Wir müssen mit der EU kompetitiv sein, nicht kompatibel

Christoph Blocher sagt ja zur Personenfreizügigkeit – und will danach gleich ein Moratorium für den EU-Beitritt der Schweiz. Er sagt auch kompromisslos ja zu sich selber: Je mehr er im Bundesrat bewirke, desto braver könne seine SVP auftreten.

15.09.2005, Weltwoche (Urs Paul Engeler und Markus Somm)

Herr Bundesrat, Sie haben wiederholt gesagt, man soll die Personenfreizügigkeit wagen. Warum, wenn es so riskant ist?

Es gibt Risiken, wenn wir zustimmen, und es gibt Risiken, wenn wir sie ablehnen. Am Schluss gilt es abzuwägen. Ich bin zum Ergebnis gekommen, man sollte es wagen.

Welche Risiken bestehen?

Wenn wir die Erweiterung der Personenfreizügigkeit ablehnen, müssen wir damit rechnen, dass es mit der EU zu Unstimmigkeiten kommt! Die Schweiz hat der Personenfreizügigkeit mit der alten EU zugestimmt, so ist es aus Sicht der EU nur logisch, dass auch die Erweiterung akzeptiert wird. Die EU will nicht, dass einzelne Mitglieder schlechter behandelt werden als andere. Ein Nein würde zudem die neuen Länder im Osten vor den Kopf stossen. Ich will aber nicht dramatisieren.

Und wenn wir die Personenfreizügigkeit annehmen?
Dann besteht ab 2011 das Risiko, dass wir eine grössere Zuwanderung erleben. Das könnte in der Schweiz, die ja bereits heute einen der höchsten Ausländeranteile Europas hat, zu Problemen führen. Für die nächsten Jahre haben wir jedoch Sicherungen eingebaut, wie etwa die Quoten für die Zulassung zum Arbeitsmarkt. Sollte es der Wirtschaft – in der Schweiz, aber auch in Osteuropa – gut gehen, sind wir in der Lage, diese Einwanderung zu verkraften.

Ist diese Haltung nicht schizophren? Der Bundesrat versucht uns immer mit dem Hinweis zu beruhigen, es kämen sicher nicht so viele Leute aus dem Osten. Aber man gewährt die Personenfreizügigkeit doch gerade mit dem Ziel, dass mehr Leute kommen. Nur dann macht es wirtschaftlich Sinn: Das senkt die Löhne und vergrössert das Angebot an Arbeitskräften.
Wir brauchen Arbeitskräfte in der Schweiz, deshalb haben wir ja über 20 Prozent Ausländer, die wir im Zuge der kontrollierten Einwanderung bewilligt haben. Und natürlich ist es für die Unternehmen gut, wenn sie aus einer grösseren Zahl von Arbeitskräften auswählen können. Dadurch wird die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft erhöht, aber anderseits führt es dazu, dass das Lohnniveau sinkt und sich die Arbeitslosigkeit tendenziell erhöht. Wir werden uns nach 2011 den europäischen Verhältnissen angleichen. Das müssen wir in Kauf nehmen. Man wird nun bei den Einwanderern von ausserhalb der EU sehr restriktiv sein müssen. Das sieht das neue Ausländergesetz vor. Für sie haben wir kaum mehr Bewilligungsmöglichkeiten. Für Leute aus Amerika und Japan etc. zum Beispiel können nur noch in speziellen Fällen – man spricht von Spezialisten – Arbeitsbewilligungen erteilt werden.

Falls es ein Ja gibt, wer sind die Gewinner?
Sie meinen welche Parteien? Das habe ich mir noch nie überlegt. Politisch zählen sich nach Abstimmungen meist alle zu den Gewinnern. Ob die Schweiz insgesamt zu den Gewinnern gehört, sehen wir nach 2011.

Wie stimmen Sie persönlich?

Ich habe schon gestimmt. Und es gilt das Stimmgeheimnis. Halten wir uns auch diesmal daran – aus grundsätzlichen Gründen! Wenn ich es jetzt verrate, muss ich es künftig immer sagen.

