«Schreiben, was ist!»

Gastreferat von Bundesrat Christoph Blocher, anlässlich der Verleihung der BZ-Lokaljournalistenpreise 2005 und der Espace Media-Preise Swiss Press Photo 2005, am 2. Dezember 2005, Schweizerisches Landesmuseum Zürich

02.12.2005, Zürich

Zürich, 02.12.2005. In seinem Referat anlässlich der Verleihung der BZ-Lokaljournalistenpreise und der Espace Media-Preise Swiss Press Photo 2005 ging Bundesrat Christoph Blocher auf die Schwierigkeit ein, die Realität zu erkennen. In diesem Zusammenhang verglich er die Arbeit eines Journalisten mit der eines Politikers.

Journalisten gehören einer wenig beneidenswerten Berufsgattung an: Jeden Tag müssen Sie eine Zeitung füllen, gleichgültig, ob sich viel oder wenig ereignet hat; Sie sollen die Wirklichkeit beschreiben, auch wenn Ihnen diese Wirklichkeit bewusst oder unbewusst vorenthalten wird. Es gibt wahrlich einfachere Jobs als jene des Journalismus. Ich muss mich geradezu beherrschen, nicht einem seelsorgerischen Ton zu verfallen…

Das Grossartige im Kleinen

Wer den Journalisten beim Schopf packt, also bei der Berufsbezeichnung selbst, erkennt in ihm unschwer den Tagesarbeiter.
Der „Journalist“ arbeitet für das Heute, pour le jour, für den Tag. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger. Der Lokaljournalist, der an diesem festlichen Anlass – und ich will hier gleich anfügen – zu Recht gefeiert wird, ist der Berichterstatter über das Kleinräumige und Alltägliche. Der Lokaljournalist sieht das Grossartige im Kleinen. Er beschreibt das Immerwährende im Flüchtigen, das Einzigartige im Alltäglichen. Die Arbeit von Lokaljournalist und Pressefotograf deckt sich mit dem Grundanliegen des grossen Schweizer Malers Albert Anker: „Im Kleinen ist die Grösse der ganzen Welt abgebildet.“

Im Kleinen die Grösse der ganzen Welt abzubilden, ist eine sehr schwierige Aufgabe, denn im Journalismus ist es wie in der Politik:
Am Einfachsten haben es jene Politiker, die unverfänglich über das grosse Weltgeschehen schwadronieren, von „Weltaussenpolitik“ berichten und diese gestalten wollen, ohne dafür befugt zu sein und so tun, als würden sie damit schon den Welthunger, die Klimaveränderung und andere globale Probleme lösen. Sie reden schön, sind gute Menschen und werden nicht an ihren Taten gemessen. Schwieriger wird es dort, wo es konkret wird, wo es um Handfestes geht.

Wirklich bewähren muss sich nämlich der Lokalpolitiker. Ihn misst man an den konkreten Ergebnissen. An so schmucklosen Dingen wie dem Steuerfuss oder der Investitionsrechnung. Auf ihn sind die prüfenden Augen der Bürgerinnen und Bürger gerichtet. Täglich. Und Ausreden werden nur selten geduldet.
Stimmt die Finanzrechnung nicht, kann kein Gemeinderat der Welt-Vogelgrippe oder der Globalisierung die Schuld geben. Der Lokalpolitiker wird immer wieder auf den Boden der Realität geholt. Zu Recht. Und es sind nicht zuletzt die Lokal-Journalisten, die den Politiker am Boden der Realität festzunageln haben und ihn zur täglichen Pflichterfüllung zwingen. Das ist Ihre Aufgabe. Einfach ist dies nicht, aber wichtig.

Schreiben, was ist

Wir Politiker stellen so etwas wie das redselige Abbild des Journalisten dar. Auch wir sind dem täglichen Überlebenskampf ausgeliefert, nicht frei von Eitelkeiten und müssen mit unseren erbittertsten Gegnern zusammenarbeiten – ob wir es wollen oder nicht.

Die Haupttätigkeit des Journalisten ist das Schreiben, während sich der Politiker aufs Reden verlegt hat. Der Exekutivpolitiker sollte daneben allerdings auch noch handeln. Und um sachgerecht handeln zu können, muss zuerst das Problem erkannt werden. Wer sich in der Führung auskennt, der weiss, wie schwierig es ist, die Realität zu erkennen. Wie ist es wirklich? lautet die bange Frage jedes guten Vorgesetzten. Wer nicht weiss, wie es ist, kann das Problem nicht einmal erkennen, geschweige denn lösen.
Der Mensch neigt leider dazu, den wahren Zustand zu übersehen, zu beschönigen oder zu verdrängen. Vor allem so genannt moralisch hochstehende Menschen neigen zur Verdrängung, weil sie Angst davor haben, die Wirklichkeit könnte schlechter sein, als das, was sie selbst wollen. Besonders dann, wenn diese Moralisten selbst im Geschehen stecken, tun sie alles, um die Wirklichkeit zu beschönigen, damit sie selber in besserem Licht erscheinen. Der Mensch glaubt allgemein, man müsse den Ist-Zustand nur so beschreiben, wie man ihn gerne hätte, dann sei alles gut. Wird einem dann später dieses selbst fabrizierte Trugbild als Wirklichkeit in Zeitung und Fernsehen vorgesetzt, nimmt man diese schmeichelnde Ersatzrealität natürlich gerne für bare Münze.

