Die Welt ist voller theologischer Themen
«Im schweizerischen Bundesrat sitzen Persönlichkeiten mit prononciert protestantischem Hintergrund: Nach Moritz Leuenberger hat die “Reformierte Presse” nun auch Christoph Blocher auf diesen Hintergrund hin befragt – und zu einigen brisanten politischen Themen.»
03.03.2006, Reformierte Presse, Monika Dettwiler und Stephan Landis
Reformierte Presse: Herr Bundesrat, wo und wie erleben Sie heute die Kirche?
Bundesrat Christoph Blocher: Ich gehöre zur Landes-kirche, ich leide mit und unter ihr: Ich besuche hin und wieder den sonntäglichen Gottesdienst – wenn er denn stattfindet: Kürzlich versuchte ich es in einer Berner Oberländer Kirche. Auf 10 Uhr war die Verkündigung von Gottes Wort angesagt. Nach einem Fussmarsch standen wir – ein kleines zufälliges Grüpplein – zur „befohlenen“ Zeit vor der Kirchentür. An ihr hing ein Zettel: Heute, Gottesdienst um 17 Uhr. „Unordnung“, murmelte ein vor der Tür stehender Dorfbewohner. Und in der leeren Kirche waren die schönen, mittelalterlichen Fresken geschmacklos mit zerknitterten, fahlfarbenen Stoffbahnen verhängt: „ Wieder eine Kirche, die ihren Auftrag nicht wahrnimmt“ – so war mein Gedanke. Aber schön ist: Auch dies vermag die alles umfassende Kirche nicht zu zerstören.
Erzählen Sie ihren Enkeln die biblischen Ge-schichten? Wie beschäftigen Sie sich persönlich mit kirchlichen und theologischen Themen?
Natürlich haben unsere Enkel Kinderbibeln. Natürlich wollen sie sie erzählt haben. Das gehört doch schon zur Allgemeinbildung.
Die Welt ist voller theologischer Themen. Wie sollte ich mich nicht damit beschäftigen.
Der Theologe, mit dem ich mich am meisten beschäftige, ist Karl Barth. Ich lese gerade zum sechsten Mal seinen „Römerbrief“. Das ist zentral: Der Glaube als Zuspruch Gottes. Kein billiges Mittel, um das Himmelreich zu erreichen. Alle, alle sind wir erlöst. Das ist die frohe Botschaft.
Wann und wie haben Kirche und protestantischer Glaube Sie geprägt?
Wo und wie man geprägt wurde, weiss man nie schlüssig. Ich vermute, für meinen Teil, wohl schon im Elternhaus. Ich stamme aus einem reformierten Pfarrhaus. Mein Vater war ein Pfarrer positiver Richtung, seine engen Beziehungen zur damaligen Bekennenden Kirche in Deutschland und zu Karl Barth habe ich als kleiner Knabe intensiv miterlebt. Theologen gingen ein und aus, man hörte Diskussionen mit, wohl ohne viel zu verstehen.
War es das? Oder die täglichen Geschichten und Gebete der Mutter? Sonntagsschule? Vielleicht, aber vielleicht auch ganz anderes. So wichtig ist das alles nicht. Gottes Geist weht, wo er will.
Christ und Unternehmer – das geht heute für manche Menschen schlecht zusammen. Und für Sie?
O diese Wortpaare: Christ und Pfarrer, Christ und Beamter, Christ und Unternehmer, Christ und Verbrecher, Christ und…
Hier der gute Christ – dort der böse Unternehmer! Wer so fragt, weiss nicht, was ein Christ und nicht was ein Unternehmer ist. Die Kirche ist alles umfassend. Alle gehören wir dazu. Ich weiss nicht, warum ein Unternehmer nicht dazu gehören sollte. Der Unternehmer steckt sein Vermögen, seine Arbeitskraft, sein Wissen in die Forschung, die Produktion und den Verkauf von Gütern. Macht er es gut, wird er reich, wie seinerzeit Abraham. Macht er es schlecht, wird er arm. Macht er es gut, entstehen Arbeitsplätze und Wohlstand, mit dem sich auch Löhne der Kirchenleute zahlen lassen. Was soll da so verwerflich sein? Erfolg hat der Unternehmer nur dann, wenn er dem Auftrag gemäss lebt. Zentral ist dabei die Verantwortung.
Und in der Politik? Als Sie Bundesrat geworden sind, haben Sie gesagt, Sie träten Ihr Amt an im Vertrauen darauf, „dass Gott uns helfe, dass es gut herauskommt“ – und sind danach von einigen Medien kritisiert worden. Sind Sie ein eminent christlicher Politiker?
Ich habe damals die Formulierung der Präambel der Bundesverfassung sinngemäss gebraucht. Sie heisst nicht: „ Es kommt gut, weil ich Christ bin“. Nein, es ist ein Hilferuf. Es ist der alteidgenössische Ruf: „So wahr uns Gott helfe“. Wer daran Anstoss nimmt, will wohl selber Herr und Meister sein.
