Sprachgrenzen

Referat von Bundesrat Christoph Blocher im Institut National Genevois, Genf, 12. November 2007

12.11.2007, Genf

Genf. Bundesrat Christoph Blocher sprach am Institut National Genevois zum Thema “Sprachgrenzen”. Er zeigte in seinem Referat auf, wie – trotz vorhandener Sprachgrenzen – in der föderalistischen Schweiz die sprachliche Vielfältigkeit gelebt und auch geschützt wird.

Es gilt sowohl das mündliche wie das schriftliche Wort, der Redner behält sich vor, auch stark vom Manuskript abzuweichen.

Meine Damen und Herren

1. Persönliche Sprachgrenzen

Ihr ehrwürdiges Institut hat mich eingeladen zum Thema “Sprachgrenzen” zu reden.

Schon beim ersten Satz weiss ich, was es heisst, Sprachgrenzen überwinden zu müssen: Ich muss nämlich Französisch sprechen. Das ist nicht meine Muttersprache. Es ist nicht die Sprache, die man auf meiner Seite, sondern auf der anderen Seite der Sprachgrenze spricht. “Frontière” heisst auf Lateinisch “limes”. Man könnte also auch sagen: Ich bin in meiner Ausdrucksweise limitiert.

2. Gegenseitige “Leihgaben”

Nicht alle Grenzen sind überbrückbar. Sprachgrenzen jedoch sind es immer. Denn Sprachen kann man auch ausserhalb des Sprachgebietes lernen. Oft vermischen sich ferner die Wörter der eigenen Sprache mit der fremder Sprachen. Menschen kommen einander so näher. Dies kann bisweilen bedrohlich werden. So fragte einmal ein Franzose angesichts der vielen Anglizismen vorwurfsvoll: “Parlez-vous “franglais”?”

So gibt es auch viele deutschschweizerische hochdeutsche Wörter, die den Deutschen fremd sind, weil die Romandie die hochdeutsche Sprache der deutschen Schweiz beeinflusst hat. Wenn etwa ein Deutscher auf “Gleis” 7 auf den Zug wartet und den “Schaffner” wegen seiner “Fahrkarte” anspricht, wartet ein Deutschschweizer – auch wenn er Hochdeutsch spricht – nicht auf dem “Gleis”, sondern auf dem “Perron” und spricht nicht den “Schaffner”, sondern den “Kondukteur” an. Und er fragt ihn nicht etwa wegen der Fahrkarte, sondern wegen des “Billets”.

Er sagt aber nicht “conducteur” – auf gut Französisch – sondern “Konduktör”, und auch nicht “billet” wie der Welsche, sondern “Bilet” wie der Schweizerdeutsche.

Daraus sieht man: Jede Nation schenkt der anderen einen Teil ihrer Sprache und damit einen Teil ihrer Kultur.

So erfreut uns die französische Küche auch in verbaler Gestalt: “Sauce”, “Baguette”, “Bouillon”, “Dessert”, “Suppe”, “Glacé” – wer möchte diese “Delikatessen” (ein französisches Lehnwort, das wir im Sinne von “comestibles de choix” benutzen) missen?

Unser kulinarischer Beitrag Richtung Westen war da etwas bescheidener und rustikaler: “les Röstis” und “le Rollmops”. Aber eben: La cuisine française setzt nicht nur bei den Zutaten, sondern auch bei der Zubereitung Massstäbe: ein “tranchiertes” Fleisch scheint einfach etwas Besseres zu sein als ein profan “geschnittenes”. Was wir ja wörtlich wohl als “coupé” übersetzen würden.

Zum Schluss noch ein Exportschlager aus jüngerer Zeit. In den 80er Jahren wurde das Wort “Waldsterben” geprägt und später durchaus passend ins Französische mit “le Waldsterben” aufgenommen: Schliesslich fand “le Waldsterben” tatsächlich in den deutschen Feuilletons und nicht in der Natur statt, was die französische Sprache anscheinend erkannte!
Oder ein anderes aufschlussreiches Beispiel. So sprechen die Romands ebenfalls von “le Sonderfall” Schweiz. Will man damit auch verbal eine Distanz schaffen und “le Sonderfall” als Deutschschweizer Erfindung markieren? Warum soll die Schweiz kein “cas particulier” sein? Allerdings gehört mittlerweile auch in der französischen Schweiz der EU-Beitritt nicht mehr zum öffentlichen Glaubensbekenntnis. Insofern müsste auch “le Sonderfall” kein sprachlicher “Sonderfall” mehr sein.

3. Keine Sprachnation

Wir haben von Grenzen und ihrer Überwindung gesprochen. In der Schweiz wurde die Sprache nie mystifiziert. Einen Satz wie “Die deutsche Sprache ist die Orgel unter den Sprachen” wäre bei uns undenkbar.

Schliesslich definiert sich unser Staat weder über die Religion noch die Sprache, sondern über die gemeinsame Geschichte, den Freiheitskampf, die direkte Demokratie, den Willen zur Unabhängigkeit, die Neutralität.

Die Schweiz soll auch keine Sprachnation sein. Wir sind darauf bedacht, dass sich vor allem die Sprachminderheiten gegenüber der deutschsprachigen Mehrheit nicht benachteiligt fühlen.

