Schweizer Wirtschaft – Stiefkind der Schweizer Politik?

Referat von Bundesrat Christoph Blocher vor der Statistisch-Volkswirtschaftlichen Gesellschaft, 26. März 2007, Universität Basel

26.03.2007, Basel

Basel. In seinem Referat vor der Statistisch-Volkswirtschaftlichen Gesellschaft in der Universität Basel vertrat Bundesrat Christoph Blocher den Standpunkt, dass die beste Förderung der Wirtschaft ihre Nichtbehinderung durch den Staat sei. Die Swiss sei ein besonders anschauliches Beispiel dafür, dass die Vermischung von Staat und Wirtschaft nichts Gutes bringe.

Es gilt sowohl das mündliche wie das schriftliche Wort, der Redner behält sich vor, auch stark vom Manuskript abzuweichen.

1. Etwas mehr Vernachlässigung, bitte

Die Frage, der wir heute nachgehen wollen, lautet: Ist die Wirtschaft tatsächlich ein Stiefkind der Schweizer Politik? Oder mit anderen Worten ausgedrückt: Wird der Schweizer Wirtschaft von der Politik zu wenig Beachtung geschenkt? Wird sie gar – wie es eine Redensart beschreibt – stiefmütterlich behandelt?

Man denkt bei “Stiefkind” gewöhnlich an das Schicksal Aschenbrödels, an die böse Schwiegermutter, an Erbsen zählen, Gemeinheiten, Bevorzugung, Benachteiligung. Wer stiefmütterlich behandelt wird, der wird – so versteht es der Volksmund – vernachlässigt. Aber das Problem des Aschenbrödels – und jedes Kindes – ist nicht unbedingt das Problem der Wirtschaft. Wenn unter “Stiefkind” eine gewisse Vernachlässigung verstanden würde, wäre das für die Wirtschaft – im Gegensatz zu Kindern – gar nicht so schlimm. Das Problem der Wirtschaft ist eher in der staatlichen Überbetreuung zu suchen. An zu viel von allem. Zu viel Beachtung in Form von Vorschriften, Kontrollen, Regulierungen. Zu viel Hinwendung in Form von staatlichen Eingriffen. Zu vielen politischen Gelüsten, Erfolg umgehend mit Steuern zu bestrafen und zu vielen Politikern, die unbedingt in Bereiche eingreifen wollen, von denen sie nichts verstehen. So können wir festhalten: Wenn die Politik die Wirtschaft vernachlässigen, wie ein Stiefkind behandeln würde, wäre das allemal besser, als wenn die Politik sich wie eine fürsorgliche Hyäne auf die Wirtschaft stürzt.

2. Swissair-Swiss-Debakel

Wir erinnern uns mit Schaudern an das Swissair-Swiss-Debakel. Dass die Swissair Konkurs ging, war bedauerlich, aber letztlich die Folge von Fehlentscheidungen seitens der Unternehmensführung. Der Prozess in Bülach scheint mir da mehr eine therapeutische Aufarbeitung zu sein als ein wirklich brauchbarer Umgang mit Missmanagement. Denn letztlich hat der Markt das Unternehmen und seine Führung genügend abgestraft.

Weit lohnender wäre eine Beschäftigung mit der Swissair-Nachfolgerin Swiss. Denn dort glaubte die Politik, als staatlicher Erziehungsverantwortlicher eingreifen zu müssen. Um im Ausgangsbild zu bleiben: Die Swiss wurde von der Politik alles andere als wie ein Stiefkind behandelt.

Die Politiker entdeckten und propagierten bei der Swiss-Entstehung das “Primat der Politik”. Mit dem “Primat der Politik” wurden Eingriffe in die Wirtschaft verteidigt, die den Schweizer Steuerzahler am Ende mehrere Milliarden Franken kosteten. Ich will Ihnen diese Aktion mit ein paar Beispielzitaten aus jener Zeit versüssen. Der Bündner SP-Nationalrat Andrea Hämmerle in der Herbstsession 2001: “Wir müssen das Primat der Politik unbedingt wiederherstellen.” Der Aargauer SP-Nationalrat Urs Hofmann: “Staatliche Wirtschaftspolitik heisst, das Primat der Politik im richtigen Moment, wenn es nötig ist, zu unterstreichen und auch mit staatlichen Geldern zu intervenieren.” Die SP-Nationalrätin Susanne Leutenegger Oberholzer aus Basel-Land: “Wir dürfen das Geschäft nicht weiter den Banken und der Privatwirtschaft überlassen. Sie haben das Meisterstück mit dem Ruin der Swissair bereits vorgeführt.” Die Zürcher SP-Nationalrätin Barbara Marty Kälin: “Wer, wenn nicht der Staat, soll denn handeln, wenn die Wirtschaft offensichtlich unfähig dazu ist?” Das sind alles Aussagen aus dem Herbst 2001. Das sind alles Aussagen, die den Weg ebneten, um ein staatlich finanziertes und gewerkschaftlich diktiertes Airlinemodell namens Swiss zu kreieren. Das sind alles Aussagen, die uns zeigen, dass die Politik die Wirtschaft alles andere als “stiefmütterlich” behandelte. Leider.

