Die EU ist in der Position des Bittstellers

Artikel Südwestschweiz/Nordwestschweiz vom 30.11.2012 zum Thema 20 Jahre EWR/EU-Nein

Interview mit Stefan Schmid

Herr Blocher, was ist Ihre Erinnerung an den 6. Dezember 1992?
Christoph Blocher: Ich war sehr überrascht und fühlte eine tiefe Dankbarkeit über die Weisheit der Bürger. Diese hatten den EWR/EU-Beitritt abgelehnt, obschon der Bundesrat massiv gedroht hatte: «Wenn ihr diesen Vertrag ablehnt, geht die Schweiz kaputt.»

War das die wichtigste Abstimmung in ihrem Leben?
Sogar die wichtigste Abstimmung im letzten Jahrhundert.

Sie haben an jenem 6. Dezember bewusst nicht von einem Sieg gesprochen. Weshalb?
Ich war überzeugt, dass das Nein zu EWR/EU eine grosse Chance für die Schweiz ist. Doch ich wollte nicht über einen Sieg reden, die Situation war zu ernst. Ich konnte mich gerade noch für eine ganz zahme Pressekonferenz aufraffen, für das Fernsehen war ich zu erschöpft. Um 20 Uhr war ich im Bett.

Norwegen geht es als EWR-Mitglied blendend.
Die Norweger Regierung wäre dem EWR nie beigetreten, wenn sie gewusst hätte, dass sie im Kolonialvertrag EWR sitzen bleibt. Es trat dem EWR ohne Volksabstimmung bei. Selbstverständlich war auch für die Norweger klar: Der EWR kann nur die 1. Etappe zur EU sein. Über den EU-Beitritt musste in Norwegen das Volk befinden und es lehnte ihn ab. Norwegen beklagt sich heute, weil es 80 Prozent der EU-Regeln übernehmen muss, ohne mitzuentscheiden. Weil Norwegen heute ein Erdölland ist, geht es ihm trotz EWR wirtschaftlich aber gut.

Der bilaterale Weg ist steiler denn je. Die Schweiz ist wieder in derselben Situation wie vor der EWR-Abstimmung.
Nur wenn die Regierung wieder nachgibt. Deshalb findet am Sonntag, dem 2. Dezember in Biel eine öffentliche Veranstaltung zum Gedenken an die EWR-Abstimmung unter dem Titel «Der Weg der Schweiz in die Zukunft» statt. Denn die EU will die Schweiz zwingen, bei jedem bilateralen Vertrag EU-Recht und die Gerichtsbarkeit zu übernehmen. Und die Regierung wird wohl wieder nachgeben.

Was ziemlich genau dem EWR entspricht.
Ja und zum EU-Beitritt führt. Das ist der EU-Beitritt auf Samtpfoten.

Wie wollen Sie diesen verhindern?
Wird ein solcher Vertrag, in dem die Schweiz automatisch EU-Recht akzeptiert, nicht ohnehin dem obligatorischen Referendum unterstellt – was zwingend wäre – dann ergreifen wir das Referendum und zeigen auf, dass es sich um einen EU-Beitritts-Vertrag handelt.

Wie würden Sie denn auf den Druck der EU reagieren, wenn Sie Aussenminister Burkhalter wären?
Ich ginge nach Brüssel und würde dasselbe sagen, wie seinerzeit Bundesrat Traugott Wahlen, als es um den Beitritt zur damaligen EWG – so hiess damals die EU noch – ging: «Es tut mir leid. Die Regierung hätte nichts gegen den EU-Beitritt, doch sie hat dies in der Schweiz entschieden. Über uns steht nicht nur das Parlament, sondern auch das Volk. Die Stimmbürger verzichten nicht auf die Souveränität, deshalb können wir darüber auch nicht verhandeln. Aber über alles andere zu verhandeln, sind wir bereit.“

Die Schweiz soll die Forderungen der EU ignorieren?
Nur die institutionelle Bindung und die EU-Gerichtsbarkeit. Über alles andere kann verhandelt werden.

Dann würde es keine weiteren bilateralen Abkommen geben zwischen der Schweiz und der EU.
Doch doch, aber wir brauchen keine weiteren Verträge. Die EU – nicht die Schweiz – ist in der Position des Bittstellers: Sie will, dass die Schweiz die Holdingsbesteuerung und die Steuersätze anpasst; sie will, dass die Schweiz das Bankkundengeheimnis abschafft; und sie will, dass ihr Verkehr durch die Schweiz fährt. Was brauchen wir denn von der EU? Ich war immer ein Exportunternehmer.  Zu meiner Zeit verkaufte EMS 90 Prozent der Produkte ins Ausland, heute liegt der Exportanteil bei 96 Prozent. Was die Schweiz noch will, ist nice to have (nett zu haben), aber nicht lebensnotwendig.