Wir dürfen wohl sagen, dass wir solche Zerreissproben wie in anderen Staaten, ich nenne hier einmal Belgien, nicht kennen.

Warum? Dort herrscht eine ziemlich scharfe kulturelle, aber auch politische Trennung zwischen den niederländisch sprechenden Flamen und den französischsprachigen Wallonen. Wobei im Norden die Separationstendenzen weit ausgeprägter sind, zumal von dort aus wesentliche Transferleistungen nach Wallonien geleistet werden müssen.

4. Föderalismus als Minderheitenschutz

Die Schweiz wurde – wieder im Gegensatz zu Belgien – nie als Einheitsstaat konzipiert. Unser Land ist aus einer Vielzahl von Kleinstaaten zusammen gewachsen, ohne aber je deren Hoheit in wichtigen Fragen und Belangen zu zerstören.

Ein zentralistisches System würde die Schweiz in ihrer Existenz gefährden. Auch wegen der drohenden Missachtung von Sprachgrenzen. Das muss in dieser Deutlichkeit festgehalten werden.

Allerdings kennt die Schweiz auch kein übermächtiges Zentrum wie etwa in Belgien die Hauptstadt Brüssel. Genf und die Gegend am Lac Léman sind wirtschaftlich einer Region Basel oder Zürich ebenbürtig.

Das Verwaltungszentrum in Bern – der Hauptstadt – hat dagegen keine überragende Bedeutung.

Selbstverständlich erleben wir auch heute Gegensätze im Land. Gleichmacher und Harmoniesüchtige mögen dies bedauern. Ich meine zum Glück. Denn sie sind der Beweis für die Vielfältigkeit einer Nation. Gegensätze werden nur in Diktaturen ausgemerzt.

Glücklicherweise verteilen sich aber in der Schweiz die Gegensätze so, dass sie sehr selten nur einer Sprachgemeinschaft angehören.

Wir haben Sozialisten in allen Landesteilen und Bürgerliche, die deutsch oder französisch oder italienisch parlieren. Wir haben Katholiken und Protestanten hüben wie drüben! Katholische Fribourgeois und katholische Appenzell-Innerrhoder, reformierte Schaffhauser und Genfer Calvinisten. Die religiösen Unterschiede sind heute eher durch einen Stadt-Land-Gegensatz abgelöst worden, der sich wiederum nicht mit den Sprachgebieten deckt.

Die Vielfältigkeit der Schweiz, die eben auch teilweise harte Gegensätze einschliesst und mögliche Konflikte nicht ausschliesst (und nicht ausschliessen soll), wird durch den Föderalismus und die direkte Demokratie aufgefangen.

Der Föderalismus ermöglicht den Gemeinden und Kantonen weitgehende Autonomie und damit eben die eigene Sprache, Religion, Kultur und Wesensart. Kantonsgrenzen sind gerade hier nicht die Ursache, die zu Konflikten führen. Insbesondere nicht in der Frage der Sprache.

Der Föderalismus ist vor allem ein Schutz für Minderheiten, während der Zentralismus als dominierende Kraft der Minderheit keinen Schutz geben kann.

Das sollten wir nie vergessen, wenn wieder einmal das Klagelied über den “Kantönligeist” losbricht. Gerade Sie, als Bürgerinnen und Bürger einer Sprachminderheit, haben ein elementares Interesse an einem starken Föderalismus. Ich weiss nicht, ob die Minderheiten diesen Zusammenhang immer sehen.

5. Wenn die Politik sich einmischt

Mit dem Föderalismus, mit der grundsätzlichen Frage nach dem Staatsaufbau, sind wir zwangsläufig bei der Politik angelangt. Auch Bundesbern – die Zentralgewalt – fühlt sich berufen, in die Sprachenfrage einzugreifen.

Besonders umstritten ist der Punkt, welche Fremdsprache in der Primarschule unterrichtet werden soll. Frühenglisch? Frühdeutsch? Frühfranzösisch? Warum nicht Frühlatein? Oder vielleicht doch eher Frühchinesisch, schliesslich soll China die Supermacht von morgen werden?

Wie auch immer: Es sollen die Kantone sein, die solche Fragen zu lösen haben. Warum dürfen die Urner, ans Tessin angrenzend, nicht zuerst Italienisch lernen? Was aber, wenn ein Kind von Uri in den Nachbarkanton Nidwalden umzieht, in dem Frühfranzösisch unterrichtet wird? Ich frage Sie: Geht deswegen die Welt unter? Müssen wir wegen möglicher Einzelfälle ein eigentlich gut funktionierendes System aufs Spiel setzen? Je konsequenter föderal wir sind, desto besser lösen wir die Probleme: Nämlich dort, wo sie drücken, viel näher bei den Menschen und den jeweiligen Gegebenheiten am besten angepasst.

6. Sprachgrenzen überwinden

Es gibt Sprachgrenzen. Ob wir sie wollen oder nicht. Es gibt künstliche und natürliche Sprachgrenzen, nötige und überflüssige. Es gibt Sprachgrenzen, die wir zu respektieren haben und noch viel mehr solche, die wir überwinden können, ohne diese abzuschaffen.

← Indietro a: Testi