Die Aufgabe als Bundesrat, die ich damals – an jenem Tag – neu zu übernehmen hatte, ist schwierig. Es ist ja vieles schief gelaufen im Staate. Ich liess mich wählen, um das zu korrigieren. Ist es da vermessen, in den Saal zu rufen: „So wahr uns Gott helfe?“ Im Bundeshaus, wo so viel Nebensächliches, so viele Intrigen, so viel Miss- und Mediengunst vom Auftrag abhalten!
Nehmen Sie als Beispiel die Asylpolitik: Die Lösung der bestehenden Probleme ist eine Gratwanderung, wo man auf beide Seiten abstürzen kann: Zu nachgeberisch führt zu unhaltbaren Verhältnissen. Zu hart führt zu unrecht gegenüber Verfolgten. Mir scheint die kirchliche Obrigkeit hat sich aus dieser grossen Verantwortung geschlagen: Sie erweckt den Eindruck, sich für Flüchtlinge einzusetzen. Wer will dies nicht? Doch sie nimmt in Kauf, dass sie den grossen Missbrauch fördert und damit die Flüchtlingspolitik in Verruf bringt. Dies hat viel mit Selbstgerechtigkeit und Selbstgefälligkeit zu tun.
Aber geht das in der Asylpolitik zusammen: Christsein und Abschreckung von Flüchtlingen, etwa indem abgewiesene Asylsuchende nur noch Nothilfe bekommen?
Abgewiesene Asylsuchende sind gerade keine Flüchtlinge. Sie haben das Land zu verlassen. Flüchtlinge werden durch das neue Asylgesetz nicht abgeschreckt. Aber solche, die keine sind. Auch für einen Christen ist das verständlich. Natürlich ist es eine undankbare und schwierige Aufgabe, Asylgesuche zu entscheiden und Abgewiesene zurückzuschicken. Für wen denn nicht? Doch ohne die konsequente Anwendung des Asylgesetzes geht es nicht. Darum gilt: Flüchtlinge, die an Leib und Leben bedroht sind, nehmen wir auf. Das ist traditionelle schweizerische Flüchtlingspolitik und soll auch so bleiben, wenn das neue Asylgesetz angenommen wird. Dies hat wohl auch einen christlichen Hintergrund. Wer aber nicht bedroht ist und keine Bewilligung hat, muss nach Haus zurückkehren. Wen man die Kritiker der Asylgesetzrevision fragt: „Sollen wir denn alle aufnehmen?“, ist die Antwort: „Nein, das denn doch nicht.“ Darum ist die Zustimmung zum neuen Asylgesetz unerlässlich. Flüchtlinge sind aufzunehmen und Missbräuche zu verhindern.
Aber Flüchtlinge ohne Papiere werden doch schlechter behandelt. Und viele echte Flüchtlinge haben keine Papiere.
Flüchtlinge werden nicht schlechter behandelt. Übrigens: Echte Flüchtlinge – nicht irgendwelche Personen mit asylfremden Gründen – kommen heute zu 80 Prozent mit Papieren. Bei den anderen, die keine Flüchtlinge sind, ist es gerade umgekehrt. Auch in Zukunft wird kein wirklich bedrohter Flüchtling, der ohne Papiere kommt, abgewiesen werden. Aber alle diejenigen, die heute die Papiere vernichten, die Identität leugnen, falsche Angaben machen, nicht sagen wollen, wo und wie sie gekommen sind, damit sie hier bleiben können, obwohl sie kein Recht dazu hätten, müssen die Schweiz verlassen. Darunter sind leider viele Kriminelle, oft Drogenhändler. In diesen Fällen muss gehandelt werden können, ohne dass man die Flüchtlinge trifft. Das gewährleistet das neue Asylgesetz.
Schüren Sie mit Ihrer Politik nicht Fremdenangst?
Beschönigen bringt nichts. Schlimm ist es, wenn über die tatsächlichen Verhältnisse nicht gesprochen oder diese beschönigt werden. Viele, weniger bemittelte Schweizer erleben die Illegal-Anwesenden als Bedrohung. Sie leben auch täglich damit. Dies erzeugt Angst. Sie glauben, dass diese Personen vom Staat verhätschelt werden. Diese Menschen leben in einfachen Verhältnissen und erleben das Zusammensein mit diesen Fremden hautnah. Oft erleben sie viele Leute davon als Dealer oder als sehr gewaltbereit. Um Fremdenangst zu beseitigen, soll die Obrigkeit die Missstände nicht vertuschen, sondern die Probleme nennen. Darum haben die Leute auch das Verlangen, dass Probleme angegangen und gelöst werden. Das gibt Vertrauen und nimmt die Fremdenangst.
Der neue Zürcher SVP-Präsident Hansjörg Frei sagt, die jetzt staatstragende SVP müsse anständiger, respektvoller politisieren. Eine Stiländerung?
Ich schaue nicht in erster Linie auf den Stil, sondern auf die Substanz. Manchmal ist es unanständig gegenüber Missständen anständig zu bleiben. Als Oppositionspartei, was die SVP in den neunziger Jahren war, musste Sie provokativ auftreten. Ich bin glücklich, wenn dies nicht mehr nötig sein sollte.
