1 Jahr und 11 Monate im Bundesrat

Landwirtschaft gestern, heute und morgen

11.11.2005, Montreux

Montreux, 11.11.2005. Am Rencontre national nahm Bundesrat Christoph Blocher eine kleine Standortbestimmung vor. Er nannte die Mitgliedschaft in der EU eine Gefahr für Freiheit, Sicherheit und Wohlstand in der Schweiz. Zum Thema «Landwirtschaft gestern, heute und morgen» legte er dar, dass jetzt für die Zukunft eine neue Landwirtschaftspolitik entworfen werden müsse, die den Bauern das Überleben und der Schweiz eine gute Landwirtschaftspolitik ermögliche.

Rede von Bundesrat Christoph Blocher, anlässlich des Rencontre national 2005, am 11. November 2005, in Montreux

Mesdames et Messieurs
Chers amis de la Suisse romande
Cari amici della Svizzera italiana
Chars amis da la Svizra rumantscha

Meine Damen und Herren aus der alemannischen Schweiz
Chers Compatriotes
Liebe Miteidgenossen

Nach einem Jahr und elf Monaten im Bundesrat möchten Sie von mir eine kleine Standortbestimmung hören. Im Besonderen wünschen Sie meine Gedanken zur „Landwirtschaft gestern, heute und morgen“ zu erfahren.

Ich bin ein Landwirt von gestern (vielleicht sogar von vorgestern). Ich habe vor fünfzig Jahren Landwirt gelernt und den Beruf auch an der landwirtschaftlichen Schule abgeschlossen. Noch mit Pferdefuhrwerk, Pflug und Sense. Während sechs Monaten habe ich auch im waadtländischen Pampagny die Pferde und Schweine betreut. Als mich mein Vater zwei Monate nach Arbeitsbeginn fragte, ob ich nun endlich französisch könne, sagte ich ihm: Die Schweine und Pferde verstehen mich auf jeden Fall.

Diese schönen Zeiten sind vorbei. Was ich heute als Bauer tun würde, wenn ich damals die Möglichkeit bekommen hätte, einen Betrieb zu übernehmen, weiss ich nicht.
Eines aber, weiss ich bestimmt: Wenn ich heute diesen Beruf ausübte, möchte ich selber entscheiden können, was ich pflanze, wie ich arbeite und wie viel ich produziere. Diese Freiheit habe ich schon vor fünfzig Jahren so gewollt.

Ich bin überzeugt, dass die Bauern Unternehmer sein müssen, wenn Sie erfolgreich sein wollen und wenn Sie für unser Land die beste aller möglichen Landwirtschaften betreiben wollen. Das gilt für gestern, das gilt für heute und auch für morgen.

Warum will ich unternehmerische Bauern?
Weil ich weiss, dass die hohen Ziele der Landwirtschaftspolitik nur auf diese Weise kostengünstig und erfolgreich umgesetzt werden können. Selbstverständlich – das ist unbestritten – braucht es Naturschutz- und Tierschutzauflagen. Für alle, die mit dem Boden und mit Tieren zu tun haben, gelten diese Bestimmungen. Für den Weinbauern Bugnon im Waadtland, für den Bergbauern Brunner im Toggenburg, für den Biobauern Hassler im Bündnerland. So wie diese Gesetze auch für alle andern, nämlich für den Chemieunternehmer Blocher, gegolten haben und für jeden Bürger in diesem Land gelten. Dafür braucht es keine spezielle Bürokratie, die den Bauern gängelt, seine Arbeit erschwert und die Produkte verteuert.

Worin bestehen denn die hohen Ziele der Landwirtschaftspolitik? Der Staat hat dem Bauern eine Reihe Aufgaben übertragen. Er will, dass die Bauern

– das Land bewirtschaften, damit der Boden nicht vergandet. Damit gewähr-leisten sie den Schutz unseres Lebensraumes.
– die dezentrale Besiedlung aufrechterhalten.
– eine minimale Nahrungsmittelversorgung aus eigener Produktion gewähr-leistet wird.

Der Schutz des Lebensraumes und die dezentrale Besiedlung des Landes kann der Bauer auf dem freien Markt nicht absetzen. Darum muss der Staat vom Bauern diese Leistung kaufen, mit einem Beitrag pro Fläche. Als Entgelt für eine minimale Bewirtschaftung. Gleichgültig, ob der Bauer einen grossen oder kleinen Betrieb besitzt, ob er arm oder reich ist: Wer immer diese Leistung erbringt, muss abgegolten werden.

