06.12.2002
Artikel in den "Schaffhauser Nachrichten" vom 6. Dezember 2002
Vor der EWR-Abstimmung erlebte die Schweiz eine intensive Kampagne - unbestritten der Hauptakteur war Christoph Blocher
von Beat Rechsteiner
Ach, was wurde damals gestritten. Damals, 1992, als der Schweiz mit der Abstimmung über einen Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR eine Jahrhundertabstimmung" ins Haus stand. Das Land war polarisiert wie selten zuvor, am Stammtisch und anderswo wurde konträr und emotional diskutiert. Auch die Zeitungen mischten eifrig mit, allen voran der Boulevard. Und im Mittelpunkt stand zumeist ein Mann: SVP-Nationalrat Christoph Blocher. Ringier-Publizist Frank A. Meier drosch auf den Zürcher ein: "Einer trägt, vor allen anderen, die Verantwortung für die entgleiste Kampagne: der Führer der EWR-Gegner. (...) Die böse Stimmung dieser Kampagne, die auf Angst setzte und Hass schürte, entstand nicht aus dem Nichts. Es brauchte dazu den Messias, der diese Stimmung anheizte, der sie genoss, der sie ohne Skrupel nutzte, der sich nie distanzierte vom totalitären Ungeist seiner Gläubigen. Seine Messen waren Schwarze Messen für unsere demokratische Kultur." So war das - auch wenn derartige Zitate aus heutiger Sicht befremdlich erscheinen mögen.
Blocher selbst war schon damals kein Mann leiser Worte. Er war und ist einer, der sich Gehör verschaffen kann, der auch die Regeln des Zusammenspiels zwischen den Journalisten und den Politikern längst begriffen und verinnerlicht hat. Und dennoch lief damals im Vorfeld der Abstimmung aus Sicht des SVP-Vordenkers irgendetwas gründlich schief. Er war zwar der wichtigste Mann auf der Seite der Gegner, sein Name war in aller Munde und wurde in den Zeitungen häufiger genannt als die Namen seiner Mit- und Gegenspieler. Aber in weiten Teilen der Medienberichterstattung blieben seine Botschaften, das, was er den Stimmbürgern inhaltlich vermitteln wollte, auf der Strecke. Beispielhaft am "Blick" und am "Tages-Anzeiger" wurde nachgewiesen, dass in der massenmedialen Diskussion die Argumente der Befürworter massiv stärker berücksichtigt wurden als jene der Gegner.
Ein politischer Kraftakt
Will heissen, Blocher war Gesprächsthema, man rieb sich an ihm und seiner Art, die Dinge deutlicher als viele andere beim Namen zu nennen, man diskutierte über den politischen Stil und die hiesige Kultur des politischen Diskurses, man warf ihm Unsachlichkeit und Populismus vor - aber seine Inhalte wurden nur sehr eingeschränkt thematisiert. Vier Fünftel der Journalisten sind damals für die Abstimmungsvorlage eingetreten. Was dies in einer Zeit bedeutet, in der Wissenschaftler davon sprechen, dass wir Menschen alles das, was wir über die Welt, in der wir leben, wissen, durch die Massenmedien vermittelt erhalten, kann man sich leicht ausmalen. Ergo musste sich Christoph Blocher etwas einfallen lassen, zumal die Umfrageergebnisse lange Zeit eher für als gegen einen EWR-Beitritt sprachen.
"Es war vorauszusehen, dass praktisch alle Verbände, Parteien sowie sämtliche Medien den EWR befürworten würden", blickt Blocher, der anfänglich auch nicht mit der Unterstützung der SVP rechnen durfte, zurück. "Für den damaligen alt Nationalrat Otto Fischer (FDP), der als Geschäftsführer der Auns tätig war, und mich stand fest, dass wir nur dann erfolgreich sind, wenn wir jeder Bürgerin und jedem Bürger die ablehnenden Argumente mitteilen können. Wir beschlossen damals: jeden Tag einen Vortrag gegen den EWR. Wir sahen keine andere Möglichkeit." Also raffte sich Christoph Blocher auf zu einem politischen Kraftakt und bestritt eine beispiellose Saalredetournee. Er ging, wie er heute sagt, an den Rand seiner Kräfte. Dies ist durchaus auf physische Belange zu beziehen, aber ein Stück weit auch auf die Finanzen. Er allein habe eine Million Franken in den damaligen Abstimmungskampf investiert, sagte Blocher kürzlich in einer "Arena"-Sendung des SF DRS. Das Geld floss allerdings weniger in seine Auftritte, sondern vor allem in die Inseratenkampagne, welche derart umfassend angelegt war, dass sie nur einen Monat vor der Abstimmung jene der Befürworter um ein Vielfaches übertraf. Im Übrigen wurde sie zeitlich geschickter umgesetzt, die bejahende Seite war im Vergleich weniger effizient.