Ist aus liberaler Sicht der Preis für die Personenfreizügigkeit nicht viel zu hoch? Die flankierenden Massnahmen führen zu einer Regulierung des schweizerischen Arbeitsmarktes, wie es sie noch nie gegeben hat.
Der Preis ist hoch, das stimmt. Hätten wir die Personenfreizügigkeit mit den alten Staaten nicht, dann würde ich es vorziehen, beim alten System der kontrollierten Einwanderung zu bleiben – die ja eine
Erfolgsgeschichte ist! Wie erwähnt, haben wir in der Schweiz einen der höchsten Ausländeranteile – wir sind also alles andere als abgeschottet – gleichzeitig sind bis heute relativ wenig Leute arbeitslos, und dabei ist es uns gelungen, den Arbeitsmarkt sehr flexibel zu halten. Aber das ist nun vorbei. Mit den Bilateralen I haben wir einer neuen Ordnung zugestimmt. Jetzt geht es darum, den logischen zweiten Schritt zu machen. Man hielt es politisch für nötig, den Arbeitsmarkt stärker zu regulieren, dafür kann die Wirtschaft aus einem grossen Reservoir an Arbeitskräften auswählen.

Das bringt ja gar nichts, wenn wir gleichzeitig Mindestlöhne haben.

Staatliche Mindestlöhne haben wir keine. Das wäre ein sehr grosser Nachteil für die Beschäftigung in der Schweiz. Die Arbeitslosigkeit würde stark steigen.

Aber die flankierenden Massnahmen erleichtern es ganz wesentlich, Mindestlöhne einzuführen.
Das ist eine Gefahr. Dagegen werde ich mich wehren.

Letzte Woche warben Vertreter des Seco und der kantonalen Arbeitsämtern an einer Pressekonferenz ganz dezidiert für weit gehende flankierende Massnahmen, also auch Mindestlöhne. In der tripartiten Kommission haben die Gewerkschaften zusammen mit den Vertretern des Staates die Mehrheit. Es dürfte Ihnen schwer fallen, Mindestlöhne zu verhindern.

Ich kann davor nur warnen. Ich hoffe in dieser Frage auf eine klare Stellungnahme der Wirtschaftsverbände und auf die Vernunft. Unser relativ flexibler Arbeitsmarkt ist einer der wichtigen Standortvorteile gegenüber andern europäischen Ländern, wie etwa Deutschland. Die geringe Arbeitslosigkeit verdanken wir nicht zuletzt auch dieser Flexibilität.

Kann man diese Markteingriffe nach der Abstimmung wieder rückgängig machen?
Das halte ich kaum für möglich. Sie können in Deutschland sehen, wie schwierig es ist, Regulierungen zurück zu nehmen, die negative Wirkungen haben.

Sollte am 25. September ein Nein resultieren: Wie wahrscheinlich ist es, dass die EU die bilateralen Verträge I kündigt? Zur Zeit wirkt die EU nicht sehr handlungsfähig.

Sie wird sicher reagieren. Die Union ist am ehesten handlungsfähig, wenn es gegen einen Dritten geht. Ich halte es aber für ausgeschlossen, dass sie die bilateralen Verträge I kündigt, weil jedes einzelne Land diesen Vertrag auflösen müsste. Da stehen so viele handfeste Interessen auf dem Spiel:
Stellen Sie sich einmal Österreich vor! Stellen Sie sich die Situation am Brenner vor, wenn das Landverkehrsabkommen dahinfallen würde. Oder denken Sie an Italien: Das erste Personenfreizügigkeitsabkommen ist für dieses Land sehr
wichtig. In der Schweiz leben 300 000 Italiener, die von den Abmachungen bei den Sozialversicherungen profitieren. Schon aus purem Eigennutz haben die EU-Staaten kein Interesse an einer Kündigung. Doch die möglichen Verstimmungen – auch wenn sie mehr im atmosphärischen liegen – muss man ernst nehmen. Wir haben immer wieder mit der EU als Partner zu tun.

Also wäre es auch eine schlechte Idee, das EU-Beitrittsgesuch zurückzuziehen? Das würde das Klima in Brüssel bestimmt nicht aufheitern.

