«Auch Sie lügen oft»

Nach einem Exkurs über das Lügen verteidigt Bundesrat Christoph Blocher seine Vorlage zum Asylgesetz und lobt die Vorbildfunktion Chinas für Entwicklungsländer.

14.09.2006, Facts, Othmar von Matt und David Schaffner

Herr Bundesrat, ihre 75-jährige Schwester sprach sich gegen die Gesetze aus. Seither wird sie massiv bedroht, was sagen Sie als Justizminister dazu?

Bedroht zu werden ist nicht schön. Aber meine Schwester wird sich daran gewöhnen müssen. Ich lebe damit seit 30 Jahren.

Ist das nicht ein erbärmliches Zeichen für unsere Demokratie?
Wer in der Öffentlichkeit auftritt, bekommt auch wüste Briefe und wird beschimpft. Das sind Einzelfälle. Wird meine Schwester wirklich bedroht, muss sie zur Polizei.

Sind Sie auch bedroht worden?
Natürlich. Aber darüber sollte man nicht reden.

Viele Prominente werfen ihnen vor, dass Sie lügen. Ein harter Vorwurf.
Viele sind es nicht. Aber die Gegner beschimpfen mich als Lügner, weil ich anderer Meinung bin. Wenn die Gegner behaupten, papierlose Flüchtlinge könnten nicht mehr aufgenommen werden, dann ist das unwahr. Ob es eine Lüge ist, weiss ich nicht: Lügen heisst, mit Absicht und wider besseres Wissen etwas Falsches zu sagen.

Genau das wirft Ihnen SP-Präsident Hans-Jürg Fehr vor. Er kritisiert, sie hätten gelogen, als sie sagten, dass bisher 70 bis 80 Prozent der anerkannten Flüchtlinge Papiere vorweisen konnten, die nach dem neuen Gesetz akzeptiert würden.
70 bis 80 Prozent der anerkannten Flüchtlinge weisen gültige Papiere vor. Bei den Abgewiesenen weisen 70 bis 80 Prozent keine gültigen Papiere vor, weil sie sie fälschen, wegwerfen, vernichten oder verstecken. Das ist so. Etwas anderes habe ich auch nie behauptet.

Unter den anerkannten Flüchtlingen waren aber viele, die Papiere vorwiesen, die künftig nicht mehr gültig sind, zum Beispiel Fahrausweise oder Schulzeugnisse.
Aber bisher waren sie anerkannt, also mussten sie auch keine anderen Papiere vorweisen. Sie können davon ausgehen, dass all diese Personen Papiere vorweisen konnten, die klare Rückschlüsse auf ihre Identität zuliessen. Ich bezichtige meine Gegner nicht der Lüge, obwohl sie sehr viele Sachen verbreiten, die unwahr sind.

Sind Lügen ein Kavaliersdelikt?
Wir müssen jetzt keine Grundsatzdiskussion übers Lügen führen. Auch Sie lügen oft.

Ab und zu sicher.
Was der SP-Präsident hingegen oft tut: Jemandem eine falsche Äusserung in den Mund zu legen, um ihn dann der Lüge zu bezichtigen. Das ist in einer Demokratie unwürdig. Doch Sie sind wegen der Abstimmung gekommen, und nicht, um ein philosophisches Seminar über das Lügen abzuhalten.

Eine zentrale Kritik am Gesetz ist: Künftig gelten nur noch Pass und ID als Ausweispapiere. Wer keines von beidem hat, wird nach 48 Stunden abgewiesen.
Nein. Wie heute bekommt die Person 48 Stunden Zeit, die Papiere zu holen, wenn er solche hat, oder bei der Botschaft den Ersatz zu beschaffen. Bringt sie keine solchen Papiere, dann gibt es eine Anhörung, bei der auch die Hilfswerke vertreten sind. Die Person kann sagen, wie sie heisst, woher sie kommt und welche Gründe sie hat, ein Asylgesuch zu stellen. Der Wohnort und so weiter kann dann überprüft werden. Im Zweifelsfall werden auch Papierlose aufgenommen. Jeder Asylsuchende, hat zudem die Möglichkeit, bei der Rekurskommission einen Rekurs gegen den Entscheid des Bundesamtes für Migration einzureichen. Es könnte ja auch sein, dass das Bundesamt einmal einen Fehlentscheid fällt. Bisher ist nur eine Person bekannt, die man nicht hätte zurückschicken dürfen.