Was wir heute wissen: Die Swiss flog genau so lange, bis das anfänglich noch vorhandene Eigenkapital (sprich: die eingeschossenen Steuergelder) verflogen war. Was wir weiter wissen: Das 26/26/82-Modell (26 Lang- und Mittelstreckenlinien, 82 Kurzstreckenlinien) orientierte sich nicht an den Bedürfnissen des Marktes, sondern an den Bedürfnissen der Gewerkschaften. Was wir vor allem feststellen konnten: Das Primat der Politik in einem privaten Unternehmen führt fast zwangsläufig in den Ruin. Ich erinnere daran, dass der Staat schon bei der Swissair als grösster Einzelaktionär fungierte, aber da war niemand aus der Politik, der je den Verwaltungsrat kritisiert hätte oder die Hunterstrategie oder das Management. Der Grund dafür ist simpel: Schon für Private, die ein Unternehmen führen müssen, ist es schwierig – wie die SWISSAIR gezeigt hat. Für den Staat ist es nur in einer Monopolstellung möglich! Das ist nicht Ideologie, sondern Erfahrung. Auf schwierigem bis gefährlichem Gelände befindet sich die Schweiz übrigens derzeit auch mit der SWISSCOM, die – obwohl kein Monopolist mehr – nach wie vor mehrheitlich in staatlichen Händen liegt, und im Interesse der SWISSCOM und der Schweiz privatisiert werden sollte!

3. Der Staat als Unternehmer?

In einem freien Wettbewerb darf der Staat nicht als Unternehmer auftreten. Er ist grundsätzlich der falsche Eigentümer. Erst recht, wenn damit eine internationale und damit zwangsläufig risikoreiche Tätigkeit verbunden ist. Dies zeichnet sich für die Swisscom immer deutlicher ab. Unsere nationale Telekommunikationsgesellschaft steht auch als privatisierter Betrieb weiterhin unter dem Schutz des Bundes, denn dieser hält die Mehrheit des Aktienkapitals. Damit ist die Eidgenossenschaft als grösster Wettbewerbsteilnehmer und gleichzeitig als Wettbewerbshüter in eine unmögliche Rolle geraten.

Bundesräte sind und bleiben politische Behörden und sind nicht dafür gewählt, Unternehmen zu führen. Aber unabhängig davon, ob wir fähig sind oder nicht, dem Bundesrat obliegt nun mal die Verantwortung über die zum Staat gehörenden Unternehmen. Diese Verantwortung nicht wahrzunehmen – sei es aus Unfähigkeit, Furcht oder Schlamperei – auch das geht nicht. Darum musste der Bundesrat entscheiden, als er die Expansionsstrategie der Swisscom unterband. Und er hat richtig entschieden. Gleichwohl ist die Situation nach wie vor unbefriedigend: Die Stiefmutter Staat müsste das Stiefkind Swisscom eigentlich in die Unabhängigkeit entlassen. Die Swisscom ist kein Kind mehr, sondern erwachsen. Das gilt auch für alle anderen teil- und scheinprivatisierten Betriebe.

4. Der staatlichen Förderung entgeht nichts.

Die Swiss war bloss ein besonders extremes und daher besonders anschauliches Beispiel dafür, dass die Vermischung von Staat und Wirtschaft nichts Gutes bringt. Die Swisscom-Geschichte wäre uns Auftrag genug, die Staatsbeteiligung an Unternehmen im freien Markt sofort herunterzufahren.

Nun begnügt sich der Staat nicht mit Beteiligungen an jenen Betrieben, die den Bürgern so wolkig-gemütlich als “Service public” verkauft werden. Der Staat will auch sonst nur das Beste für die Unternehmen… Es wird gefördert, unterstützt, subventioniert, “anstossfinanziert”, wo man nur kann – und natürlich immer mit dem besten Willen.

Es ist erstaunlich, was in diesem Land alles gefördert werden muss. Dem Förderungsdrang entgeht sozusagen nichts und niemand. Wir kennen zum einen die “Klassiker” unter den Beförderten: Die Exportförderung, die Wohnbauförderung, die Tourismus- und Regionalförderung, die Kulturförderung und neuerdings auch die Gesundheitsförderung. Sie dienen alle meist nur der Beruhigung des schlechten Gewissens, aber ein positiver Nutzen ist kaum auszumachen.