Der Bauer erbringt eine Leistung, auf die man nicht verzichten will, dafür ist er zu bezahlen, sonst wird sie nicht mehr erbracht! Und ich will an dieser Stelle einmal festhalten: Der öffentliche Verkehr kostet uns mittlerweile 7,6 Milliarden Franken im Jahr. Doppelt so viel wie die ganze Landwirtschaft. Diese riesigen Flächen in den Gebieten der Alpen, des Juras, des Flachlandes werden erhalten für den halben Betrag der Bahndefizite!
Diese marktfremden Aufgaben sollen also entschädigt werden, die Nahrungsmittelproduktion dagegen ist Sache des Bauern. Hier soll er sein eigenes Risiko, sein unternehmerisches Risiko tragen. Er produziert für die Konsumentinnen und Konsumenten. An diesen Bedürfnissen soll der Bauer sich orientieren. Hier soll der Markt über den Erfolg entscheiden. Hier zahlen die Konsumentinnen und Konsumenten den Bauern für seine erbrachten Leistungen.

Die Situation für die künftige Landwirtschaft spitzt sich dramatisch zu: Im schlimmsten Fall setzt die WTO einen Zollabbau in der Höhe von drei Milliarden Franken durch. Das heisst konkret drei Milliarden Franken weniger für die Landwirtschaft – was dem gesamten Arbeitsverdienst der Schweizer Bauern entspricht! Bei zehn Milliarden Rohertrag ergäbe dies etwa dreissig Prozent Ausfall. So kann der Bauernstand nicht überleben. Darum muss jetzt für die Zukunft eine neue Landwirtschaftspolitik entworfen werden, die den Bauern das Überleben und der Schweiz eine gute Landwirtschaftspolitik ermöglicht. Wie diese aussieht, ist jetzt nicht zu befinden. Aber sie ist jetzt zu entwerfen und dann zu beschliessen.

Damit wir die Landwirtschaftspolitik überhaupt frei gestalten können; damit wir überhaupt in der Lage sind zu entscheiden, was wir in Zukunft wollen und was nicht, ist es wichtig, dass wir über den Handlungsspielraum verfügen, frei entscheiden zu können.

Damit – meine Damen und Herren – bin ich mitten drin in der grossen Politik!

Hauptgefahr EU – Beitritt

Meine Damen und Herren

Die grösste Gefahr für die schweizerische Wirtschaft, die grösste Gefahr unserer Arbeitsplätze, die grösste Gefahr unserer Freiheit, die grösste Gefahr unserer direkten Demokratie und der Neutralität sind nicht Billiglohnländer in Asien. Nein, die grösste Gefahr lauert im eigenen Land: Dass wir die politischen Weichen falsch stellen.
Damit, meine Damen und Herren, sind all jene gemeint, die offen, leise oder sogar geheim den EU-Beitritt anstreben. Eine Mitgliedschaft in der EU würde unsere Freiheit, Sicherheit und unseren Wohlstand gefährden.

Meine Damen und Herren. Immerhin ist es uns nach Jahren gelungen, dass die Schweiz heute wenigstens den EU–Beitritt als „strategisches Ziel“ aufgegeben hat. Der EU–Beitritt wird lediglich noch als Option, als eine Möglichkeit unter vielen, bezeichnet. Ja, der Beitritt ist eine Möglichkeit, aber auf jeden Fall eine schlechte, möchte ich beifügen.

Meine Damen und Herren, bleiben wir uns selbst.
Wofür müssten wir uns eigentlich schämen, Schweizer bleiben zu wollen?
Für unsere friedvolle Geschichte?
Dass wir ein neutraler Kleinstaat sind?
Für unsere Wohlfahrt?