Das muss der Burmese Stanley Van Tha sein, der nach seiner Ausschaffung aus der Schweiz in ein Foltergefängnis gesteckt und zu 19 Jahren Haft verurteilt wurde.
Er bekam 19 Jahre Haft für unseres Erachtens nicht sehr schwere Vergehen. Darum wurden die Ausweisungen dorthin gestoppt.

Macht Ihnen das ein schlechtes Gewissen? Das ist ein tragisches Schicksal.
Ja, ich bedaure das.

19 Jahre Gefängnis.
Ja, das ist in diesem Fall unverhältnismässig.

Finden Sie das nicht tragisch?
Wie oft wollen sie es noch hören? Aber: Seit 1964 wurden über 530’000 Entscheide getroffen – da treffen die Menschen, die entscheiden müssen, auch einmal einen Fehlentscheid. Beim neuen Asylgesetz haben wir darauf geachtet, dass möglichst keine Fehlentscheide passieren.

Die Chance, dass das Gesetz angenommen wird, ist relativ gross.
Das werden wir sehen. Auf jeden Fall werden wir nicht eines der strengsten europäischen Asylgesetze bekommen, wie Sie das geschrieben haben. Es wird etwa im europäischen Durchschnitt liegen.

Wir behaupteten, dass die Schweiz das strengste Gesetz in ganz Europa hätte.
Was nicht stimmt. Nehmen wir nur das Wichtigste, die Sozial- bzw. Nothilfe: Einzelne Länder wie Italien geben Nothilfe nur über eine gewisse Zeit. Danach zahlen sie nichts mehr. Wir dagegen haben keine zeitliche Limite. Andere beschränken sogar die Sozialhilfe nicht nur bei Abgewiesenen, sondern auch im Asylverfahren. Oder nehmen Sie die Zwangsmassnahmen: Gewisse Länder haben für die Ausschaffungshaft keine gesetzliche Begrenzung nach oben, bei uns sind maximal 18 Monate vorgesehen.

Die Migrationsströme reissen aber nicht einfach ab. Kann man etwas machen gegen den Wunsch der Menschen, an einem besseren Ort zu leben?
Dieser Wunsch ist verständlich. Doch jeder Staat ist primär für seine Bürger verantwortlich. Ein Staat muss etwas dafür tun, dass er bessere ökonomische Verhältnisse hat, so dass die Leute bleiben. Die Staaten können dafür etwas tun. Viele Staaten – wie zum Beispiel China – führten eine neue Wirtschaftsordnung ein. 1980 warf es wirtschaftlich den Kommunismus über Bord und führte ein «freies» Wirtschaftssystem ein. Nun geht es vielen Menschen besser.

Es gibt Experten, die vorschlagen, dass sich die Schweiz öffnen soll für arbeitswillige Personen aus nicht europäischen Ländern. Man könnte ein Kontingent an Arbeitsbewilligungen schaffen.
Wer verschafft den Arbeitssuchenden die Arbeit, ohne sie den anderen wegzunehmen? Die Schweiz beschäftigt bereits heute sehr viele Ausländer. Die Gegner des Ausländergesetzes wollen den freien Personenverkehr für die ganze Welt. Jeder, der in die Schweiz käme und eine gewisse Zeit arbeitete, hätte das Recht zu bleiben, auch wenn er arbeitslos wird. Ab 2011 sind alle Personen aus der EU auf dem Arbeitsmarkt den Schweizern gleichgestellt. Das müssen wir zuerst verkraften. Wir können nur so vielen Menschen Arbeit geben, wie wir Arbeit haben. Geht es wirtschaftlich schlechter, steigt die Arbeitslosigkeit und die Sozialwerke werden stark belastet. Das kann zu Spannungen in der Bevölkerung führen. Da müssen wir vorsorgen. Die Öffnung der Grenze für alle Länder hiesse hohe Arbeitslosigkeit, untragbare Belastung der Sozialwerke und Fremdenfeindlichkeit.

