In den Urgrund hinabsteigen

Interview mit Rolf App, St. Galler Tagblatt vom 29. Dezember 2012

Christoph Blocher betreibt nicht nur Politik mit Energie. Er interessiert sich auch intensiv für die Geschichte unseres Landes. Seit einigen Jahren würdigt er in Vorträgen grosse Persönlichkeiten einzelner Regionen.
Am Mittwoch tritt er in Wattwil auf, doch vorher stellte er sich und sein Geschichtsbild unseren Fragen.
(Rolf App)

Männedorf, Kugelgasse 22. Hier hat Christoph Blocher sein Büro. Das Sitzungszimmer ist eine kleine Galerie. Eine prachtvolle Landschaft von Giovanni Giacometti beherrscht die eine Seite, daneben, geschmackvoll arrangiert, kleinere Bilder. «Dieses hier hat Adolf Dietrich vom Untersee gemalt», erklärt er. «Und das habe ich gekauft, weil es den Zürichsee zeigt. Es stammt von Gottardo Segantini, dem Sohn von Giovanni Segantini. Da steckt nicht mehr die Kraft des Vaters drin.» Ja, kraftvolle Persönlichkeiten sind es, die Blocher faszinieren. Drei von ihnen will er am 2. Januar in Wattwil ehren. Drei Toggenburger Persönlichkeiten.

Herr Blocher, Ihr Parteipräsident Toni Brunner hat uns auf Ihren Auftritt im Toggenburg hingewiesen mit der Bemerkung, es handle sich um eine unpolitische Rede. Geht das überhaupt bei Ihnen?
Christoph Blocher:  Ja, die aktuelle politische Situation wird nicht zur Sprache kommen. Aber ich kann mich natürlich nicht verleugnen, der Mensch ist ja ein Ganzes.

Sie sind schon im Berner Seeland aufgetreten, im Emmental, im zürcherischen Niederglatt. Warum wählen Sie denn jedes Jahr eine andere Region?
Blocher: Ich habe diese Veranstaltungen 2009 ins Leben gerufen, weil wir Politiker uns zu sehr mit der Oberfläche beschäftigen. Wir sind aber letztlich das Produkt unserer Geschichte. Jede Schweizer Region verfügt über historische Persönlichkeiten, die eine grosse Wirkung entfaltet haben, auch für die heutige Schweiz – und meist darüber hinaus, ja für die ganze Welt. Diese Persönlichkeiten sind wertvoll, deshalb vermittelt meine Rede auch eine Wertvorstellung.

Im Toggenburg bringen Sie drei Persönlichkeiten ins Gespräch: Huldrych Zwingli, Ulrich Bräker, Anna Barbara, genannt Babeli Giezendanner. Fangen wir mit Huldrych Zwingli an und mit seiner Bedeutung.
Blocher: Zwingli hat die ersten sechs Jahre in Wildhaus gelebt, seine Bedeutung kann gar nicht genug geschätzt werden. Von allen Schweizern hat er wohl die grösste weltpolitische Wirkung entfaltet. Denn die Reformation Zwinglianischer Prägung hat sich – dann vor allem durch Calvin – bis in die USA ausgebreitet und wirkt heute noch nach. Zwingli war durch und durch Theologe, aber seine Glaubens- und Sittenlehre hat gesellschaftlich und politisch durchgeschlagen. Der frühere Zürcher Stadtpräsident Sigmund Widmer – ein Historiker – erklärt in seiner Geschichte über die Stadt Zürich, dass die Reformation das Bruttosozialprodukt verdreifacht habe.

Was trennte denn Zwingli von Luther?
Blocher: Luther musste die Fürsten überzeugen, Zwingli den Kleinen und den Grossen Rat: Da schlägt die schweizerische Demokratie durch. Sowohl Zwinglis Vater wie sein Grossvater waren Gemeindammann in Wildhaus und schon vor 500 Jahren vom Volk gewählt. Das prägte Zwingli. Gut sichtbar wurde der Gegensatz in der Disputation in Marburg. Da: Professor Doktor Martin Luther, der grosse Deutsche und dort der Leutpriester Zwingli, in Nagelschuhen. Luther wollte Latein sprechen, Zwingli deutsch. Das Volk müsse es verstehen.

