Realitätsverweigerung ist keine Politik

Referat von Bundesrat Christoph Blocher am Sigriswil-Forum

06.10.2005, Sigriswil

Sigriswil (BE), 06.10.2005. Bundesrat Christoph Blocher sprach am Sigriswil-Forum über die Finanzpolitik des Bundes, die schweizerische Aussenpolitik, die Frage nach den Schwächen eines überdimensionierten Sozialstaates sowie die SVP und deren Position im politischen Spektrum. Auf Anfragen aus dem Publikum hat Bundesrat Blocher auch zum Thema Rechtsextremismus Stellung genommen.

Es gilt das gesprochene Wort

Meine Damen und Herren,

Die Hauptprobleme eigentlich aller westeuropäischer Staaten sind bekannt:

1. Die Staaten leben über ihre Verhältnisse. Seit Jahren vermögen die dauernd gestiegenen Abgaben der Bürger an den Staat die Ausgaben nicht mehr zu decken.
2. Die unmässig gestiegenen Staatsausgaben rissen in den meisten europäischen Staaten die Steuern in die Höhe und dehnten die lähmende Bürokratie aus. Beides vermindert die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und führt zu schleppendem Wachstum und damit zu mehr Arbeitslosigkeit und weniger Wohlfahrt.

So weit die Analyse. Leider bildet die Schweiz bei diesen Hauptproblemen keine Ausnahme. Und es ist zu fragen: Ist die Schweiz den sich daraus ergebenden Herausforderungen gewachsen? Erlauben Sie, dass ich die Frage anders stelle: Hat die Schweiz diese Herausforderungen überhaupt in ihrer Tragweite erkannt? Diese Frage zu stellen ist wichtig, denn nur eine ungeschminkte Analyse der Wirklichkeit kann zu brauchbaren Lösungen führen. Schon alleine die richtige Fragestellung und die schonungslose Benennung der Probleme ergeben oft mehr als die halbe Lösung.

Und ich stelle fest, dass zurzeit den wichtigsten Fragen meistens ausgewichen wird und ein wenig ausgeprägtes Problembewusstsein besteht, obwohl viele überzeugt sind, sie wüssten bestens Bescheid. Was aber noch schlimmer ist: Die Probleme werden nicht nur nicht erkannt, sie werden sogar geleugnet, oder es wird einfach das Gegenteil behauptet. Gewisse Kreise in der Politik haben ihren Realitätssinn völlig verloren. Und das wirkt sich dramatisch und verheerend aus auf die nötigen Aufgaben, die wir eigentlich zu bewältigen hätten.

Zur Verdeutlichung des Problems werde ich auf vier Bereiche eingehen: Die Finanzpolitik des Bundes. Die Aussenpolitik. Die Frage nach den Schwächen eines überdimensionierten Sozialstaates und zuletzt komme ich noch auf die SVP und ihre Position im politischen Spektrum zu sprechen.

1. Märchen: Der momentan absolut beliebteste Politikersatz (von links) heisst: In unserem Land herrsche «Sparwut» bzw. «Sparhysterie».

Wer die Zahlen betrachtet – und Zahlen sind unbestechlich – erkennt eine ganz andere Realität: Die finanzpolitische Lage des Landes ist desolat. Trotz aller Reden über das Sparen steigen die Staatsausgaben munter weiter. Hier ein paar konkrete Zahlen: In den nächsten vier Jahren nehmen die Ausgaben trotz aller Sparprogramme (Entlastungsprogramm 03, Entlastungsprogramm 04, Aufgabenverzichtsplanungen etc.) in der ordentlichen Rechnung des Bundes um 14,5 Prozent zu. Das sind durchschnittlich 3,4 Prozent im Jahr, was mehr ist als das Wirtschaftswachstum und die Teuerung! Mit andern Worten, wir leben deutlich über unseren Verhältnissen. Im Übrigen sind darin grosse Beträge nicht enthalten, die man über die Vermögensrechnung abbucht. Ein Ende ist nicht abzusehen. Die geplanten Ausgaben 2009 sind beinahe doppelt so hoch wie 1990. Die Schulden werden 2006 132,6 Milliarden betragen. Das ist ein Anstieg von über 25 Milliarden im Zeitraum von 2001 bis 2006. Wer hier von «Sparwut» spricht, hat den Realitätsbezug vollkommen verloren! Und dieser Anstieg geschieht trotz Schuldenbremse: 84,7 Prozent der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger haben am 2. Dezember 2001 für einen ausgeglichenen Haushalt votiert. Dieser Verfassungsauftrag wird laufend missachtet, ausgetrickst und gebrochen.