Zu Beginn nahm Christoph Blocher an Podiumsgesprächen mit Befürwortern teil, je länger, je mehr stellte sich indes heraus, dass die Leute vor allem deshalb die Säle füllten, weil sie ihn reden hören wollten. "Unentwegt strömten die Leute ins National. (...) Mehr als 900 Bernerinnen und Berner wollen sich das Referat des wohl prominentesten EWR-Gegners zu Gemüte führen", schrieb der "Bund". "1300 Personen wollen Christoph Blocher in Schöftland hören", titelte das "Aargauer Tagblatt". "Christoph Blocher ist eine Attraktion. Ist er auf 20 Uhr in die normalerweise überdimensionierte Glarner Aula angesagt, so kämpfen die Leute schon um 19.30 Uhr um die letzten Sitzplätze", war in den "Glarner Nachrichten" zu lesen. Das Interesse der Bevölkerung war immens. Anfangs sprach Blocher einmal pro Tag, in der Endphase der Kampagne kam er nicht selten auf drei Reden täglich, wobei die Säle immer grösser wurden. Im Hintergrund organisierte seine Frau Silvia die Tournee, versuchte durch eine gezielte Auswahl der Orte möglichst weite Teile vor allem der Deutschschweiz abzudecken. Selbst im Münstertal in Graubünden sprach der Präsident der Zürcher SVP. Dort trat er Anfang September auf - und bis zum Abstimmungssonntag waren zu jenem Zeitpunkt noch rund 80 Auftritte geplant.
"Unter der Gürtellinie"
Blochers Reden wurden zum Ereignis. Warum? Unabhängig davon, ob sich die eigene politische Ausrichtung nun mit derjenigen des als "Volkstribun" verschrienen Politikers deckt, ist kaum zu bestreiten, dass er als ausgezeichneter Redner ein eigentlicher Publikumsmagnet ist und abseits der inhaltlichen Ebene Politik auch als Unterhaltung zu inszenieren versteht. Der Mann polarisiert, und er hat Charisma. Der Zürcher PR-Berater Klaus J. Stöhlker bezeichnete ihn als den besten Kommunikator des Jahres 1992, weil es ihm gelang, "die Stimmbürger vom Nein zum EWR mit gezielten Argumenten und einer ausgefeilten Kommunikationstechnik zu überzeugen". In den meisten Medienberichten wurde die Art und Weise, wie Blocher seine Argumente vortrug, freilich eher negativ bewertet. Und selbst Wissenschaftler wie der Politologe Hanspeter Kriesi gingen mit dem Redner hart ins Gericht. Kriesi fand auch gleich die Ursache dafür, warum seine Gegner sich in der Auseinandersetzung derart schwer taten: "Wer so unsachlich unter die Gürtellinie zielt, ist auf einer sachlichen Ebene kaum zu bekämpfen." Vorbei kam an den Saalreden allerdings bald niemand mehr, auch die Medien mussten Notiz davon nehmen. "Infolge des grossen Besucheraufkommens waren sie gezwungen, wenigstens über unsere Veranstaltungen zu berichten", sagt Blocher selbst.
Ein nächster Punkt könnte tatsächlich die überwiegend negative Berichterstattung der Medien selbst gewesen sein. Blocher glaubt, dass der "fanatische Ausschluss durch die Gegenseite" die Stimmbürger misstrauisch habe werden lassen. Die Saalredetournee profitierte von einem Schneeballeffekt, die ganze Sache wuchs mit der Zeit beachtlich. So könnte man mit einiger Berechtigung die These vertreten, dass es dem Politiker selbstverständlich auch im Zuge anderer Kampagneninstrumente wie der Schaltung von Inseraten gelang, eine Art Gegenöffentlichkeit zu etablieren. Sodass die von den Medien veröffentlichte Meinung Konkurrenz bekam. Der Politologe Claude Longchamp spricht in diesem Zusammenhang von einer Entkoppelung zwischen dem Mediensystem und der Bürgerschaft. In diesem Bereich dürfte dann auch die Kommunikation im Anschluss an die Saalreden zum Tragen gekommen sein. Konkret: Die Menschen hörten Blocher an oder nahmen ihn über die Massenmedien wahr und diskutierten hernach in ihrer sozialen Umgebung. Ausgewirkt haben sich solche Prozesse sicherlich auch auf die Leserbriefspalten - und diese wurden im EWR-Abstimmungskampf ungewöhnlich stark zur Kenntnis genommen, zusammen mit den Inseraten noch stärker als das Bundesbüchlein.