Also mehr Zurückhaltung, weniger Aggressivität, Stichwort Messerstecherplakat?
Das besagte Plakat hat die Wirklichkeit symbolisiert und aufgerüttelt – Politiker, Strafverfolger, Richter. Es rief auf, Verantwortung zu übernehmen. Wer Verantwortung für ein Anliegen trägt, muss manchmal provozieren. Doch nicht jede Provokation macht Sinn. Es kommt auf das Motiv an. So wurde ich angefragt, ob es richtig sei, die viel besprochenen Karikaturen zu veröffentlichen. Meine Antwort: Der Staat hat dies nicht zu entscheiden. Er hat sich hier nicht reinzumischen. Es gilt die Rede- und Pressefreiheit und Sie hat allerhöchste Priorität. Als Privatmann gebe ich einem solchen Journalisten den Ratschlag: Wenn Sie mit der Veröffentlichung ein grosses Anliegen vertreten, dann müssen Sie’s machen. Aber wenn Sie’s tun, um eine Glaubensgemeinschaft zu verletzen, dann ist das ein schlechtes Motiv. Dann lassen Sie es besser sein. Aus einem guten Motiv geschieht selten etwas Schlechtes, umgekehrt aus einem schlechten Motiv selten etwas Gutes.
Noch ein anderes politisches Feld: Vertreten Sie und ihre Partei ein konservatives Familienmodell? Müsste dann nicht auch ihre Tochter Magdalena zu Hause bei ihren kleinen Kindern bleiben?
Die SVP glaubt, dass die Familie, wo Vater und Mutter für die Kinder gemeinsam sorgen, eine nicht überlebte Familienform ist. Sie wehrt sich dagegen, dass man versucht, diese traditionelle Familie schlechter zu stellen und vom Staat aus zu benachteiligen. Die SVP ist eine Mittelstandspartei mit vielen Selbständigerwerbenden und Familienbetrieben, bei denen die Frauen schon immer mitarbeiteten. Die SVP wehrt sich zum Beispiel gegen eine Benachteiligung der Familienfrau gegenüber der Frau, die ihre Kinder auf Kosten des Staates in die Krippe bringt, auch wenn Sie das finanziell nicht nötig hat. Aber die SVP ist auch eine freiheitsliebende Partei und schreibt den Leuten kein Familienbild vor. Jeder soll leben können, wie er will, nur die Verantwortung für die Kinder haben die Eltern zu tragen. Wenn das nicht mehr geht, weil es sich um einen schweren Sozialfall handelt, dann hat die Fürsorge einzugreifen. Meine Tochter und ihr Mann leben in einer traditionellen Familie, auch wenn beide berufstätig sind. Sie haben für ihre Kinder zu sorgen und ihre „Nanny“ selbst zu finanzieren.
Was Kirchengremien momentan sehr beschäftigt, sind Probleme der Globalisierung. Wie stehen Sie dazu?
Die Kirche beschäftigt sich mit allen, was Mode ist. Globalisierung ist eine Tatsache. Die Menschen reisen, gehen aufs Internet. Dass sie auch miteinander Handel treiben, ist ein Ausdruck davon. Damit hatte ich nie Mühe; schliesslich habe ich auch ein Unternehmen geführt, dass 90 Prozent der Produkte aus der Schweiz im Ausland verkaufte. Auch die Kirche schätzt es ja, wenn Grenzen fallen – der grösste Glo-balisierer war schliesslich der Apostel Paulus. Und manche Kirchenleute sind von allem Fremden gerade zu fasziniert. Ich bin allerdings für klar definierte Grenzen. Diese stecken Verantwortungsbereiche ab. In grenzenlosen Gebilden sind alle für alles verantwortlich, niemand für eine bestimmte Sache. Das gefällt Politikern. Das ist begreiflich.
Sie betonen die personale Verantwortung: Typisch protestantisch?
Auftrag und Verantwortung sind namentlich dort, wo geführt werden sollte, zentrale Begriffe. Sie liegen auch in der Tradition der grossen protestantischen Ethiker und eines Max Webers.
Könnten Sie sich vorstellen, nach Ihrer Bundesratszeit eine leitende Funktion in der Kirche zu übernehmen?
(lacht) Nein. Wenn ich manchmal als Prediger für einen Laiensonntag angefragt werde, antworte ich: Ich halte nur Vorträge. Predigen sollen die Pfarrer, aber die sollen dann auch wirklich predigen.
Zur Zukunft der Kirche: Was denken Sie zu einer Trennung von Kirche und Staat?
Ich glaube, eine Loslösung läge im Interesse der Kirche, die dann keine Rücksichten mehr auf den Staat nehmen müsste. Aber das ist keine zentrale Frage. An ihrer Beantwortung wird die Kirche nicht zugrunde gehen – ebenso wenig wie sie von der Kirchenobrigkeit, die nicht bei der Sache ist, zugrundegerichtet werden kann. Die Kirche ist nicht nur eine Organisationsstruktur: Die Kirche, von der die Glaubensbekenntnisse sprechen, ist eine allumfassende Gemeinschaft. Sie mag viele Fehlentwicklungen ertragen und wird überleben!