Glücklicherweise funktioniert dieses selbstbetrügerische System nur kurzfristig. Die Wirklichkeit trotzt allen Manipulationsversuchen. Je früher sie wieder zum Vorschein kommt, desto weniger folgenreich spielt sich dieser Läuterungsprozess ab.

Wer im Lokalen wie im Überregionalen Zeuge solcher menschelnder Verschönerungs- oder Verdrängungsvorgänge wird, merkt etwas von der oppositionellen Kraft, die allein in der Schilderung der Wirklichkeit liegt. Besonders der Lokaljournalist, der ganz nahe bei der Wirklichkeit arbeitet, gerät fast automatisch in den Zwiespalt, entweder gegen sein besseres Wissen an der Verschleierung der Tatsachen mitzuwirken oder die Wahrheit aufzudecken und damit in Opposition zur Macht und den Mächtigen zu geraten – was mitunter gefährlich sein kann. Tun Sie’s trotzdem oder gerade deswegen! Schreiben, was ist! So lautet Ihr grosser Beitrag als Journalist.
Schreiben, was ist!

Der Titel meines Referats ist gleichzeitig das journalistische Vermächtnis des Spiegel-Begründers Rudolf Augstein. Denn, so der grosse Publizist weiter: „Richtig informieren, heisst auch schon verändern!“
Aber wenn richtig informieren auch schon verändern heisst, was bewirkt dann das falsche Informieren? Nun: Auch falsche Informationen sollen verändern. Sie sollen die Wirklichkeit verändern, d.h. fälschen. Und zwar zugunsten des Manipulators. Darin liegt das schlichte Motiv der Verfälscher. Das wissen kriegsführende Generäle, Diktatoren, Monarchen, Regierungen… und Informationsbeauftragte. Aber das wissen auch Sie als Journalisten.
Falsche Informationen haben das Ziel, die Wirklichkeit zu vertuschen. Das ist schliesslich ihr Sinn. Nicht selten versuchen gerade Politiker Fehler und Misserfolge zu beschönigen, um ihre Arbeit ins beste Licht zu rücken. Eine verständliche Absicht. Denn auch Politiker lieben den Applaus der grossen Menge. Sie glauben, ihr ganzes politisches Überleben hänge von der öffentlichen Zustimmung ab. Da werden schon mal ein paar Tatsachen zurechtgebogen oder verschwiegen oder geschönt.
Aber das gilt nicht nur für die Politik. Selbst in der Wirtschaft, der Kirche, der Gesellschaft, selbst im Privaten sind Menschen nicht gefeit davor.

Schreiben als subversive Tätigkeit

Sagen, was ist! Schreiben, was ist! Die Wirklichkeit abbilden, kann da – wie gesagt – plötzlich sehr subversiv und gefährlich sein. Sie sehen: Journalist ist ein gefährlicher Beruf. Ich meine nicht dann, wenn auch Sie die Tatsachen verdrehen, sondern eher dort, wo sie die Fakten so darstellen, wie sie sind. Gute Journalisten sind Detektive, Wühler, Unruhestifter, nicht eben angenehme Zeitgenossen. Liebesbedürftige kommen nicht auf ihre Rechnung. Diese sind in der Politik besser aufgehoben. Deshalb frage ich Sie: Können Sie sich mit Ihrer Mission identifizieren? Wollen Sie diese Mühsal tatsächlich auf sich nehmen?
Zu beneiden sind Sie wirklich nicht, denn man macht Ihnen das Leben oft genug schwer. Was bekommen Sie als Informationen? Meist bloss geschönte Berichte, verführerische Pressetexte, filtrierte Auskünfte. Die Worte von offiziellen Sprechern haben Sie zu deuten wie das Orakel von Delphi. Häufig verabreicht man Ihnen nur Halbwissen, was in der Regel schlimmer ist als gar keine Information.

Schreiben, was ist oder pädagogische Erziehung?

Vielleicht hören Sie das alles nicht so gern, denn „Schreiben, was ist“ entspricht nicht dem Zeitgeist. Diese Devise mag Ihnen vielleicht sogar etwas langweilig erscheinen.
Viele Journalisten sind ja wie gute Pädagogen. Sie wollen die Welt, die Menschheit, die Schweiz, den Bundesrat, die Politiker, den Blocher verändern und verbessern – und plötzlich sind Sie keine Journalisten mehr, sondern betreiben, vielleicht ohne es zu wollen, selber Politik. Damit untergraben Sie die Grundlagen Ihrer journalistischen Arbeit. Sie verlieren an Glaubwürdigkeit, an Respekt und – vor allem – an Einfluss. Sie verlieren Ihr Kapital – Ihr Einfluss ist die Macht des Faktischen! Denn nur so treffen Sie die Realitätsverweigerer, die Wirklichkeitsbeschöniger, die Manipulatoren – einfach all jene, welche glauben, sich mit Geheimniskrämerei, moralistischer Weltfremdheit und selektiver Wahrheit an der Macht halten zu können, weil sie so mit schönem Mäntelchen ihre Mängel und ihre Unfähigkeit verdecken.