Schauen Sie doch die Schweiz an. Sie bildet eine Identität. Sie hat ihren Weg selbst gefunden. Schauen Sie, wie weltoffen unser Land ist, ohne sich deswegen je politisch zu verleugnen oder seine Selbstbestimmung aufzugeben. Schauen Sie, wie erfolgreich die Schweiz schon in der Geschichte war. In der Wirtschaft finden Sie Zuhauf solcher Beispiele:
Den Aargauer Strohfabrikanten
Den Neuenburger Uhrenmacher
Den Genfer Privatbankier
Den Basler Chemieunternehmer
Den Ostschweizer Maschinenindustriellen
Die Zürcher Versicherungsgesellschaft
Den Innerschweizer Bergbauern
Den Tessiner Dienstleister
Den Bündner Hotelier

Alle diese Branchen produzierten in der Schweiz, für die Schweiz und für die Welt. Das gilt auch heute. Unsere Verbundenheit mit der Welt ist Realität – aber immer auf der Grundlage der eigenen Souveränität. Die Souveränität ist das Fundament unseres Erfolges. Trotz aller Weltoffenheit: Wir sollten uns nie institutionell einbinden lassen. Denn beides gehört zusammen: Weltoffenheit und Unabhängigkeit.

Meine Damen und Herren,
das Gesagte gilt nicht nur für die Wirtschaft und Politik. Schauen Sie das Leben an. Es besteht doch nicht nur aus der Wirtschaft, nicht nur aus der Politik. Das Leben ist mehr. Das Leben hat auch eine Seele, ein Herz, Gefühl und eine geschichtliche Vergangenheit.
In unserem Land sind alle drei grossen europäischen Kulturen vereinigt. Trotzdem: Wir identifizieren uns nicht mit einer dieser Kulturen, sondern wir identifizieren uns mit den schweizerischen Werten, die entstanden sind aus dem Zusammenleben dieser Kulturen. Das Gemeinsame hat die Vielfalt ermöglicht: Gemeinsam ist uns der Freiheitswille, der Wille zur Neutralität, der Wille zum Föderalismus und zur direkten Demokratie.

Politik ist mehr als nur eine Sache von Sitzungen, Programmen, Kompromissen, Finanzen und Beschlüssen. Die Schweiz ist bereits eine verwirklichte Vision, die sich zudem schon Jahrhunderte lang bewährt hat. Das Wesentliche ist, dass diese Schweiz ohne Regierungs- Verwaltungs- oder Parlamentsbeschluss entstanden ist – genau dies macht ihren Wert aus. Am besten lässt sich das an ihrer Kultur erleben.
Die Kultur verbindet die Regionen, sie verbindet die Kantone, die Landesteile. Ohne staatlichen Kulturförderungsapparat! Diese Verbundenheit ist gewachsen.

Machen wir doch die Probe aufs Exempel.

Singen wir zusammen auf Deutsch und Französisch einen alten Kuhreihen. Kuhreihen gibt es in den Alpen, im Mittelland und im Jura. So wie das „Lioba“ der Freiburger in ihren Bergen erklingt oder im Jura der französische Kuhreihen, so erklingt anderenorts das Sennela hoha.

Wir singen die erste Strophe auf Schweizerdeutsch, dann die zweite und dritte Strophe auf Französisch und zum Schluss nochmals eine Strophe auf Schweizerdeutsch.

Gang rüef de Bruune
Gang rüef de Gèèle
Sie sölid allsam
Sie sölid allsam
Gang rüef de Bruune
Ganz rüef de Gèèle
Sie sölid allsam
In Stall ie cho

Appelle les grandes
Appelle les petites
Il faut qu’elles rentrent
Il faut qu’elles rentrent
Appelle les grandes
Appelle les petites
Il faut qu’elles rentrent
de l’alpage

Appelle les Simmental
Appelle les vaches d’Hérens
Il faut qu’elles rentrent
Il faut qu’elles rentrent
Appelle les Simmental
Appelle les vaches d’Hérens
Il faut qu’elles rentrent
de l’alpage

Gang rüef de Gflekkete
Gang rüef de Gschekkete
Sie sölid allsam
Sie sölid allsam
Gang rüef de Gflekkete
Gang rüef de Gschekkete
Sie sölid allsam
In Stall ie cho

Auch in der Kultur war und ist und bleibt unser Land offen. In der Malerei, in der Kunst, in der Literatur, im Gesang, in der Musik. Sie hat sich an allen Kulturen beteiligt. Auch dank der vier Landessprachen. Aber bestimmen über unsere Zukunft, über unser Schicksal – das wollen wir Schweizer selbst.

So hören wir jetzt Beiträge aus dem Bündneroberland, aus dem rätoromanischen Teil, aber auch viel Italienisches: Verdi, Rossini, Donizetti und andere Kompositionen. Die europäische Kultur kennt keine Grenzen. Sie steht über der Politik.

Ich darf Sie um Aufmerksamkeit bitten für die Compagnia Rossini

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