Der Rückzug des Gesuches würde heissen, dass die Schweiz jetzt der EU nicht beitreten möchte. Das dürfte keine Unstimmigkeit, sondern Klarheit bringen. Auch keine Überraschung! Wichtiger als der technische Rückzug scheint mir, dass man sich über die allgemeine Marschrichtung klar wird: Will die Schweiz der EU beitreten oder nicht? Nach dem 25. September wird der Bundesrat eine Standortbestimmung vornehmen. Heute gibt sich niemand der Illusion hin, dass das Schweizervolk in den nächsten Jahren Ja zum EU-Beitritt sagen wird – auch die Befürworter wissen das.

Warum erst nach dem 25. September? Was weiss man danach mehr?
Die Diskussion ist bis dann mit dem Thema Freizügigkeitsabkommen besetzt. Wenn es ein Ja gibt, dann brauchen wir mit der EU gar nichts mehr zu verhandeln – auch wenn ein Teil der Verwaltung mit dem Feldstecher nach Dingen sucht, die man auch noch mit der EU aushandeln könnte. Die wesentlichen Dinge sind nach dem 25. September geregelt. Mehr ist auch nicht mehrheitsfähig. Wenn es ein Nein gibt wäre das erst recht ein Zeichen gegen den EU-Beitritt. Der grösste Teil der Wirtschaft ist heute dezidiert gegen einen EU-Beitritt. Auch Unternehmer, die damals noch vehement für den EWR – und später für den EU-Beitritt – waren, bitten mich heute: Schauen Sie in Bern, dass wir ja nie beitreten!

Also soll der Bundesrat nach dem 25. September das Beitritts-Gesuch definitiv zurückziehen?
Meine Meinung zum EU-Beitritt ist klar, hier laufe ich also nicht Gefahr, das Kollegialitätsprinzip zu verletzen. Es ist bekannt dass der Bundesrat in dieser Frage gespalten ist. Selbstverständlich bin ich dezidiert gegen einen Beitritt und für einen Rückzug des Gesuches. Aber vielleicht müsste man den Befürwortern eine Brücke bauen: Der Bundesrat könnte ein Moratorium beschliessen. Zum Beispiel: In den kommenden zehn Jahren treten wir der EU nicht bei und bleiben auf dem Weg der Selbstständigkeit. In dieser Zeit wäre Schluss mit dem kopflosen autonomen Nachvollzug und mit der Verschlechterung unseres Wirtschafts- und Lebensraumes. Wir müssen „EU-kompetitiv“ sein nicht „EU-kompatibel“. Das heisst, wir müssen auch gegenüber der EU wettbewerbsfähig sein. Wir wollen eine eigene Gesetzgebung, die besser ist für unseren Kleinstaat – unter Berücksichtigung zeitgleicher Entwicklungen in der EU, den USA und anderen Staaten.

Und was ist mit dem Beitrittsgesuch?
Das wäre dann nebensächlich. Obwohl: Auch für die EU wäre ein Rückzug des Gesuches klärend. Wichtig wäre auf jeden Fall, dass wir der EU unser Moratorium mitteilen. Dies kommt ja dann einem Rückzug gleich. Ein solcher Kompromiss wäre ein gangbarer Weg.

Ändert ein Ja oder Nein am 25. September die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat?
Ich kann nicht für die anderen Bundesräte sprechen. Ich glaube aber kaum. Deshalb wäre ein Moratorium ein Ausweg: Innenpolitisch liegen wir Bürgerlichen uns wegen dieser EU-Frage dauernd in den Haaren. Politisch ist dies eine schlechte Situation: Bei jedem aussenpolitischen Thema müssen die Schweizerinnen und Schweizer sich fragen, ob sie es mit einer verkappten Vorbereitung des EU-Beitritts zu tun haben oder nicht. Sie befürchten, dass die Schweiz am Schluss in der EU landet – ohne dass dies jemand wirklich gewollt hatte. So gleichsam über den Tisch gezogen.