Was wir tun müssen, ist das Ruder drehen, solange wir noch souverän mit eigener Kraft über den Kurs bestimmen können. Mit tiefen Kosten eine höhere Leistung zu erbringen, ist eine anspruchsvolle Führungsaufgabe. Dies ist nichts für Leute, die nach Beliebtheit trachten. Am schwersten ist die Aufgabe an der Spitze. Schwache Führungskräfte lösen jede Aufgabe einfach mit mehr Geld. Und im Bund heisst dies mit Geld, das der Wirtschaft und den Bürgern entzogen wird. Führen heisst, im Interesse anderer Unannehmlichkeiten auf sich zu nehmen! Tut das der oberste Chef nicht, so führt dies im Unternehmen zum Ruin. Wer als Eltern in der Kindererziehung nicht die Kraft aufbringt, auch Verzicht zu verlangen, erweist seinen Kindern einen schlechten Dienst.

Was wir wollen: Die Schweiz muss auf einem gesunden finanziellen Fundament stehen. Dazu braucht es eine blühende, konkurrenzfähige Volkswirtschaft. Diese ist erwiesenermassen nur möglich, wenn die Bürger und Unternehmen wieder freier über ihr Geld verfügen können. Eine solche Entlastung kann nur durch niedrigere Steuern und Abgaben für die Bürger und über weniger Ausgaben der öffentlichen Hand erreicht werden. Durch diesen Verzicht entstehen mehr private Investitionen, mehr Arbeitsplätze, mehr Wachstum, mehr Konsum und damit mehr Wohlstand für alle. Dazu braucht es Realitätssinn. Und dazu braucht es Rückgrat: Denn Veränderungen sind oft auch Zumutungen. Aber nur über diesen Weg gelangen wir insgesamt wieder auf einen Wachstumspfad.

Wo könnte der Bund seinen Beitrag leisten? Zum Beispiel bei der Reorganisation der Verwaltung. Die Departemente haben voranzugehen. Zu viele Doppelspurigkeiten prägen die Verwaltung. Im EJPD sind sämtliche zentralen Dienste auf ihre Aufgaben und ihre Notwendigkeit überprüft worden. Die Reorganisation der zentralen Dienste mit Kostensenkungen von 22% wird Ende Jahr abgeschlossen sein. Ohne Leistungsabbau – weder für den Bürger noch sonst jemanden. Ich erinnere daran, dass als oberstes Legislaturziel 2003/2007 die Sanierung der Bundesfinanzen beschlossen wurde. Vom Gesamtbundesrat! Erst in diesem Sommer – also schon fast in der Mitte der laufenden Legislatur – wurde das Finanzdepartement beauftragt, die Staatsausgaben zu überdenken, um diese bis zu 20 Prozent zu reduzieren. Wir sollten nicht erst die Fehler in Deutschland wiederholen und dann einen mühseligen Umkehrprozess einleiten. Dazu gehört aber auch, dass wir den Realitäten schonungslos in die Augen sehen. Wer angesichts von beinahe 250 Milliarden Franken Gesamtschulden der öffentlichen Haushalte und angesichts der massiv steigenden Staatsausgaben von «Sparwut» schwafelt, sollte politisch zur Verantwortung gezogen werden.

2. Märchen: «Die Schweiz betreibt eine Abschottungspolitik.»

Seit Jahren wird gebetsmühlenartig wiederholt, die Schweiz schotte sich gegenüber dem Ausland ab. Ein äusserst beliebter Satz im politischen Hickhack. Der allerdings ähnlich realitätsbezogen ist, wie wenn man behaupten würde, die Schweiz bestünde nur aus Bergen, Schoggi, Heidis und Alphörner.