Was halten Sie von den Vorschlägen der Schweiz für institutionelle Reformen, die derzeit in Brüssel auf dem Tisch liegen? Also eine nationale Überwachungsbehörde und die Zusammenarbeit mit dem Europäischen Gerichtshof EuGH.
Die Vorschläge sind unbrauchbar. Die Regierung muss endlich sagen, dass die Schweiz souverän bleiben will. Die tägliche Gymnastikübung des Bundesrates ist das Einknicken.

Sie machen es sich sehr einfach, wenn Sie an Ihrem Weltbild von 1992 festhalten und der Regierung die Anpassung an internationale Entwicklungen einfach als einknicken auslegen.
Schauen Sie sich die EU heute an: Die Politiker haben sich angepasst: D.h. Geld ausgeben, das man nicht hat. Als Unternehmer musste ich mich anpassen. Doch die Selbstständigkeit des Unternehmers aber habe ich noch nie preisgegeben. Das ist zeitlos.

Wie definieren Sie Souveränität?
Souveränität ist Selbstbestimmung. In der Schweiz bestimmt das Volk als Gesetzesgeber und ist darum der Souverän. Die europäischen Staaten haben derart viele Schulden angehäuft und so hohe Steuern, weil die Politiker nicht vom Volk kontrolliert werden. Wenn in der Schweiz die Mehrwertsteuern nur um 0,1 Prozent erhöht werden, dann müssen das Volk und die Kantone zustimmen. In der EU wird die Mehrwertsteuer über Nacht erhöht, das Volk hat nichts zu sagen.

Wie souverän ist die Schweiz?
Wir leben nicht auf dem Mond. Kein Land ist völlig autark. Es gibt auch Dinge, wo die Schweiz bewusst auf Souveränität verzichtet. Wenn die Strassen z. Bsp. überall in Europa gleich angeschrieben werden sollen, ist es zweckmässig, dass die Schweiz hier mitmacht. Aber aus freiem Willen. Aber wenn die EU der Schweiz einmal eine Reichensteuer von 75 Prozent aufzwingen würde, und wir wissen, dass dies die Reichen vertreibt, und wir das nicht wollen, dann wäre die Schweiz nicht mehr souverän. Anders liegt der Fall, wenn die Schweiz aus freiem Willen entscheidet, dass die Steuern gleich hoch sein sollen wie in der EU. Dann entschiede der Souverän.

Wie stark hat die Souveränität in den letzten 20 Jahren abgenommen?
Am meisten wird heute die Souveränität durch das schwammige Völkerrecht untergraben. Das hat man bei der Minarett- und der Ausschaffungsinitiative erlebt.

Und Brüssel schränkt die Souveränität nicht ein?
Wenn wir Verträge wie den EWR abschliessen, sehr wohl. Schlimmer ist es bei Schengen-Dublin, wo wir auch künftiges Recht akzeptieren und wir dieses – obwohl es nicht funktioniert – nicht ändern können. Das war ein grosser Fehler.

Das Volk hat ja gesagt.
Das Volk wurde über den Tisch gezogen.

Lässt sich das Volk über den Tisch ziehen?
Ja leider, auch Sie und ich.

Sie haben den EWR gebodigt. Doch mit den Bilateralen Verträgen wurden Sie auch nie warm.
Im EWR-Abstimmungskampf haben wir ausdrücklich auf bilaterale Verträge hingewiesen. Ich hatte z. Bsp. nie etwas gegen den Vertrag zur Vereinheitlichung der technischen Normen oder den Verkehrsvertrag mit der EU. Aber ich war gegen Schengen und die Personenfreizügigkeit.

Sind die Bilateralen I ein Fehler?
Was sind denn die Bilateralen I? Man muss jeden Vertrag einzeln anschauen. Man ist nicht für oder gegen Bilaterale Verträge, sondern für oder gegen den einen oder den andern.

Sind sie gegen die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien?
Ja. Jetzt muss man den Riegel schieben. Dann ist Kroatien halt ein Land, für das die Personenfreizügigkeit nicht gilt. Die Türken oder die US-Amerikaner haben auch keine Personenfreizügigkeit.

Diese beiden Staaten sind nicht Mitglied der EU. Verweigert die Schweiz die Ausdehnung der PF auf Kroatien, diskriminiert sie ein einzelnes EU-Land.
Die Personenfreizügigkeit ist mit jedem einzelnen Land abgeschlossen.

Sie bezeichnen die SVP als Wirtschaftspartei, gleichzeitig gefährden Sie mit der Ablehnung der Personenfreizügigkeit für Kroatien die Bilateralen I, die für die Wirtschaft wichtig sind.
Wieder ein läppische Drohung.

Die Bilateralen I sind unwichtig für die Schweiz? Gewerbeverband und economiesuisse liegen falsch?
Dieselben Verbände, die schon 1992 behauptet haben, der EWR/EU-Beitritt sei gut für die Wirtschaft! Manager denken oft nur kurzfristig. Ein Wirtschaftspolitiker aber auch ein Unternehmer muss eine langfristige Analyse für unser Land machen. Die negativen Folgen der Personenfreizügigkeit werden unser Land noch stark treffen. In der Sozialpolitik, im Mietrecht, in der Arbeitslosigkeit, in der Produktivität. Darum sollten wir die Personenfreizügigkeit nicht noch ausdehnen, sondern neu verhandeln. Die SVP will mit der Masseneinwanderungsinitiative ja nicht die Kündigung der Personenfreizügigkeit, sondern die Neuverhandlung.