Wir sind doch längst auf dem bilateralen Weg. Faktisch haben wir ein Moratorium. Was soll der Bundesrat da noch beschliessen?
Es schafft Klarheit. In der Führung ist das stets ein Vorteil. Eine klare Linie und eine Strategie gibt es derzeit nicht. Die Verwaltung lehnt sich stark an die EU an. Der Bundesrat hat zwar nach den letzten Wahlen das strategische Ziel aus dem Legislaturprogramm gestrichen. Das strategische Ziel der Unabhängigkeit der Schweiz hat er aber auch nicht festgeschrieben. Es wurde offen gehalten und man nahm sich vor, die EU-Frage noch einmal zu untersuchen, um am Ende der Legislatur einen Bericht vorzulegen, dessen Ergebnis man ja ebenfalls schon kennt.
Seien wir ehrlich: Über den EU-Beitritt selbst haben die politisch Verantwortlichen nie ernsthaft diskutiert. CVP und FDP haben kaum darüber debattiert, sondern den Beitritt fast blind beschlossen, später aber wieder relativiert. Selbst die SP hat sich nicht wirklich damit auseinandergesetzt, weil sie sonst mit den Gewerkschaften und Arbeitern ein grösseres Problem bekäme. Nur die SVP hat den Streit sehr intensiv ausgetragen. Denken Sie an die interne Auseinandersetzung der 90-er Jahre.

Heute wirkt die SVP ebenso gespalten, mehr noch: deroutiert. Die einen machen bei der Pro-Kampagne mit, die andern halten etwas schlapp dagegen. Was ist mit Ihrer Partei los?
In der Frage der Personenfreizügigkeit ist sie nicht einheitlicher Meinung. Es ist ein Zeichen der Stärke, dass sie in Einzelfragen auch verschiedener Meinung sein kann. Das muss eine Partei durchstehen – solche Situationen gibt es immer. Natürlich darf es nicht zum Normalfall werden. Bei solchen Vorlagen wirkt die Partei dann etwas gelähmt – aber nur bis zum Abstimmungstag. Ich habe das neue Wirtschaftsprogramm der SVP gelesen, und ich kann nur sagen: hervorragend! Im Parlament wirkt die Fraktion kämpferisch, recht geschlossen und ist auf Kurs. Gleichzeitig stelle ich fest, dass die andern bürgerlichen Parteien da und dort der SVP entgegenkommen – was auch gescheit ist, wenn sie nicht erneut Wähler verlieren wollen. Die SVP hat jetzt gemäss ihrer Stärke zwei Bundesräte. Dadurch muss die Partei in der einen oder anderen Frage auch etwas weniger antreten. Denken Sie beispielsweise an die Asylpolitik.

Sie verwedeln die Sache: Die Ausländerpolitik ist ein Kernthema der Partei. Jetzt kommt eine der grössten Zuwanderungsvorlagen der Schweizer Geschichte, und die SVP tritt gesittet und lieb auf. Ein Teil Ihrer Wähler muss sich verschaukelt vorkommen.
Die SVP hat schon die Personenfreizügigkeit mit der alten EU nicht bekämpft. Damals war sie mehrheitlich dafür.

Aus taktischen Gründen. Nun franst aber ihr rechter Rand aus: Die Schweizer Demokraten tauchen plötzlich aus der Versenkung auf.
Möglich. Die SVP ist keine fremdenfeindliche Partei. Sie war immer für eine Ausländerpolitik, die sich am Arbeitsmarkt orientiert. Aber die SVP bekämpft entschieden die illegale Einwanderung und den Asylmissbrauch. Das sind heute die Brennpunkte in der Ausländerpolitik. Für diese Anliegen kämpfe ich jetzt im Bundesrat, deshalb muss sich die Partei hier nicht mehr so stark engagieren.

Es ist anders: Die SVP hat den Kampf gegen die Wirtschaft gescheut. Diese will die erweiterte Personenfreizügigkeit um jeden Preis. Die SVP hätte ihren Ruf als Wirtschaftspartei aufs Spiel gesetzt.
Die SVP ist Wirtschaftspartei. Die Wirtschaft ist schliesslich Lebensgrundlage des Volkes. Keine andere Partei ist wirtschaftsfreundlicher. Keine andere Fraktion hat beispielsweise so viele Unternehmer wie die SVP. Aber in der Fraktion – auch unter Unternehmern – werden Vor- und Nachteile der Personenfreizügigkeit wirtschaftlich verschieden eingeschätzt. Die SVP machte den Wirtschaftsverbänden – den Verbänden- Vorwürfe. Nicht, weil sie etwas gegen die Wirtschaft hätte, sondern im Gegenteil, weil sie die Verbände für zu bürokratisch hält und weil sie glaubt, sie handelten zu wenig zum Wohl der Wirtschaft. Es sind keine wirtschaftsfeindlichen Vorwürfe – ganz im Gegenteil.