Die schweizerische Aussenpolitik bleibt ein parteienübergreifender Zankapfel, der die Innenpolitik auf schädliche Weise beeinflusst. Zur Kampfrhetorik gehört, die Schweiz sei abgeschottet. Das können nur Leute sagen, die das Ausland oder die Schweiz oder beides nicht kennen. Unser Land war schon immer wirtschaftlich und kulturell mit der ganzen Welt verbunden. Die Schweiz ist im Vergleich zu anderen Staaten ausserordentlich weltoffen! Die EU ist für uns ein guter und wichtiger Partner. Aber nicht der einzige. Wir haben uns viel zu lange nur auf den europäischen Raum fokussiert. Die dynamischsten Märkte befinden sich zurzeit in Ostasien und den USA. Wir tun gut daran, unsere Politik auch auf diese Regionen auszurichten.

Die schweizerische Aussenpolitik (besonders die Europa-Politik) ist völlig emotionalisiert. Hier bedarf es ein paar grundsätzlicher Richtigstellungen:

Wenn eine Partei die Vorzüge der Schweiz betont und diese zu erhalten trachtet (sei es die direkte Demokratie, die Steuerhoheit oder auch nur das Bankgeheimnis oder ganz grundsätzlich ihre Unabhängigkeit), dann ist das nicht «nationalistisch». Sondern ein absolut natürlicher Patriotismus.

Wenn eine Partei die Aussenpolitik in erster Linie als «Interessenpolitik» definiert, so ist dies nichts Verwerfliches sondern ein selbstverständlicher Vorgang. Jedes vernünftige (und notabene erfolgreiche) Land hält es so. Auch die EU vertritt ihre Interessen. Sie erwartet von der Schweiz gar nichts anderes, als dass auch sie ihre Interessen wahrnimmt. Es ist deshalb richtig, dass die SVP als konsequente Vertreterin der Interessenpolitik auftritt.

Wenn eine Partei darum schlecht ausgehandelte Verträge kritisiert, ist sie deswegen noch lange nicht «europafeindlich». Ich habe schon in meiner Zeit als Nationalrat auf die schwachen Ergebnisse der Bilateralen I hingewiesen. Was die Verkehrsdossiers betrifft, ist uns allen klar, dass der Transitpreis, die 40-Tonnen-Limite oder der gekündigte Staatsvertrag für den Flughafen Kloten nichts ist, worüber wir uns wirklich freuen könnten. Die SVP soll weiterhin ohne falsche Rücksichten den Finger auf offene Wunden legen.

Im Weiteren bildet auch heute noch die integrale Neutralität die beste Überlebensstrategie eines Kleinstaates. Mögen uns die Gegner auch «ein überholtes Geschichtsbild» vorwerfen. Neutralität schützt uns vor Kriegsbegeisterung und voreiliger Parteinahme. Sie bietet uns auch einen zeitgemässen Schutz im Zeitalter des Terrorismus. Das heisst nicht, dass die Neutralität uns totale Sicherheit garantiert. Aber sie ist ein wichtiger Faktor, den wir nicht leichtfertig aufgeben sollten. Darum bin ich stolz auf die SVP als Neutralitätspartei.

Wenn seit 1990 brutto 1,3 Millionen Menschen in die Schweiz gekommen sind, ist es ebenso absurd von «Abschottung» zu sprechen. Wenn nun meine Partei meint, das Land komme langsam an die Grenzen ihrer Integrationsfähigkeit und Integrationsbereitschaft, dann hat das auch nichts mit «Ausländerfeindlichkeit» oder «Abschottungspolitik» zu tun, sondern mit einer echten Sorge um die Stabilität der Gesellschaft.