Mobilisierende Wirkung
Zu alledem hinzu kommt, dass sich auch die Sachfrage für einen derartigen Abstimmungskampf anbot. Selten fesselte eine Vorlage die Stimmbürger so sehr, wie es jene über den EWR-Beitritt tat. Die Thematik löste in der Bevölkerung nebst einem grossen Interesse auch eine enorme Betroffenheit aus. Festzustellen war ein ausserordentlich hoher Politisierungsgrad. Mit 78,3 Prozent war die Beteiligung an der Abstimmung selten hoch, die Kampagnen vermochten die Menschen wie kaum einmal zuvor zu mobilisieren - man muss zurückgehen bis auf eine Vorlage vom Juli 1947, um eine vergleichbare Stimmbeteiligung zu finden. Welche Wirkung auf die Meinungsbildung die Saalredetournee von Christoph Blocher nun entfaltet hat, ist schwer feststellbar. Auch Blocher selbst kann dies nicht genau beziffern. In der wissenschaftlichen Nachbetrachtung spielen seine Auftritte eine geringe Rolle, sie werden kaum beachtet. Immerhin aber weist Hanspeter Kriesi darauf hin, dass vor allem die Leserbriefe die Meinungsbildung in Richtung eines EWR-Neins beeinflusst haben und dass dem unmittelbaren sozialen Umfeld in der Entscheidungsfindung eine zentrale Rolle zukam. Den Link zu Blochers zahlreichen Auftritten stellt jedoch auch er nicht her.
Quellen: Kriesi, Hanspeter et al. (1992): Analyse der eidgenössischen Abstimmung vom 6. Dezember 1992. Vox-Analysen eidgenössischer Urnengänge. - Saxer, Ulrich / Tschopp, Cosima (1995): Politik und Medienrealität. Die schweizerische Presse zur Abstimmung über den EWR. Seminar für Publizistikwissenschaft der Universität Zürich. - Kriesi, Hanspeter (1994): Akteure - Medien - Publikum. Die Herausforderung direkter Demokratie durch die Transformation von Öffentlichkeit. - Verschiedene Zeitungsartikel aus dem Jahre 1992.
29.11.2002
Conférence de presse du 29 novembre, Palais fédéral Berne
Analyse de la situation et perspectives
de CN Christoph Blocher, Président de l'ASIN, Herrliberg
ewr_fr_short.pdf
29.11.2002
Eine Standortbestimmung mit Ausblick
Pressekonferenz vom 29. November 2002, Bundeshaus Bern
von NR Christoph Blocher, Präsident der AUNS, Herrliberg
021129ewr_standortbestimmung.pdf
29.11.2002
Schweizer Unternehmer gehen trotz schleppendem Wirtschaftswachstum auf Distanz zu Europa. Damit werden wichtige Reformen versäumt: Die Schweiz gerät immer mehr ins Hintertreffen.
Interview mit "Cash" vom 29. November 2002
von Annetta Bundi, Jürg Wegelin
Der 6. Dezember 1992 markiert nicht nur für die Schweiz, sondern auch im Leben von Christoph Blocher einen Wendepunkt. Sein erbitterter Kampf gegen den EWR wurde vom Volk zwar knapp unterstützt, doch das gedemütigte Establishment reagierte betupft: Wenige Monate nach der denkwürdigen Abstimmung musste der Zürcher Volkstribun seinen Sessel im Verwaltungsrat der damaligen Bankgesellschaft räumen.
Solche Strafaktionen sind heute nicht mehr denkbar. Denn die Wirtschaft
ist inzwischen auf den Kurs von Blocher eingeschwenkt. Von einer
«nationalen Katastrophe», wie sie der verstorbene Spitzendiplomat und
langjährige ABB-Kopräsident David de Pury in der Schweiz nach dem
EWR-Nein geortet hatte, mag niemand mehr sprechen. Im Gegenteil: Eine
Verhärtung der Fronten wird achselzuckend in Kauf genommen, wie das
Gerangel ums Bankgeheimnis zeigt. «Blocher hat sich auf der ganzen Linie
durchgesetzt», urteilt Peter Bodenmann, der ehemalige SPPräsident und
spitzzüngige Walliser Hotelier. «Politik und Wirtschaft haben sich aus der
EU-Diskussion verabschiedet. »
Blochers Taktik ist aufgegangen. Zehn Jahre nach der EWR-Abstimmung
mag sich am Europa-Thema niemand mehr die Finger verbrennen. Sein
Triumph entpuppt sich allerdings als Pyrrhussieg: Die Exportwirtschaft zum
Beispiel zahlt den vom Volkstribun gerne ins Feld geführten Zinsvorteil
gegenüber der EU mit einem auf hohem Niveau fluktuierenden
Frankenkurs. Und tiefe Kapitalkosten nützen dem Investor wenig, wenn
die Baupreise, wie fast alle anderen Preise (siehe Box), höher sind als bei
der ausländischen Konkurrenz.