Wie könnte ein vernünftiger Umgang mit der Migration aussehen?
Global gesehen: Die betroffenen Länder müssen Bedingungen schaffen, damit die Menschen gar nicht wegwollen. Afrika kenne ich gut. Wie man es industrialisieren könnte, weiss ich leider auch nicht. Während der Kolonialzeit hatte es wirtschaftlich bessere Verhältnisse, aber keine Freiheit. Die Menschen konnten ihr Schicksal nicht selber bestimmen. Oft taucht die Idee eines Marshall-Plans für Afrika auf.

Was würde das bedeuten?
Was die Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland machten: Sie gaben Kredite, um Industrien und Fabriken aufzubauen. In Afrika gelingt das leider oft nicht, obwohl es schon praktiziert wird, wenn auch nicht im grossen Stil.

Warum nicht?
Dort existiert keine industrielle Denkweise. In Unternehmen, in denen ich tätig war, bauten wir zwei Fabriken zur Herstellung von Synthesefasern auf. Nach zwei Jahren sahen die Anlagen so aus, dass sie nicht mehr betrieben werden konnten.

Die Schweiz kann gar nichts tun?
Wir tun viel mit der Entwicklungshilfe. Ob sie nützt, ist eine andere Frage. Eine andere Theorie ist auch, Afrika sich selber zu überlassen: Afrika, das in sich selbst ruht. Nur sehen die Menschen dort im Fernsehen die Verhältnisse in anderen Ländern, sie wollen dasselbe. Und die Schlepper versprechen ihnen viel. Das gibt einen Sog. Deshalb dränge ich darauf, dass Asylgesuche schnell entschieden werden. Wer nach vier Wochen abgewiesen in sein Dorf zurückkehrt, obwohl er viel Geld bezahlt hat, erzählt das weiter. Das macht den Schleppern den Markt kaputt.

Ist das Thema Asyl für Sie mit einem Ja erledigt?
Nein, nein. Es beginnt erst.

Was planen Sie?
Das Gesetz muss vollzogen werden. Und die Integration ist zu verbessern. Wir benötigen zwei Dinge: Erstens müssen die jungen Leute unsere Sprache lernen, bevor sie zur Schule gehen. Zweitens müssen die Erwachsenen die Sprache lernen und arbeiten. So arbeitet heute nur ein Viertel der Flüchtlinge, die hier bleiben. Sind sie nicht im Arbeitsprozess, können sie sich nicht integrieren. Um das zu verbessern, machen wir ab Herbst ein Pilotprojekt für eine so genannte Flüchtlingslehre.

2007 wird die Situation für Sie mit den Wahlen als Bundesrat heikel.
Was heisst heikel?

SP und die Grünen wollen Sie nicht wieder wählen – ebenso CVP-Präsident Christophe Darbellay.
2007 wird es ähnlich sein wie 2003. Nicht ganz so schlimm, denn wer mich wählt, muss niemanden abwählen. Ich mache meine Arbeit und kann nicht immer nach Wahlchancen fragen.

Überlegen Sie sich einen Rücktritt?
Nein. (Blickt ganz erstaunt) Einen Rücktritt? Auf keinen Fall.

Sie fragten sich in «Le Temps», ob Sie für die SVP nützlicher seien als Bundesrat oder als Oppositionsführer.
Ich bin nicht einfach für die SVP im Bundesrat. Aber nach vier Jahren muss man Bilanz ziehen und sich fragen: Bewirke ich mehr im Bundesrat oder in der Opposition im Parlament? Bis jetzt ist die Bilanz als Bundesrat ganz eindeutig positiv.

Wird sich das bis 2007 ändern?
Man wird es sehen.

Kaum.
Ich gehe voran. Es geht sehr gut.

Offensichtlich ist aber, dass es 2007 für Sie sehr eng wird.
Sicher, es wird eng, denn SP und Grüne wollen einen schwachen SVP-Bundesrat.

Was planen Sie?
Ich hirne nicht stets an diesen Wahlen herum. Wer unbedingt wieder gewählt werden will, ändert seine Politik. Genau das wollen aber meine Gegner. Es ist eine grosse Ehrbezeugung, dass SP und Grüne mich derart verbissen aus dem Bundesrat drängen wollen. Offensichtlich bin ich ihnen zu stark, bewirke zu viel. Einen schwachen Gegner will niemand aus der Regierung werfen.

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