Mit den abgeschlossenen bilateralen Verträgen sind mittlerweile alle wichtigen Dossiers mit der Europäischen Union geklärt. Natürlich sucht die Verwaltung geradezu mit Feldstecher und Lupe nach weiteren Verhandlungsgegenständen. Ich bin aber der Meinung, das führt zu nichts ausser einer weiteren Schwächung unserer Position. Wir sollten unsere Eigenständigkeit betonen und deshalb plädiere ich für einen raschen Rückzug des Gesuches. Warum? Die Schweiz muss auf ihre eigenen Stärken setzen. Wie jedes Unternehmen auch. Unsere Wirtschaft funktioniert dort am besten, wo sie als hochqualitativer Anbieter auftreten kann. Dieser Grundsatz sollte uns auch politisch leiten.

Wir müssen aufhören mit diesem kopflosen autonomen Nachvollzug und der sich daraus ergebenden Verschlechterung unseres Wirtschafts- und Lebensraumes. Das heisst, wir müssen auch gegenüber der EU wettbewerbsfähig sein. Nachlaufen, nachäffen, nachmachen war noch nie ein Erfolg versprechender Weg. Wir wollen eine eigene Gesetzgebung, die besser ist für unseren Kleinstaat. Dazu brauchen wir einen souveränen und handlungsfähigen Staat.

3. Märchen: «Es gibt keinen Missbrauch. Weder im Asylwesen, noch bei der Invalidenversicherung oder der Fürsorge.»

Ein Sozialstaat, der von der Mehrheit der Bevölkerung mitgetragen wird, muss eng definiert sein. Es darf nicht sein, dass immer weniger Bürger arbeiten, Sozialabgaben leisten, Steuern zahlen und das Gefühl bekommen, sie seien in der Gesellschaft die Dummen.

Heute fliesst fast jeder dritte in der Schweiz erwirtschaftete Franken in den Sozial- und Versorgungsstaat. Wegen diesem unrealistischen, weit über der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit liegenden Ausbau ist heute der Wohlfahrtsstaat als Gesamtkonstrukt in Frage gestellt: Dies zeigt sich in der miserablen Finanzsituation von Bund und vieler Kantone. Die etatistische Grundstimmung – vor allem der 80-er und 90-er Jahre, die übrigens auch nichtlinke Parteien erfasste – hat der Schweiz einen perfektionierten Dienstleistungsstaat beschert, der den Bürgern eine Totalversorgung zum Nulltarif vortäuscht – dabei finanziert er sich über dauernd höhere Zwangsabgaben und Milliardenschulden. Jahr für Jahr.

Schauen wir uns die grössten Baustellen des Sozialstaates etwas genauer an: Allein die Gesundheitskosten betragen über 50 Milliarden Franken im Jahr. Die Invalidenversicherung wird dieses Jahr etwa 12 Milliarden Franken verschlingen. In den Städten nimmt die Zahl der Fürsorgeabhängigen im zweistelligen Prozentbereich zu.

Unser Sozialstaat kommt an seine Grenzen. Und wir müssen uns fragen, wie sozial dieser Sozialstaat überhaupt noch ist. Dass knapp 20jährige bereits Fürsorgegelder kassieren, halte ich für völlig verfehlt. Wer sich in so jungen Jahren schon an den Versorgungsstaat gewöhnt, wird letztlich über Jahrzehnte der Allgemeinheit zur Last fallen. Man muss diesen Umstand so drastisch formulieren. Es ist nicht nur immer der Blick auf ein vielleicht betrübliches Einzelschicksal zu lenken. Auch die grosse, arbeitende Mehrheit hat ein Recht, dass man sie vor dieser wachsenden Anspruchsmentalität beschützt. Es kann nicht sein, dass immer mehr Menschen den Rest der Bevölkerung für ihre gescheiterten Lebensentwürfe in die finanzielle Pflicht nehmen.

Wenn wir grundsätzlich die untersten zehn Prozente der Bevölkerung für «arm» erklären, wird es immer Arme geben. Es werden hier von Interessengruppen mit fragwürdigen Standards Bedürftige geschaffen. Es werden Ansprüche legitimiert, die letztlich das gesellschaftliche Gefüge unterhöhlen. Der Sozialstaat soll jenen unter die Arme greifen, die es wirklich nötig haben.