Ich möchte Ihnen anhand von ein paar unrepräsentativ zusammengestellten Beispielen aufzeigen, wie weit der Förderungsdschungel in der Politik schon gediehen ist. So gibt1 es unter anderem in der Schweiz eine…

“Kommission für Technologie und Innovation zur Förderung des Kontaktes zwischen der Wissenschaft und der Wirtschaft insbesondere der Klein- und Mittelbetriebe” (das nützt wahrscheinlich so viel, wie es kompliziert klingt);

dann gibt es eine Kommission für Umwelt, Raumplanung und Energie. Diese fordert, der Bundesrat solle einen Entwurf für ein Gesetz ausarbeiten, das den Ersatz von Zweiradfahrzeugen mit Zweitaktmotoren durch solche mit Viertaktmotoren fördert (jetzt sehen Sie, welche wichtigen Aufgaben der Bundesrat zu erledigen hat – da verblassen die Milliarden Staatsschulden daneben…);

dann will die Redaktionskommission eines Verfassungsrates “Massnahmen zur Förderung geschlechterparitätischer Besetzung politischer Gremien” (die Frauenförderung begleitet uns schon seit ein paar Jahrzehnten);

weiter will eine Kommission für Wirtschaft und Abgaben die “Förderung der Biervielfalt durch Entlastung der Kleinbrauereien” (Prost!);

dann haben wir ein Jugendförderungsgesetz, eine Kommission zur Förderung des kulturellen Lebens, eine Kommission für Integration und Förderung des interkulturellen Austausches, eine Förderung der gegenseitigen Achtung und Toleranz aller EinwohnerInnen, eine Förderung der Forschungskompetenz…

…und schliesslich widmet sich die Schweizerische Kommission für die Erhaltung der Pilze (SKEP) intensiv den Fragen und Problemen rund um die Erhaltung und Förderung der wildlebenden Pilze in der Schweiz.

Hinter all diesen Bemühungen mögen die besten Absichten stecken. Aber sind sie nötig? Ist diese Förderungsmanie nicht bloss ein Ausdruck dafür, dass der Staat an anderer Stelle so viele Auflagen und Regulierungen erlässt, dass die Förderung überhaupt nötig wird?

Es wird ja oft und gerne die Landwirtschaft als besonders abschreckendes Beispiel der staatlichen Unterstützungspolitik herangezogen. Nur können die Bauern nicht viel dafür. Ich habe schon vor Jahren gesagt: Man könnte die Ausgaben in der Landwirtschaft um eine Milliarde senken, ohne dass deswegen die Bauern nur einen Franken weniger bekämen. Allein dadurch, indem die Gelder nicht in politisch bevorzugte (vornehmlich ökologische) Projekte flössen, indem man die Agrarbürokratie abbaute und den Produzenten und Grossverteiler mehr Freiraum gäbe die verschiedenen Standards selber untereinander zu regeln. Wir haben ja schliesslich bereits bestehende Lebensmittel- und Tierschutzgesetze und -verordnungen. Jetzt hat eine Studie die Agrar-Geldflüsse für das Jahr 2002 näher untersucht. Von den 4,1 Milliarden Franken kamen 900 Millionen gar nie bei den Bauern direkt an. Dafür fliessen grosse Summen in nicht landwirtschaftliche Betriebe (608 Millionen), in die Verwaltung (107 Millionen) und Produzentenorganisationen (54 Millionen), zu Beratern (18 Millionen) und in die Forschung (153 Millionen). So geht das. Die Politik muss Abermillionen ausgeben, um jene Fehler auszugleichen, die sie selber mitzuverantworten hat. Die beste Förderung bestünde doch darin, die Wirtschaft (auch die Landwirtschaft) sich so weit selber zu überlassen, wie es nur irgendwie möglich ist.

5. Gut gemeint ist selten gut gemacht

Gut gemeint ist selten gut gemacht. Man kennt in der Volkswirtschaft den so genannten “Kobra-Effekt”. Benannt ist dieser Effekt nach einer kleinen Geschichte aus Indien. Dort litt ein Landstrich unter einer besonders grossen Kobra-Plage. Daraufhin setzte der Herrscher eine Prämie für jede erlegte Kobra aus. Pro abgetrenntem Kobra-Kopf wurde eine bestimmte Summe ausbezahlt. Die Folge davon: Die Menschen begannen massenhaft Kobras zu züchten und verdienten sich so ihren Lebensunterhalt. Wer will es ihnen verübeln? Unser Fazit: Ein an sich gut gemeinter staatlicher Erlass verkehrt sich ins Gegenteil.