Sie zeichnen von Zwingli ein durchaus positives Bild. Aber blenden Sie dabei nicht ein paar sehr dunkle Punkte aus? Dass Zwingli Krieg führte und auch im Krieg starb zum Beispiel. Und dass er die Täufer blutig verfolgen liess. Nach heutigen Massstäben muss man ihn wohl als religiösen Fundamentalisten bezeichnen.
Blocher: Ihre Ansicht hat durchaus etwas für sich. Zwingli wollte zu viel, er hat den Zweiten Kappelerkrieg gegen die Innerschweiz angezettelt und dafür auch mit dem Leben bezahlt. Die Täufer hat er nicht nur aus religiösen Gründen verfolgt, sondern weil sie als Staatsfeinde galten. Ich halte Zwingli nicht für makellos, aber mich interessiert sein Werk. Nicht der Gutmensch, sondern das Gute ist entscheidend. Die Toggenburger haben Grund, auf Zwingli stolz zu sein.

Sind die Toggenburger stolz genug auf Ulrich Bräker?
Blocher: Ich glaube nicht. Obwohl Bräkers Bedeutung woanders liegt. Er war ja ein wirklich origineller Schriftsteller mit einer minimalen Schulbildung. Man muss ihn als Gotthelf des Toggenburg bezeichnen. Anders als Gotthelf hat er aber sein eigenes Leben erzählt, deshalb ist er authentischer. Auch Bräker ist keine makellose Figur: Alles andere als ein  ordentlicher Ehemann, seine Frau hatte einiges durchzumachen. Er aber hat sie sehr schlecht geschildert.

Welche Geschichte verbindet Sie denn mit Ulrich Bräker?
Blocher: 1998 habe ich zu Bräkers 200. Todestag das Shakespeare-Theater ins Toggenburg gebracht. Dann wollten es die Toggenburger nicht. Jetzt steht es im Europapark Rust. Auch für den Schweizer Auftritt an der Frankfurter Buchmesse war Bräker damals leider kein Thema. Das sei keine Kultur, tönte es aus dem Bundesamt für Kultur!

Babeli Giezendanner ist die unbekannteste Ihrer drei Personen.
Blocher: In Bern habe ich den Berner Albert Anker gewürdigt, in Niederglatt den Stadtzürcher Rudolf Koller. Von beiden besitze ich Bilder. Von Babeli Giezendanner nicht. Ihre Kunst ragt aber aus  der «Art brut» der ganzen Region heraus. Sie malte und ging mit ihren Bildern von Haus zu Haus. Diese Bilder werden zu recht zu immer höheren Preisen gehandelt.

Im letzten Jahr haben Sie über Gottfried Keller und Alfred Escher gesprochen – und mit Ihrer Darstellung den Widerspruch des Historikers Jo Lang herausgefordert. Sie reduzierten Gottfried Kellers Leben auf eine Demonstration von Nation, Freiheit und Unabhängigkeit, hat er geschrieben. Und: «Aus Eschers Werk und Schicksal schnitzt er ein Ebenbild seiner selbst.» Hat Jo Lang recht?
Blocher: Nein. Jo Lang ist ein stark linker, grüner Politiker, der Escher sicher anders schildern würde als ich. Escher ist voller Tragik, hat zwei Mal Konkurs gemacht und in seiner Macht- und Ämterfülle Verträge mit sich selber abgeschlossen – als Zürcher Regierungspräsident, als Nationalratspräsident, als Unternehmer. Trotzdem gäbe es Zürich so nicht ohne ihn. Ihm verdanken wir die Gotthardbahn, die Kreditanstalt, die Südostbahn und vieles mehr. Escher war eine Zeit mit vielen Möglichkeiten geschenkt. Und Gottfried Keller war ein liberaler Geist, das passt Jo Lang naturgemäss nicht.

Trotzdem wirft gerade der Fall Escher die Frage auf, ob Sie den Einzelnen nicht überschätzen. Ob es also nicht mehr auf die Zeit ankommt, in der jemand lebt.
Blocher: Man muss die Menschen in ihrer Zeit sehen. Zwingli verfolgte die Täufer in seiner Zeit. Aber die Zeit war reif für die Reformation. Dies zu würdigen, geht erst aus einer gewissen Distanz. Zu Lebzeiten sieht man zu viele Nebensächlichkeiten, die Wesensart zählt zu viel.