In der IV zeigt sich die Fragwürdigkeit unseres Systems am Deutlichsten. Die SVP hat den explosionsartigen Anstieg von IV-Rentnern erstmals thematisiert – und grossen Protest geerntet. Macht nichts. Das zeigte nur, dass wir auf dem richtigen Weg waren. Die Zahl der IV-Rentner hat seit den 90er Jahren drastisch zugenommen. Übrigens gerade auch von Staatsangestellten, die ja weiss Gott nicht dem rauen Wind der Privatwirtschaft ausgesetzt waren. Heute beziehen über 280’000 Personen eine Leistung der IV (1990: 164’000). Der grösste Zuwachs verzeichnete jener Bereich mit unklaren Krankheitsbildern – sei es bei psychischen Erkrankungen oder diffusen Schmerzbildern. Wenn natürlich jeder Schmerz, jede persönliche Unpässlichkeit plötzlich als Einstieg für eine Rente herangezogen werden kann, dann muss man sich nicht über diesen Anstieg wundern.

Wo aber beginnt der Missbrauch? Die interessanteste Definition dazu lieferte die ehemalige Chefin der IV, Beatrice Breitenmoser, die im Fernsehen öffentlich erklärte: «Es ist kein Missbrauch, wenn jemand das System geschickt für sich ausnutzt.« Ja, was denn? Was ist denn ein Missbrauch? Wer den Missbrauch umdeutet, wird selber zum Komplizen des Missbrauchs. Was wir brauchen zur Sanierung der IV sind nicht neue Milliarden, sondern eine neue Definition dessen, wer invalid ist und wer nicht. Dazu gehört auch eine rückwirkende Überprüfung bereits gesprochener Renten. Ich muss Ihnen nicht sagen, welche Partei diese Punkte verfolgt.

Im Gesundheitswesen kämpft die SVP mit ihrer Prämiensenkungsinitiative für ein bezahlbares Gesundheitssystem. Auch hier sind unangenehme Fragen zu stellen: Was gehört in eine Grundversicherung und was eben nicht? Wo hört die medizinische Grundversorgung auf und wo beginnt die Wellness-Medizin, die uns allen zwar gut tut, deren Kosten aber nicht auf die Allgemeinheit abgewälzt werden dürfen. Die WHO, eine für die Gesundheit zuständige Behörde der Vereinten Nationen, definiert die Gesundheit keineswegs nur als «Absenz von Krankheit und Gebrechlichkeit», wie sie selber schreibt, sondern als «Zustand völligen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens». Das ist eine absurde Definition. Kennen Sie jemanden, der sich vollkommen körperlich, geistig und sozial wohl fühlt? Spüren Sie nicht ein leichtes Ziehen im dritten Halswirbel? Bringt Ihnen Ihre Mitwelt die Anerkennung entgegen, die Sie tatsächlich verdienten? Nein? Dann sind Sie also ein WHO-Kranker – wie die restliche Menschheit auch. Wer Gesundheit so definiert, treibt die Kosten in solche Höhen, bis letztlich das ganze System kollabiert. Wollen wir das?

Als Vorsteher des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements bin ich direkt für die Asyl- und Ausländergesetzgebung zuständig. Oft werde ich gefragt: «Wohin geht die Ausländer- und Asylpolitik?» Die Antwort ist einfach: Sie geht dorthin, wo die Politik will. Wir müssen darum anders fragen: «Wie wollen wir die Ausländer- und Asylpolitik gestalten?»

Die grosse Mehrzahl der Personen, die in der Schweiz um Asyl nachsuchen, sind keine Flüchtlinge. Rechnet man die Zahl der vorläufig aufgenommenen Personen zu jener der anerkannten Flüchtlinge hinzu, so macht diese zusammen doch nur rund 24 Prozent aller Asylentscheide aus. Somit werden über 75 Prozent aller Asylgesuche unbegründet oder gar missbräuchlich gestellt, was in Zukunft nicht mehr möglich sein darf!