Gravierender, als Blocher vorgibt, ist auch das Wachstumsdefizit der
Schweiz: Dieses besteht zwar bereits seit Mitte der Siebzigerjahre, hat seit
der Ablehnung des EWR-Vertrages 1992 aber stark zugenommen (siehe
Grafik). Die Länder der EU hingegen profitieren von der Integration in den
Binnenmarkt und vom Schwung der damit ausgelösten Reformen.
Österreich hat die Schweiz inzwischen nicht nur im Skifahren, sondern auch
beim Wirtschaftswachstum abgehängt.
Die Schweiz ist aus eigener Kraft nicht zu Reformen fähig
Kein Wunder, macht nun das Wort vom «verlorenen Jahrzehnt» die Runde.
Avenir Suisse, der Think Thank der Wirtschaft, spricht im Unterschied zur
Schönfärberei ihrer Auftraggeber in den Chefetagen gar von einer doppelt
verpassten Chance: «Weder erntet man die vollen Früchte des grossen,
dynamischen Binnenmarktes, noch wurde der heimische Boden mit den
notwendigen Reformen für das zukünftige Wachstum bestellt.»
Die Schweiz ist nicht fähig, ihre verkrusteten Strukturen aus eigener Kraft
aufzubrechen. «Wenn wir dem EWR beigetreten wären, wären uns die
unfruchtbaren Diskussionen über die Liberalisierung des Post- und
Strommarktes erspart geblieben», ärgert sich Silvio Borner. Der Basler
Ökonom sagt der Schweiz schwierige Zeiten voraus. Die EU stelle unser
Land Schlag auf Schlag vor vollendete Tatsachen: «Im Anpassungsprozess
werden wir der EU auch in Zukunft dauernd hinterherhinken.» Damit ist der
von Blocher propagierte Alleingang schleichend Realität geworden. Denn
für einen EU-Beitritt fehlen der Schweiz derzeit die Kraft und der Wille.
Gleiches gilt für die neuen bilateralen Verhandlungen, die zwar als
Pflichtübung weitergeführt, aber kaum je abgeschlossen werden dürften.
Die EU drängt auf immer grosszügigere Zugeständnisse. So erwartet sie
von der Schweiz, dass diese ihren Acquis und damit das geltende und
künftige EU-Recht übernimmt. Dieses Angebot ist für die Schweiz nicht
akzeptabel, und deshalb haben die Durchhalteparolen von Politik und
Wirtschaft bloss noch symbolischen Charakter. «Es gibt keinen anderen
Weg als den Bilateralismus», versucht Economiesuisse-Chef Ueli Forster
der Wirtschaft Mut zu machen. Doch er weiss, dass deren Anliegen mit
dem ersten Paket weit gehend erfüllt sind und der bilaterale Weg
«mühsam und Zeit raubend» ist.
Beliebte Shopping-Ausflüge ins Ausland
Derweil arrangiert sich die Schweizer Bevölkerung mit ihren Nachbarländern
auf eine bestechend simple Art: Tausende von Konsumenten shoppen im
grenznahen Ausland oder benutzen das verlängerte Wochenende in Paris
für den Einkauf von Medikamenten oder Fleisch. Damit folgen sie Borners
Beispiel. Der Ökonom pfeift auf das Schweizer Buchkartell und beschafft
sich seine Bücher bei Amazon im Internet. «Für meine Online-Einkäufe
führe ich ein Bankkonto in Grossbritannien.»
Solche Rezepte mögen dem einzelnen Bürger helfen. Doch taugt der
Alleingang auch für die Schweiz als ein stark exportorientiertes Land
mitten im europäischen Binnenmarkt? Blocher gibt sich selbstbewusst und
beruft sich auf die Welthandelsorganisation: «Die EU muss sich an die
WTO-Regeln halten.» Mit Zöllen und dergleichen könne sie die Schweiz
deshalb nicht unter Druck setzen. «Als zweitwichtigster Kunde der EU
könnten wir notfalls auch Retorsionsmassnahmen ergreifen.» Da könnte
sich der machtbewusste Volkstribun indes gewaltig täuschen. «Die WTO
setzt auf grosse Wirtschaftsräume und nicht auf Einzelkämpfertum», ist
Europarechts-Experte Thomas Cottier überzeugt.