchill-Wort am Ende Ihres zweitägigen Staatsbesuches die Schweiz besser erklären helfen. Londoner Times Mit heute selten gewordener Klarsicht kommentierte damals die Londoner Times Churchills Zürcher-Rede: "Die Schweiz war ein besonders geeigneter Ort, um die Forderung nach den Vereinigten Staaten von Europa zu erheben [...] Jedoch hat sich die Schweiz, indem sie sich an ihre Neutralität als ihren besten Schutz klammert, bisher von allen Staaten Europas am wenigsten bereit erwiesen - und die Geschichte rechtfertigt ihre Weisheit - zu einer Einigung mit ihren Nachbarn in einem gemeinsamen Unternehmen. Das lehrt uns, dass, wenn die Vereinigten Staaten von Europa Churchills jemals Wirklichkeit werden sollten, die Schweiz kaum eine Mitgründerin dieser Union sein wird." In der Tat: Sie war weder Mitgründerin, noch ist sie heute Mitglied der Union. Kein einfacher Charakter Churchill war mit Sicherheit kein einfacher Charakter, oft auch kein angenehmer. Aber Leute, die Wohlanständigkeit als wichtigste Charaktereigenschaft vor sich hertragen, haben die Welt noch nie weiter gebracht. Sein Handeln und Denken wird nur auf dem Hintergrund dieses komplexen Charakters sichtbar. Seine innere Widersprüchlichkeit, der ungeschminkte Realitätssinn, seine positive Kraft der Sturheit und die manchmal fast kindliche Provokationslust waren dazu Voraussetzung. Die "Guten" wollten damals alle den Frieden mit Hitler und bekamen den totalen Krieg. Die Freiheit für Europa rettete das "Monster", wie ihn seine Gegner schimpften: Der von den Wohlanständigen geächtete Winston Churchill. Zum Wohle aller hat er es getan, nicht zuletzt auch zum Wohle der Wohlanständigen.