Unser Hauptziel im vergangenen Jahr war, die Zahl der Gesuchsteller ohne asylrelevante Gründe zu senken. Hier haben wir Anfangserfolge verzeichnet: So ist die Zahl der Asylgesuche seit dem vergangenen Jahr kontinuierlich gesunken und der Trend hält an. Im laufenden Jahr haben bis Ende August 6’375 Personen in der Schweiz ein Asylgesuch gestellt. Im Vergleich zur entsprechenden Vorjahresperiode bedeutet dies einen Rückgang um 39.7 Prozent. Erstmals in der Asylgeschichte ist die Schweiz erfolgreicher als ihre europäischen Nachbarn: Im europäischen Mittel betrug der Rückgang in der gleichen Periode lediglich 17 Prozent. Das lässt darauf schliessen, dass die ergriffenen Massnahmen, insbesondere die stark verkürzten Verfahren und der Sozialhilfestopp für Personen mit einem Nichteintretensentscheid (NEE), Wirkung zeigen.

Wo müssen wir noch verstärkt ansetzen? Das bedeutendste Problem besteht nach wie vor im Vollzug. Zahlreiche abgewiesene Asylsuchende (wie im Übrigen auch andere illegal anwesende Personen) verlassen das Land nicht. Die Gründe hierfür sind Ihnen bekannt: Die meisten Asylsuchenden legen ihre Identität nicht offen und weisen keine Ausweispapiere vor. Kann aber dem Herkunftsland die Identität nicht belegt werden, ist dieses Land auch nicht verpflichtet, einen abgewiesenen Asylsuchenden wieder zurückzunehmen. Trotzdem erhalten die Abgewiesenen, welche verpflichtet wären Heim zu gehen, nicht etwa nur Überlebenshilfe, sondern Sozialhilfe. Die Ausdehnung des Sozialhilfestopps auf alle rechtskräftig negativen Asylentscheide ist deshalb unerlässlich. Denn die Botschaft an diese Leute muss klar sein: Sie sind ebenso wie Personen mit einem NEE (Nichteintretensentscheid) dazu verpflichtet, unser Land wieder zu verlassen. Es darf nicht sein, dass sie besser behandelt werden als alle anderen illegal Anwesenden. Missbrauch darf nicht geduldet werden. Wenn aber Missbrauch gefördert, verteidigt und sogar institutionell begünstigt wird, dann ist die Politik gefordert. Und es ist unsere Partei, die seit Jahren auf diesem Gebiet mit wachsendem Erfolg Druck gemacht hat. Wenn man bedenkt, über wie viele Jahre im Asylwesen der Missbrauch tabuisiert oder schlichtweg geleugnet wurde! Durch die Realitätsverweigerung!

4. Märchen: «Die Wahrheit liegt in der Mitte.»

Wenn wir heute vor einem missbrauchsanfälligen Sozialstaat stehen, wenn wir heute die Schuldenpolitik betrachten und das ungebremste Wachsen der Ausgaben, muss man sich fragen, wer für diese Politik verantwortlich ist. Links will mehr ausgeben. Links baut den Staat aus. Links will mehr Staat in der Politik, in der Gesellschaft, in der Familie, in der Wirtschaft. Links schafft sich so eine bezahlte Wählerschaft, nämlich all jene, die vom Staat abhängig sind. Rechts, also die SVP, will auch etwas vom Staat. Doch die Partei vertraut dem Menschen und achtet die Bürger. Darum wollen wir vor allem eines, dass dieser Staat uns so weit in Ruhe lässt, wie es nur irgendwie möglich ist. Nur das wollen wir vom Staat. Der Einzelne muss Freiraum bekommen, damit er auch Eigenverantwortung wahrnehmen kann (und gelegentlich wahrnehmen muss). Die Bürger und Unternehmen sollen über ihr Geld selber verfügen können, denn die staatliche Bevormundung führt in den Ruin. Das hat uns die DDR gezeigt und ansatzweise auch das vereinigte Deutschland.

