50 Jahre schweizerische Landeshymne

Jubiläums-Ansprache am Bettag, Sonntag, 18. September 2011, 17 Uhr in der Klosterkirche Wettingen

Meine sehr verehrte Festgemeinde,

I. Geburtsstunde

Der 14. November des Jahres 1841 war kein Tag wie jeder andere.
An diesem Tag sang eine Zürcher Sängerrunde in privatem Kreis zum ersten Mal den „Schweizerpsalm“.
Fast ein halbes Jahr lang hatten Pater Alberik Zwyssig und der Freizeitdichter Leonhard Widmer Melodie und Verse aufeinander abgestimmt.
Zwyssig und Widmer – so ungleich sie von Herkunft, Überzeugung und Lebensumständen waren –, hatten sich zusammengetan, um etwas Harmonisches, Weihevolles, Patriotisches und Naturfrommes zu schaffen. Und es gelang. Der „Schweizerpsalm“ eroberte im Sturm die Chorliteratur, gehörte bald zum Repertoire geistlicher wie weltlicher Konzerte und fand Aufnahme im katholischen wie im reformierten Kirchengesangbuch. 1961 – vor fünfzig Jahren – wurde der „Schweizerpsalm“ zur provisorischen, zwanzig Jahre später zur definitiven schweizerischen Nationalhymne.

II. Feier am Eidgenössischen Dank-,Buss- und Bettag

Die heutige Feier verdanken wir der Initiative von ebenso kunstsinnigen wie heimatliebenden Mitbürgerinnen und Mitbürgern. Und es ist eine glückliche Idee, die Würdigung der schweizerischen Landeshymne am heutigen nationalen Feiertag vorzunehmen. Denn der Eidgenössische Dank-, Buss- und Bettag wurde vor über zweihundert Jahren als äusseres Zeichen der Verbundenheit aller Landesteile, Sprachen und Konfessionen geschaffen.
Nachdem der Sonderbundskrieg um 1847 – eine Mischung zwischen Religions-, Bürger- und ein Bruderkrieg unter den Eidgenossen –erhebliche Wunden ins eidgenössische Zusammenleben geschlagen hatte, galt es durch einen gemeinsamen Akt die Wunden im noch jungen Bundesstaat zu heilen!

III. Geboren in stürmischen Zeiten

Versetzen wir uns zurück ins Jahr 1841, ins Jahr, als der “Schweizer Psalm” erstmals in einem privaten Kreis gesungen wurde.
Die Zeiten waren stürmisch, die eidgenössischen Orte zerstritten, das politische Klima in der Schweiz war vergiftet, der Hass zwischen Konservativen und Liberalen so tiefgreifend, dass es sogar zu bewaffneten Freischarenzügen mit Toten und Verletzten kam.
Vor diesem Hintergrund erscheint es uns fast wie ein Wunder: Über kaum unüberwindliche, schmerzvolle Gräben hinweg trafen sich zwei gleichaltrige Männer und schufen ein vaterländisches Lied, das nach über hundert Jahren zu unserer Nationalhymne werden sollte.
Pater Zwyssig übertrug einen früher von ihm komponierten lateinischen Messgesang auf den Text von Leonhard Widmer.
Die Gegensätze hätten nicht grösser sein können:
Die beiden Schweizer verkündeten nicht prahlerisch und selbstgerecht Toleranz und Solidarität. Aber sie handelten entsprechend.
– Hier der liberale Feuerkopf Leonhard Widmer
– dort der konservative Zisterzienser Alberik Zwyssig.
– Hier der Reformierte und dort der Katholische
– Hier der Zürcher und dort der Urner.
– Hier der Geschäftsmann und dort der Geistliche.
– Hier der Heftige und dort der Sanftmütige.
– Hier der umtriebige Städter und dort der zurückgezogene Mönch.
– Hier der kraftvoll Gesunde und dort der ständig Kränkliche.
– Hier das Vaterlandslied und dort der Messgesang.
– Hier die deutsche und dort die lateinische Sprache.
All diese Gegensätze sind in diesem Schweizerpsalm – gleichsam unfreiwillig als Symbol gestaltet – heute in der Landeshymne vereint.
Ganz ähnlich geschah es übrigens in jener Zeit mit dem Lied „O mein Heimatland, o mein Vaterland!“, das zeitweise ebenfalls als schweizerische Nationalhymne diskutiert wurde.
Dichter des Textes war der junge Zürcher Gottfried Keller. In Töne setzte die Verse sein damals wohl bester Freund, der früh verstorbene Thurgauer Katholik Wilhelm Baumgartner.
Beide bedeutungsvollen Schweizerlieder sind nicht die Frucht selbstgerecht gepredigten und prahlerisch verkündetem Bekenntnis für billige Toleranz und schwächlicher Solidarität. Nein, es sind die Früchte von tiefsinnigem und echt freund-eidgenössischem Denken und Handeln.