Das heisst die Wiedereinführung von Kontingenten für EU-Bürger.
Genau. Wie früher, als es uns wirtschaftlich ebenfalls gut ging und genügend. Arbeitskräfte in die Schweiz gekommen sind. Wenn die EU das nicht will, dann bleibt immer noch die Kündigung. Aber wir werden mit der EU eine Lösung finden, denn dieser Vertrag liegt sehr im Interesse der EU.

Weshalb?
In der Schweiz arbeiten bald eine Million EU-Bürger.

Sie werden von Schweizer Unternehmen nachgefragt..
Man könnte auch Arbeitnehmer von ausserhalb der EU nehmen, diese werden heute diskriminiert.

All die Deutschen Ärzte wollen Sie mit solchen aus nicht deutschsprachigen Ländern ersetzen?
Z. Bsp. gäbe es auch gute Amerikaner, aber sie bekommen auch deutsche Ärzte ohne die exzessive Personenfreizügigkeit.

Wir haben zu wenige.
Eine Studie der ETH Zürich hat gezeigt, dass die Personenfreizügigkeit den Wohlstand der Schweiz nicht erhöht hat.

Aber auch nicht verringert hat.
Gleichbleibender Wohlstand mit jährlich 70‘000 mehr Personen! Die Produktivität nimmt ab und der Wohlstand stagniert.

Das freut Sie doch als Unternehmer.
Wir haben in der Schweiz nicht ein hohes Lohnniveau, weil Firmen gerne hohe Löhne bezahlen, sondern weil sie es können. Schweizer Unternehmen waren immer gezwungen, hochwertige Produkte zu produzieren, weil sie keine billigen Arbeitskräfte bekommen haben. Massenproduktion ist keine Strategie für unseren Wohlstand.

Wo sind die billigen Arbeitskräfte? Es sind vor allem hoch qualifizierte EU-Bürger, die zuwandern?
Nicht nur. Aber was ist hoch qualifiziert? Ich freue mich auch, wenn ich in einer Wirtschaft von einer guten deutschen Serviceangestellten bedient werde. Ich habe nichts dagegen, wenn die EU-Bürger kommen. Aber die Gleichstellung mit den Inländern wird Probleme bringen. Es führt zu einer Zuwanderung zum Sozialsystem.

Sie sind ein Anhänger des Steuerwettbewerbs. Tiefe Steuern sind ein Wettbewerbsvorteil. Diese locken ausländische Unternehmen in die Schweiz, die wiederum Arbeitskräfte brauchen, die sie hier nicht finden. Sie wollen mehr Firmen aber keine Zuwanderung, das geht doch nicht auf?
Ich bin für den Steuerwettbewerb, aber nicht für das aggressive Werben von Unternehmen im Ausland. Wir brauchen keine Firmen, die nur wegen den tiefen Steuern kommen. Steuerliche Vorteile für ausländische Firmen halte ich für falsch. Das sind meist auch keine sicheren Arbeitsplätze. Das sehen Sie z. Bsp. gut am Sägewerk in Domat-Ems.

Die EU kritisiert, dass Erträge aus dem Ausland in der Schweiz tiefer besteuert werden, als inländische Erträge. Sie teilen also diese Kritik.
Ich teile sie nicht, aber ich habe Verständnis für die Kritik.

Als Schweizer Unternehmer stören sie diese Steuerregimes.
Ja, deshalb verlangt die SVP, dass die Gewinnsteuern für alle Unternehmen in der Schweiz gesenkt werden und nicht nur für ausländische.

Sie hätten gerne einen Steuersatz von 5 Prozent.
Am liebsten nur 1 Prozent.

Und die natürlichen Personen sollen für diese Steuerausfälle gerade stehen?Nein, der Staat soll weniger ausgeben. Der Bund könnte z. Bsp. die Ausgaben um 30 Prozent senken, ohne einen Leistungsabbau.

Macht Aussenminister Didier Burkhalter einen guten Job?
Macht er einen Job?

Wünschen Sie sich Micheline Calmy-Rey zurück?
Das macht keinen grossen Unterschied. Ich kritisiere nie einzelne Bundesräte sondern nur die Gesamtregierung. Diese soll schauen, dass es richtig läuft.

Gefällt es Ihnen wieder im Nationalrat zu sein?
Nein. Das hat mir noch nie gefallen. Parlamente sind langweilige Vereine.

Weshalb liessen sie sich wiederwählen?
Das ist mein Auftrag, denn ich finde es wichtig. Meine grosse Stärke ist meine Unabhängigkeit. Sonst hätte ich nie einen Abstimmungskampf gegen den EWR/EU-Beitritt führen können.

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