Die Wirtschaftsverbände werden von namhaften Unternehmern geführt. Im Vorstand sitzt das «Who is Who» von Corporate Switzerland.
Die Verhältnisse sind komplizierter. Das habe ich als Unternehmer gut studieren können. Wer macht eigentlich die Wirtschaftspolitik? Viele der Unternehmer und Manager haben weder Zeit noch Interesse, sich wirklich damit zu befassen, so dass am Ende die Funktionäre die Politik machen. Die Unzufriedenheit vieler Wirtschaftsleute mit den eigenen Verbänden ist auch eine unbewusste Unzufriedenheit mit sich selbst.

Trotzdem gibt es nach wie vor fast keine bekannten Unternehmer, die sich offen zur SVP bekennen.
Für Manager von Grossunternehmern mag dies stimmen. Trotzdem wählen viele Wirtschaftsleute die SVP. Ich wohne ja am rechten Zürichseeufer, einer Hochburg von solchen Leuten. Dort ist die SVP mit Abstand die stärkste Partei geworden. Ohne die Wahl von Wirtschaftsleuten wohl unmöglich. Aber man hat die SVP in den vergangenen Jahren dermassen verunglimpft, dass es manchen Leuten nicht so leicht fiel, offen zu dieser Partei zu stehen. Also tut man es heimlich. Man zahlt etwas und stimmt für sie. Das zeigen die Zahlen. Nach aussen schweigt man lieber. Das dürfte sich ändern.

Wenn der Pelli-Freisinn sich durchsetzt?
Sie meinen eine Politik Richtung links? Dann ohnehin ja. Sollte die FDP aber auf die ordnungspolitische Linie zurückfinden, welche die SVP jetzt vertritt, dann wird die SVP wieder Wähler verlieren. Aber das wäre dann auch nicht tragisch. Wenn die FDP und CVP das gleiche täten wie die SVP, dann ist die Parteigrösse der SVP unerheblich. Hauptsache, man macht das Richtige. Wenn es andere tun, ist es auch recht.

Ist das Ihr Ernst? Bisher schien es immer, Sie wollten für Ihre SVP die absolute Macht.

Wohl jede Partei wäre froh, wenn sie eine absolute Mehrheit hätte. Doch jedermann weiss, dass in der Schweiz die Mehrheit für eine Partei allein unmöglich ist. Die Partei wäre gezwungen, so breit zu werden, dass sie gar kein Profil mehr hat. Franz Josef Strauss, der langjährige Ministerpräsident Bayerns, hat vor Jahren gesagt: In Deutschland haben wir nicht eine sozialdemokratische Partei, sondern zwei. Die eine ist lediglich etwas katholischer. Mit einem weichen Profil 51 Prozent zu gewinnen, bringt nichts. Mit einem zu breitem Spektrum kann eine Partei nichts mehr bewirken. Wenn alle bürgerlichen Parteien das Gleiche täten, hätten sie übrigens die Mehrheit.

Ist es für die SVP gut oder schlecht, wenn Fulvio Pelli mit seiner FDP nach links zieht?
Ob er das macht, weiss ich nicht. Ich blicke nicht durch. Klar ist, je linker die andern Bürgerlichen stehen, desto mehr wird meine Partei wachsen. Anderseits: Eine noch stärkere Mitte-Links-Mehrheit wäre für die Schweiz fatal. Leider ist diese heute in der Steuer-, Finanz- und Ausgabenpolitik bereits Tatsache. Darum kommen wir mit der Sanierung des Haushaltes, mit Steuersenkungen und damit der Stärkung des Arbeitsplatzes Schweiz schlecht voran. Was nützt eine starke SVP mit viel Wahl-Erfolg, wenn die Mehrheit der Parteien mit der Linken stimmt?