Dazu bedarf es allerdings eines offenen Klimas in Medien, Politik und Gesellschaft. Wo dieses nicht vorhanden ist, werden Sie kritisiert, bestraft und beiseite geschoben. Demokratische Macht baut jedoch auf das Fundament der Transparenz. Und hier meine ich, hätten die Journalisten einen besonderen Vorteil. Sie haben es besser als die Leute, die in der Macht, in der Politik stehen. Diese dürfen nicht alles sagen, was sie denken, oft nicht einmal sagen, was ist. Der Journalist darf und soll sich solche Freiheiten nehmen.

Nichts Neues unter der Sonne

Die Darstellung von dem, was ist, kann gefährlich sein. Viele Menschen mussten sogar ihr Leben lassen, nur, weil sie sagten, was ist.
Die Weltgeschichte kennt viele Scheiterhaufen. Aber diese Menschen haben Geschichte gemacht. Nun, soweit müssen Sie heute wohl nicht mehr gehen, obschon auch im Jahre 2005 noch ein paar Restrisiken für Ketzer bestehen. Auch Demokratien, selbst die unsrige, sind nicht gefeit vor Unterdrückungen. Am Schlimmsten ist es dort, wo nur eine Meinung herrscht und keine andere zugelassen wird. Dort, wo sich die Herrschenden und die Meinungsmacher, die Politiker und Journalisten, wo alle zusammen sich auf eine einzige Meinung verständigt haben und jeden, der nur etwas von dieser Doktrin abweicht, gleich auf den medialen Scheiterhaufen führen. Hier wird die gefälschte Darstellung der herrschenden Zustände zur Lüge, auf die sich alle geeinigt haben.
Dieser Gefahr ist auch eine Zeit ausgesetzt, welche theoretisch die Meinungsvielfalt predigt und angeblich lebt. Gegen diese Bedrohung ist keine Demokratie geschützt. Sie wissen alle, wovon ich rede. Sie kennen sie alle: Den Mainstream, in dem auch die Journalisten oft und gerne schwimmen.
Ihnen ist aus der Geschichte das Schicksal von Galileo Galilei sicher bekannt. Mit seinem Fernrohr entdeckte der florentinische Gelehrte vier Monde des Jupiters. Sie tauchten hinter dem Planeten auf und verschwanden wieder. Sie umkreisten ihn. Der Legende nach forderte Galileo die Kardinäle auf, durchs Fernrohr zu blicken – um zu sehen, was ist!

Doch die Kardinäle weigerten sich. Mit guten Gründen. Denn sie waren weder dumm noch astronomisch ungebildet.
Sie fürchteten sich bloss, vor den unwiderlegbaren Fakten und deren Folgen.
Die Kirche bangte um ihre moralistische Lufthoheit. Wenn da einer sagt, wie es ist, glaubten sie die ganze kirchliche Autorität in Gefahr. Wer der herrschenden Moral entgegen tritt, muss entweder zum Schweigen gebracht, beseitigt werden oder widerrufen. Zum Widerlegen bleibt da keine Zeit. Galileo widerrief: „Mit aufrichtigem Herzen und ungeheucheltem Glauben schwöre ich ab.“ Da man die Wirklichkeit nicht widerlegen kann, muss der, der sie verkündet, vernichtet werden.

Meine Damen und Herren, sehr geehrte Lokaljournalisten und Pressefotografen.
Sie sind es, die mit den Methoden Galileos arbeiten. Sie halten die Lupen, Ferngläser und Fotolinsen in Ihren Händen. Hinterfragen Sie, seien Sie kritisch, misstrauen Sie den Mächtigen und der Macht. Entziehen Sie sich dem opportunistischen Sog. Aber tun Sie es nicht, um Ihre eigene oder irgendeine politische Meinung durchzusetzen, sondern tun Sie es, um darzustellen, was ist! Verschreiben Sie sich keiner Gesinnung, dann werden Sie vielleicht nicht geliebt, aber anerkannt oder gar gefürchtet sein. Leuchten Sie die Themen aus, zwingen Sie die Herren Kardinäle von heute vor die Linsen. Und die Herren und Damen Kardinäle – ob weltliche, kirchliche oder atheistische – sie werden sich zieren. Genauso wie damals. Vielleicht wird man Sie wegen Ihres Schreibens oder wegen Ihrer Bilder der Ketzerei verdächtigen. Macht nichts. Sie schreiben und dokumentieren nicht für sich selbst, nicht für die Inquisition, nicht für die Kardinäle, sondern für das Publikum, für die Bürgerinnen und Bürger, die ein Anrecht haben, zu wissen, was ist.

Dass Sie für ihre Arbeit speziell geehrt werden, ist selten genug. Heute ist ein solcher Anlass. Ich freue mich mit Ihnen.

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