Wir können diesen Effekt sehr gut in anderen Bereichen aufzeigen, etwa im Arbeitsmarkt, bzw. im Versuch, den Arbeitsmarkt durchzuregulieren. Von Mindestlöhnen, Maximallöhnen, Kündigungsschutz, Betriebsräten, Senkung der Arbeitszeit, Beschränkung der Ladenöffnungszeiten usf. ist, besonders von linker Seite, oft die Rede. Alles gut gemeint.

Schauen wir uns ein Beispiel genauer an: Die Linken wollen Arbeitslosigkeit verhindern, indem sie den Kündigungsschutz ausbauen. Nach ihrer Logik bewahrt ein starker Kündigungsschutz die Menschen vor Arbeitslosigkeit. Das stimmt. Aber nur für jene, die bereits eine Arbeit haben. Alle anderen (Arbeitssuchende, Berufseinsteiger, junge Menschen) werden dafür krass benachteiligt, weil sich jeder Arbeitgeber dreimal überlegt, ob er jemanden einstellt, den er nachher kaum mehr loswerden kann. Wer kurzfristig Arbeitskräfte für drei, vier Monate braucht, will sich nicht auf zwei oder noch mehr Jahre hinaus binden – und wird folglich gar niemanden einstellen. Unser Nachbar Deutschland zeigt eigentlich auf abschreckende Weise, dass ein hoher Kündigungsschutz für eine viel höhere Sockelarbeitslosigkeit verantwortlich ist, während unser flexibles, angeblich so unmenschliches Modell viel besser dasteht. Kobra-Effekt pur. Alles gut gemeint.

6. Die beste Förderung ist die Nichtbehinderung

Somit kommen wir zum Schluss und den Schlüssen, die wir aus unseren bisherigen Überlegungen ziehen können.

1. Das Problem der Wirtschaft ist nicht ihre Vernachlässigung durch den Staat. Sondern zu viel Staat in Form von Vorschriften, Regulierungen, Eingriffen, Steuern und Abgaben.

2. Die Unternehmer sind keine Engel. Wenn sie an staatliche Fördermittel gelangen können, dann greifen sie ungeniert zu. Auch Unternehmer sind nur Menschen.

3. Nach einer möglichst freien Marktwirtschaft rufen also höchstens die benachteiligten Konkurrenten und zwar genau so lange, bis sie selber eine vorteilhaftere Position erringen, um ihrerseits unliebsame Mitbewerber wieder zu benachteiligen. Eine liberale Wirtschaftsordnung verhindert solche Bestrebungen.

4. Der Staat taugt definitiv nicht als Unternehmer. Verflechtungen mit Unternehmen, die im Markt stehen, schaffen Wettbewerbsverzerrungen und Risiken, die am Ende die Steuerzahler zu tragen haben.

5. Eine Politik, die sich überall einmischt, mag dies vielleicht aus hehren Motiven tun, doch die Folgen verkehren sich meistens ins Gegenteil. Gut gemeint bringt selten gute Resultate.

6. Was wir anstreben, ist eine liberale Wirtschaftsordnung: Die freie Marktwirtschaft erscheint nur dem Laien brutal. Denn die Geschichte beweist das Gegenteil: Es ist einzig die Marktwirtschaft, die so viel Wohlstand unter so viel Menschen gebracht hat, und es ist einzig die Marktwirtschaft, in der sich der Tüchtige dank seiner Tüchtigkeit durchsetzen kann – ungeachtet seiner Hautfarbe, Religion oder Herkunft.

Die Neigung der Politik, und namentlich der Politiker, in die Marktwirtschaft einzugreifen, war und ist gross. Immer wieder und überall versucht man diesen Markt zu “gestalten”, zu formen, zu bemuttern. Diese Eingriffe werden meistens für besonders “sozial” erklärt – aber wir haben es in Wahrheit nur mit besonders sozialem Geschwätz zu tun.

Darum lautet 7. die letzte und wichtigste Schlussfolgerung: Die beste Förderung der Wirtschaft ist ihre Nichtbehinderung durch den Staat.

Ein freier Wettbewerb ist immer die fairste Form des Wettbewerbs. Weil alle sich den gleichen Bedingungen stellen müssen. Darum lautet die Devise für die Politik: möglichst wenig Behinderungen und staatliche Eingriffe. Die Marktwirtschaft organisiert sich selber. Qualität und Preis setzen sich immer durch. So will es der Kunde. So will es der Konsument. Und an diesen haben sich die Marktteilnehmer zu richten. Auf dass der Bessere, Günstigere und Tüchtigere gewinne.

1Teilweise handelt es sich im Folgenden auch um historische Beispiele.

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