Für die FDP ist die SVP ein geschmackliches Problem: Aggressive, unanständige Plakate, Weichsinn-Vorwürfe, Ausländerpolitik. Das behindert die Zusammenarbeit.
Wenn einem nichts mehr einfällt, wirft man dem andern den Stil vor und bezeichnet ihn als unanständig. Es beruhigt lediglich einen selbst, wenn man sich die weisse Weste selber überzieht. Die SVP war die Oppositionspartei. Als solche hatte sie ihren Stil. Sie ist nun auf dem Weg zu einer profilierten Regierungspartei. Dieser Weg ist zu gehen, möglichst ohne vom Parteiprogramm abzuweichen. Je mehr die anderen bürgerlichen Parteien ihr entgegenkommen, umso sanfter kann sie werden.

Und ein Zeichen dieser neuen Reife ist, dass sich die Zürcher Jungpartei beim kleinsten Gegenwind schon für einen dämlichen Comics entschuldigt. Früher hörte man solches von Ihrer Partei nicht.

Oh, wie kleinlich. Wahrscheinlich war der Comic auch nicht so toll. Das sind Bagatellen. Wenn Parteien, mit denen man zusammenarbeiten will, sich dermassen über Kleinigkeiten aufregen, dann kann man sie ja auch zurücknehmen. Da fällt diesen Jungen kein Stein aus der Krone. In der Sache dürfen hingegen keine Konzessionen gemacht werden. Das trifft dann die Bürger.

Die Niederlage von Schengen war für Ihre Partei ein Schock. Sie merkte plötzlich, wie leicht sie nach wie vor zu isolieren ist. Hat diese Niederlage das Umdenken gefördert?
Das glaube ich nicht. Wenn Abstimmungskämpfe nur noch moralistisch geführt werden mit dem Argument «Wer mit der SVP stimmt, ist unanständig!», dann können sie als Partei allein fast keine Mehrheit gewinnen. Aber Wahlerfolge erzielen sehr wohl. Nur wird sich dies auf die Dauer gegen die Abstimmungssieger – nicht die Wahlsieger – richten. Das zeigt die Geschichte. Doch bei Stilfragen sind Konzessionen am ehesten möglich.

Ist das der Grund für Ihre ersten grösseren Erfolge in Bern? Sie haben in einem Solo-Ritt in Ihrem Stab über 20 Prozent der Stellen gestrichen. Nun zieht der Bundesrat nach und untersucht, ob man den Staat um 20 Prozent abbauen kann.
Von Erfolg kann man noch lange nicht reden. Im eigenen Departement ist die Reorganisation abgeschlossen. Das stimmt. Bei der Überprüfung der Staatsaufgaben mit dem Sparziel von 20 Prozent und der Verwaltungsreform, wo wir bis zu 40 Millionen im Jahr einsparen wollen, stehen wir erst am Anfang. Alles steht erst auf dem Papier.

Ist im Bundesrat die Sparwut ausgebrochen, wie Kollege Moritz Leuenberger das ausdrückt?
Die finanzpolitische Lage ist rabenschwarz. Trotz allen Reden über das Sparen steigen die Staatsausgaben munter weiter: Ich gebe Ihnen einmal konkrete Zahlen: In den nächsten vier Jahren nehmen die Ausgaben diese in der ordentlichen Rechnung um 14,5 Prozent. Das sind durchschnittlich 3,4 Prozent im Jahr, was mehr ist als das Wirtschaftswachstum und die Teuerung! Mit anderen Worten, wir leben deutlich über unseren Verhältnissen. Im übrigen sind darin grosse Beträge nicht enthalten, die man über die Vermögensrechnung abbucht Ein Ende ist nicht abzusehen: Die geplanten Ausgaben 2009 sind beinahe doppelt so hoch wie 1990! Die Schulden werden 2006 132,6 Milliarden betrage. Das ist ein Anstieg von über 25 Milliarden im Zeitraum von 2001 bis 2006. Wer hier von Sparwut spricht, hat den Realitätsbezug vollkommen verloren!

Hält der Bundesrat nach dieser sozialdemokratischen Attacke den Sparkurs? Oder rutscht eine verdatterte Regierung wieder nach links?