IV. Entstehung des Schweizerpsalms

Die Entstehungsgeschichte des Schweizerpsalms ist kurz. Leonhard Widmer kannte und schätzte Pater Alberik Zwyssig, der gelegentlich Musikalien aus dessen lithographischer Anstalt bezog. Im Sommer 1841 schickte ihm Widmer seinen Liedtext. Noch waren die Strophen etwas breiter, zerdehnter und holpriger.
Doch die Kraft, der Glaube und der Patriotismus des Textes müssen Zwyssig tief beeindruckt und inspiriert haben.
Er erinnerte sich an einen sechs Jahre zuvor komponierten Messgesang auf den Psalmtext „Diligam te Domine“ – Dich will ich lieben, Herr!
Nun galt es, diese feierliche Melodie dem Text Widmers rhythmisch anzugleichen. Wie genau sich Töne und Text, in welchem Hin und Her sich Widmer und Zwyssig zusammenfanden, ist nicht mehr zu klären. Aber jedenfalls: Ende gut – alles gut. Und so kam es:
Etwa gleichzeitig, wie in Zürich Widmers Freunde den Psalm sangen, waren es in Buonas am Zugersee bei Zwyssig vier Zuger Stadtbürger, die das Lied als Quartett mit erstem und zweitem Tenor sowie mit erstem und zweitem Bass intonierten.
1843 figurierte der Schweizerpsalm erstmals in einem Festheft der Zürcher Studentenverbindung Zofingia.
Im gleichen Jahr wurde er am Eidgenössischen Sängerfest in Zürich vorgetragen, und die Männerchöre überlieferten Melodie und Text fortan über Generationen.
Bald schon erfolgte die Übersetzung ins Französische, und es war denn auch ein Genfer Gesangslehrer, der 1894 den Schweizerpsalm erstmals als Nationalhymne vorschlug.
Doch vorerst überwogen die Bedenken: Die Komposition sei zu schwierig, der Schluss zu wenig straff, der religiös-hymnische Charakter ungeeignet.
Am 12. September 1961 beschloss der Bundesrat nach einer Befragung der Kantone, den Schweizerpsalm einstweilen als Nationalhymne einzuführen.
Nach dreijähriger Versuchsperiode erfolgte eine erneute breite Befragung. Schliesslich am 1. April 1981 der erneute, unbefristete Beschluss.
Positiv gewürdigt wurde vor allem, dass diese Hymne im Gegensatz zum etwas martialischen „Rufst Du mein Vaterland“ keine Gewalt und Waffentaten verherrliche, sondern die Liebe zu Gott, Heimat und Naturschönheit.
Denn der Schweizerpsalm – so meinte der Bundesrat – sei „ein rein schweizerisches Lied, würdig und feierlich, so wie eine Grosszahl unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger sich eine Landeshymne wünschen“.