Der SP-Nationalrat Andreas Gross unterstellte Ihnen vor ein paar Jahren ein sehr hierarchisches Führungsverständnis. Und sagte: «Er glaubt, einen Auftrag zu haben von Gott oder vom Volk.» Steckt dieses Denken nicht auch in Ihrer Würdigung grosser Persönlichkeiten?
Blocher: Wer führt, kommt um die Hierarchie nicht herum! Führen heisst ja, mit anderen Menschen ein Ziel zu erreichen. In meiner Führungslehre gibt es einen bekannten Satz: Es gibt keine schlechten Mitarbeiter, es gibt nur schlechte Chefs. Ein guter Chef macht aus schlechten gute Leute – oder er ersetzt sie. Die Verantwortung ist das Wesentliche. Erfolgreich ist nur die Auftrags-bezogene Führung. Der Auftrag, nicht der Mensch steht im Zentrum. Was Gott betrifft: Natürlich frage ich mich jeden Tag, was denn das Richtige ist. Ich weiss, alles ist nur Gnade Gottes. Das gilt zum Glück auch für Andreas Gross.

Aber verdeckt Ihr Personenkult nicht die Tatsache, dass es Entwicklungen gibt, die ganz unabhängig vom Wollen des Einzelnen geschehen? In unseren Zeiten zum Beispiel die Globalisierung.
Blocher: Das ist so zu allen Zeiten. Deshalb kommt es auch so sehr darauf an, dass man im Kleinen anfängt und im eigenen Bereich wirkt.  Zwingli hat in der Kirche gepredigt. Die Wirkung und Ausbreitung – später über Calvin und Bulliger hinaus – lag nicht in seinen Händen. Bräker hat als Schriftsteller grosse schriftstellerische Leistungen vollbracht. Und Babeli Giezendanner hat als Senntumsmalerin Bewundernswertes bewirkt. Ich schaue, was das für Menschen waren. Und frage: Aus welchen Wurzeln spriesst dies alles? Und welcher Region sind sie entsprungen? Das Werk zählt.

Gilt Ihr Respekt vor allem Menschen, die es aus einfachen Verhältnissen zu etwas gebracht haben.
Blocher: Auch. Aber ich gehe noch einen Schritt weiter und sage: Es ist etwas aus diesen Menschen geworden. Wenn alles Gnade ist, dann auch dies. Zwingli kam nicht aus ärmlichen Verhältnissen, Escher sowieso nicht. Und einfach hatten sie es schon gar nicht, im Gegenteil. Der alte Escher wurde gemieden, Huldrych Zwingli sogar gevierteilt. Man darf nicht glauben, dass sie zu ihrer Zeit besonders geschätzt wurden.

Vor einem Jahr haben sie in der NZZ gesagt, die Demokratie sei die Staatsform der Mittelmässigkeit, und das sei gut so.
Blocher: Ja, das stimmt. Das ganz Exzellente ist in der Demokratie nicht möglich, aber das ganz Schreckliche auch nicht.

Braucht es da grosse Einzelne?
Blocher: Die Demokratie braucht eine Elite, damit der Durchschnitt stimmt. Als Bundesrat habe ich gemerkt: Die Schweiz ist  eine gut organisierte Anarchie. Das hat meinen Regierungskollegen nicht gefallen, aber es ist so. Das Volk ist der oberste Gesetzgeber. Das Volk will keine starke Regierung, die zu sehr führt oder verführt.

Was wollen Sie bewirken?
Blocher: Den Menschen das Bewusstsein verschaffen, dass viel aus ihrem Boden kommt. Diesmal aus dem Toggenburg. Gerade in unserer oberflächlichen Zeit ist es wichtig, hinabzusteigen in den Urgrund. Das Bedürfnis, dies zu erfahren, gibt es: Beim ersten Mal haben die Journalisten gefragt, wer überhaupt komme an einem 2. Januar, noch dazu am Morgen. Dann sind Hunderte gekommen.

Bedeutet das nicht, dass sie die guten Seiten der Geschichte sehen und die weniger schmeichelhaften ausblenden wollen? Etwa die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg?
Blocher: Ach, das hört man doch jeden Tag an unserem Staatsradio. Von den grossartigen Seiten aber hören die Menschen wenig. Ich halte es da mit Albert Anker. der gesagt hat: «Ich stelle die Schönheit der Welt dar.»

ENDE

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