Mit tiefen Kosten eine höhere Leistung zu erbringen ist eine anspruchsvolle Führungsaufgabe. Dies ist nichts für Leute, die nach Beliebtheit trachten. Am schwersten ist die Aufgabe an der Spitze. Schwache Führungskräfte lösen jede Aufgabe einfach mit mehr Geld. Und im Bund heisst dies mit Geld, das die Wirtschaft und die Arbeitsplätze schwächt. Führen heisst, im Interesse anderer, Unannehmlichkeiten auf sich zu nehmen! Tut das der oberste Chef nicht, so führt dies im Unternehmen zum Ruin. Wer als Eltern in der Kindererziehung nicht die Kraft hat auch Verzicht zu verlangen, erweist seinen Kindern einen schlechten Dienst.

Wie gross schätzen Sie Ihre Chance ein, 2007 wieder gewählt zu werden?

50 Prozent. Machen wir eine realistische Lagebeurteilung: Es gibt starke Kräfte, wie die Grünen, die SP, einige Linksfreisinnige – unterstützt vom Ringier-Konzern – die eine Abwahl vorbereiten. Je besser ich meine Arbeit verrichte, desto stärker wird diese Absicht. Vor allem Politiker, die mich in den Bundesrat wählten, um mich “einzubinden“, sind erstaunt, dass ich im Bundesrat mitarbeite. Schlaumeier hoffen, mich abzuwählen und mich damit für immer als Politiker loszuwerden.

Der Staatsschutz wird überall ausgebaut. Unlängst hat auch Ihr Departement eine sehr weitreichende Überwachung durchsetzen wollen. Ist das einfach der Zeitgeist oder haben wir ein echtes Sicherheitsproblem?

Etwas Zeitgeist auch. Aber der Terrorismus ist tatsächlich eine weltweite Bedrohung. Dagegen brauchen wir griffigere Mittel, als wir sie heute haben. Doch die Freiheit des Bürgers ist als oberster Grundsatz zu schützen. Es gibt aber Situationen, wo man diesen Grundsatz durchbrechen muss weil es die Staatsräson gebietet. Die Regierung muss diese heiklen Entscheide treffen und dazu stehen. Die Sicherheitsleute und Nachrichtendienste haben stets gute Gründe, warum man diesen und jenen auch noch abhören sollte. Wenn eine Regierung sich gegen eine zu starke Ausweitung des
Staatsschutzes entscheidet um die Freiheit des Bürgers zu schützen, läuft sie Gefahr, nachher auch die Verantwortung tragen zu müssen, wenn trotzdem etwas geschieht, das man vielleicht hätte verhindern können. Weil dies nicht so beliebt ist, wird im Zweifelsfall ausgeweitet.

Genügt der heutige Staatsschutz nicht?
Bei der Bedrohung durch den Terrorismus und seiner möglichen Quellen, wie zum Beispiel den Islamismus, tappt man im Dunkeln. Die Anschläge in London haben gezeigt, wie gefährlich die Situation ist. Ich habe mich während der Ferien in den Koran vertieft. Wenn man sich wörtlich auf den Koran stützt, wie das extreme Islamisten tun, dann können daraus gefährliche Aktionen entstehen. Diesen Extremismus gilt es zu unterbinden. Bei extremer Auslegung des alten Testaments könnte diese Gefahr auch bestehen, aber es gibt zur Zeit keine extremistische Bewegung, die dies – unter Berufung auf das alte Testament – tut.

Wie gross ist die islamistische Gefahr in der Schweiz?

Das ist schwer abzuschätzen. Die Gefahr ist nicht zu unterschätzen, auch wenn die Schweiz nicht zu den primären Zielen gehört. Die Bekämpfung des Terrorismus liegt ausserhalb des gängigen Abwehrsystems. Unser heutiges Sicherheitssystem will Verbrechen mit angedrohtem Freiheitsentzug verhindern. Bei Selbstmordattentätern greift das gängige System nicht, also muss die Abwehr früher beginnen.

Wie gross ist der Druck aus den USA, auch in der Schweiz gegen Islamisten vorzugehen?
Würden wir tatsächlich Terroristen in der Schweiz beherbergen und wären wir untätig, dann kämen wir unter Druck. Das ist aber nicht der Fall. Terroristische Tätigkeiten oder deren Finanzierung dulden wir nicht auf unserem Staatsgebiet.

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