V. Ein Feldmeilemer als Texter

Doch erinnern wir uns etwas eingehender der beiden denkwürdigen Männer, denen wir den Schweizerpsalm verdanken. Der Textdichter, Leonhard Widmer, wurde 1808 in Feldmeilen am Zürichsee geboren. Jenem Ort am rechten Zürichseeufer übrigens, wo ich mit meiner Familie über zwanzig Jahre gelebt habe und die zusammen mit meiner heutigen Wohngemeinde Herrliberg den Bahnhof teilt.
Der Gedenkstein, der 1908 zu Leonhard Widmers 100. Geburtstag gesetzt wurde, ist allerdings kaum mehr sichtbar. Er steht zwischen Bahnschienen eingeklemmt, von Efeu überwachsen unweit des Bahnhofgebäudes Herrliberg-Feldmeilen, wo sein Geburtshaus dem Bahnbau weichen musste. Wer den Gedenkstein nicht sucht, findet ihn auch nicht!
Familie Widmer lebte am Zürichsee in ärmlichen Verhältnissen, bis der Vater in Hirslanden recht erfolgreich eine Gärtnerei betreiben konnte, aber früh verstarb.
Der Berufsweg von Leonhard Widmer entsprach den unruhigen Zeiten: Er absolvierte eine kaufmännische Ausbildung in einem Seidenhandelsgeschäft, wechselte in eine Musikalienhandlung, lebte in Lausanne als Hauslehrer und in Morges als Pensionatslehrer, kehrte zurück, verlor wegen politischer Heftigkeit eine gute Stelle in einer konservativen Druckereifirma. Widmer gab zeitweilig das kämpferisch liberale „Neumünster-Blatt“ heraus.
Er, der uns im Schweizerpsalm so innig naturfromm und gottvertrauend entgegentritt, war ein begeisterter Anhänger des 1839 aus Deutschland berufenen Theologen Friedrich Strauss, den konservative Reformierte schlicht als Unchristen bekämpften.
Später betrieb Widmer selber ein Lithographiegeschäft und versuchte in jeder Art, seine Familie und sich wirtschaftlich über Wasser zu halten.
Schliesslich pflegte er die Geselligkeit als Gastwirt „Zum schönen Grund“ in Oberstrass.
Widmers Leidenschaft galt der Politik. Er vertrat mit Energie die liberal-radikale Richtung und folgte ihr auch in den extremen Auswüchsen. So verehrte er den Aargauer Klostergegner Augustin Keller und pflegte dennoch Freundschaft mit dessen Opfer, Pater Alberik Zwyssig.
Als sich der von Widmer mitbegründete Grütliverein immer mehr sozialistischen und gar kommunistischen Gedanken annäherte, kam es zum Bruch.
Am meisten aber liebte Leonhard Widmer den Gesang und die Verskunst.
Er beteiligte sich begeistert am 1841 gegründeten liberalen Sängerverein „Harmonie“ und später im Sängerbund Zürich. Viele seiner Texte sind vergessen. Der Schweizerpsalm aber ist geblieben und etwa noch das Lied „Wo Berge sich erheben“, doch leider auch dieses nur noch der älteren Generation bekannt.
Es war damals die ganz grosse Zeit des vierstimmigen Männerchorgesangs. Ausgezeichnete Musiker vertonten die Verse ausgezeichneter Dichter. Die eidgenössischen, kantonalen und regionalen Sängerfeste vereinigte Tausende von Sängern und bildeten machtvolle Demonstrationen vaterländischer Gesinnung. Leonhard Widmer war stets eifrig dabei, sang im Quartett, im grossen Chor, verfasste Sängerzeitungen und gab Liedersammlungen heraus.
Im Alter von sechzig Jahren verstarb der merkwürdige Mann, dessen Gesichtszüge kraftvolle Energie und kluge Aufmerksamkeit ausstrahlen.

VI. Alberik Zwyssig: Melodie aus dem Kloster Wettingen

Ganz anders verlief der Lebenslauf des Komponisten Alberik Zwyssig. Als „Johann Josef Maria“ 1808 in Bauen am Urnersee, mitten in der Wiege der Eidgenossenschaft, geboren, verlor er früh seinen Vater, dessen Spur sich in holländischen Kriegsdiensten verlor. Schon seine Mutter war Novizin gewesen, und vier ihrer fünf Kinder wählten später den Ordensstand.
Nach einer Ausbildung in Menzingen trat Zwyssig im 13. Altersjahr ins 1227 gegründete Zisterzienserkloster Wettingen ein.
Neben der theologischen spielte hier die musikalische Ausbildung eine bedeutende Rolle; Alberik wurde zum vielseitigen Instrumentalisten und vorzüglichen Kantor.
Im alten Klostergemäuer ging es durchaus auch fröhlich zu; Zwyssigs erste musikalische Schöpfung war ein Trinklied. Sein humorvolles, heiteres und mildes Wesen liess den begabten Mönch später Freunde auch ausserhalb des Klosters, ja ausserhalb seiner eigenen Konfession gewinnen.
Er wurde Novize und nach einem Jahr mit dem Namen „Alberik“ nach Ablegung der Profess freudig als Mönch aufgenommen.
Nach weiteren theologischen und musikalischen Studien erfolgten 1832 in Luzern die Priesterweihe und danach war er manche Jahre als Stiftskapellmeister und Sekretär von Abt Alberik Denzler tätig.
Es wird bezeugt, dass der junge Zisterzienser äussert unzufrieden war mit der alten Klosterorgel. Darum habe er die altersschwachen Tasten so sehr traktiert, um sie vollends zu ruinieren…
Bald schon nahmen die politischen unruhigen Zeiten Zwyssig mehr und mehr in Beschlag. Die Wahl des neuen, eher entscheidungsschwachen Abtes Leopold Höchle machten seine Sekretärspflichten nicht leichter.
Am 13. Januar 1841 verfügte schliesslich der Grosse Rat die Aufhebung der aargauischen Klöster, und Pater Zwyssig hat diesen rechtlich gewiss fragwürdigen Akt mitsamt militärischer Besetzung für die Nachwelt aufgezeichnet.
Die vertriebene Klostergemeinschaft fand zuerst im Schloss Buonas eine neue Bleibe. An eine Rückkehr war nach der Einrichtung eines Lehrerseminars in den Wettinger Konventsgebäuden im Jahr 1846 nicht mehr zu denken.
Vorübergehend in Werthenstein bei Wolhusen untergebracht, vertrieb der Sonderbundskrieg 1847 die Klostergemeinschaft erneut.
So folgten weitere sechs Jahre im Kloster Wurmsbach in Jona am Obersee. Alberik Zwyssig leitete am dort neu gegründeten Töchterinstitut den Musikunterricht und schuf zahlreiche geistliche und weltliche Werke.
1854 bezog er mit sechs anderen Patres und drei Brüdern das wiederbelebte Benediktinerkloster Mehrerau in Bregenz.
Zwyssig aber – stets von schwächliche Konstitution und nach grossen Anstrengungen meistens längere Zeit leidend – verstarb schon ein halbes Jahr nach dieser letzten Umsiedlung im Alter von erst 46 Jahren.