Die Linke verfügt bekanntlich über keine Mehrheit in den Parlamenten. Wie aber konnte sie in den letzten 10, 15 Jahren ihre Anliegen derart erfolgreich umsetzen? Sie bekam die Unterstützung aus der so genannten «lösungsorientierten Mitte». Der Satz «die Wahrheit liegt in der Mitte» kommt also ziemlich genau aus der Mitte. Und damit ist schon der erste Gegenbeweis geliefert: Die Wahrheit liegt eben nicht in der Mitte. Wenn die Wahrheit wirklich in der Mitte läge, dann wäre die Wahrheit erstaunlich beweglich. Denn wenn jemand links der Mitte zieht, rutscht die Mitte nach links. Wenn der rechte Pol stärker ist, nach rechts. Ist die Wahrheit denn eine opportunistische Windfahne? Wohl kaum.

Wer abstimmen geht, muss sich auch entscheiden. Ja oder Nein. Wer Jein stimmt, verliert seine Stimme. Natürlich muss man bei Vorlagen abwägen, Vor- und Nachteile in Betracht ziehen. Aber am Ende wird niemandem die klare Entscheidung erspart: Ja oder Nein.

Die SVP gilt als schlimme «Nein-Sager»-Partei. Über diesen Vorwurf kann ich nur staunen. Ich bin in eine Zeit geboren, wo es nichts Verächtlicheres gab als einen rückgratlosen Ja-Sager. Diese Haltung ist die einfachste, die bequemste, die charakterloseste. Was man der SVP vorwerfen könnte, wäre also höchstens, dass wir ein paar Mal zu wenig Nein gesagt haben.
Oder hätte die SVP freudig Ja sagen sollen zur Schuldenwirtschaft? Sollte die SVP Ja sagen zum Krankenversicherungsgesetz, das wir 1994 als einzige Fraktion abgelehnt haben?
Sollte die SVP die Auswüchse im Sozialsystem, bei der IV, bei der Fürsorge abnicken? Soll die SVP ein «lösungsorientiertes Ja» rufen zu neuen Steuern und damit zu neuen Milliarden, mit denen man die Probleme schön finanzieren möchte, statt sie zu lösen?
Warum ist die SVP auf Oppositionskurs gegangen? Aus Vergnügen? Um sich zu profilieren? Nein. Weil sich die Schweiz auf einem falschen Weg befindet. Von 1848 bis 1990, also in 142 Jahren, wurden vom Bund 38,5 Milliarden Franken Schulden angehäuft. In den folgenden 15 Jahren kamen über 90 Milliarden hinzu. Entlockt Ihnen diese Tatsache ein zustimmendes «Jawohl! So ist es richtig. Machen wir weiter so»?

Je mehr sich die staatliche Abhängigkeit ausbreitet, desto schwieriger wird es, eine Mehrheit zu finden, die diesen Irrsinn politisch noch zu stoppen gewillt ist. Immer mehr Menschen erliegen den Versuchungen des Wohlfahrtsstaates. Bis weit in die gehobenen Berufsschichten, bis weit in die Chefetagen von Politik und Wirtschaft hinein. Sind wir schon so weit, dass die Menschen lieber schauen, wie sie sich vom Staat beziehungsweise der Allgemeinheit aushalten lassen können, statt in Eigenverantwortung für sich und die Nächsten das Leben zu verbessern und selber für Güter und Dienstleistungen zu sorgen? Es ist ausserordentlich gefährlich, wenn Erfolg und Leistung durch höhere Steuern und Abgaben bestraft, dafür Misserfolg und Faulheit durch Sozialleistungen belohnt werden. In diesem unheilvollen Prozess befinden wir uns.

Es gab nur eine Partei, die sich konsequent dagegen wehrte – und dabei viel auf sich nahm: Die SVP. Diese Arbeit ist nötig und bedeutsam.

In den vergangenen Jahren hatte die SVP die wichtige Aufgabe, in den bedeutenden Fragen als Opposition Nein zu sagen. Jetzt sind wir verstärkt in der Regierung vertreten. Darum sind wir auch aufgefordert, unsere Positionen in der Regierung selbst einzubringen. Aber von einer Mitte-Rechts-Politik sind wir noch weit entfernt. Das zeigen die genannten Beispiele aus der Finanz-, Aussen- und Sozialpolitik. Darum gilt auch für eine profilierte Regierungspartei wie die SVP weiterhin: Kurs halten!

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