VII. Nationalhymne in unserer Zeit

Meine Damen und Herren, wir haben hier unseren Schweizerpsalm und dessen weitgehend vergessene Urheber gewürdigt.
Erlauben Sie mir zum Schluss ein Wort über das Wesen und die Bedeutung einer Nationalhymne in unserer Zeit ganz allgemein.
Eine Nationalhymne hat ja eine Bedeutung, die heute weit über die Repräsentation der Staaten bei Staatsbesuchen und ähnlichen diplomatischen oder militärischen Ereignissen hinausgeht.
Sie ist – ähnlich wie die Flagge – ein äusseres Zeichen der Einmaligkeit von jedem einzelnen der immer noch zahlreichen Staaten dieser Welt.
Gerade in Zeiten der Vermassung und Gleichmacherei entsprechen solche Unterscheidungsmerkmale einem tiefen menschlichen Bedürfnis nach Verwurzelung und Heimatgefühl.
Gerade bei Sportveranstaltungen und deren Übertragung für ein Millionenpublikum am Fernsehen bildet die Nationalhymne ein wichtiges emotionales Mittel der Identifikation. Die jungen Fussballfans singen zumindest die erste Strophe kräftig mit und man schaut genau hin, ob die Stars bei Spielbeginn kräftig mitsingen oder wenigstens die Lippen ein bisschen dazu bewegen.
Beim gegenwärtig feststellbaren, neu erwachenden Patriotismus der jungen Generation spielt die Nationalhymne eine nicht zu unterschätzende Rolle.
So vielfältig und unterschiedlich die Staaten sind, so verschieden sind auch ihre Nationalhymnen.
Länder wie Grossbritannien, Dänemark, Schweden oder Norwegen würdigen ihre Monarchen und wünschen ihnen ein langes, gesundes Leben.
Wieder andere Hymnen haben einen kriegerisch-militärischen Charakter, etwa jene der Grossmacht Amerika, das irische „Soldatenlied“ oder – besonders bekannt – die französische „Marseillaise“ aus blutiger Revolutionszeit.
Die Schweiz aber besitzt eine Nationalhymne mit ausgeprägt sakralem, chorartigem Charakter, die sogar Aufnahme in die kirchlichen Gesangbücher unseres Landes fand.
Ist es nicht bemerkenswert und Grund zur Freude, dass unsere Schweiz auch diesbezüglich von der Norm abweicht und einen Sonderfall darstellt?
Wir verdanken diesen Sonderfall den dichterischen Versuchen eines idealistisch gesinnten, kleinbürgerlichen Zürcher Freiheitsfreundes. Und den musikalischen Fähigkeiten eines begabten, empfindsamen „grauen Mönchs“, der in dieser Wettinger Klosterkirche zur Ehre Gottes musizierte.
So ungleich die beiden Schöpfer unseres Schweizerpsalmes waren: Wir sind ihnen zutiefst dankbar, dass es ihnen gelang, bleibend Ergreifendes für eine ganze Nation zu schaffen.

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