Regulierung, Deregulierung, Selbstregulierung

Referat von Bundesrat Christoph Blocher anlässlich des Schweizerischen Juristentags am 25. September 2004 in Basel

25.09.2004, Basel

Es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrte Frau Präsidentin,
Sehr geehrte Damen und Herren,

Dass der Schweizerische Juristenverein über “Regulierung, Deregulierung, Selbstregulierung” spricht, lässt tief blicken. Daraus spricht nämlich die Vermutung, dass sogar die Juristen der Meinung sind, wir seien überreguliert.

Das trifft sich gut. Ich teile nämlich diese Bedenken. Warum haben wir es soweit gebracht? Der tiefere Grund ist einfach: Der Staat hat sich in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr ausgeweitet, hat immer mehr Aufgaben übernommen, was in einem Rechtsstaat automatisch zu mehr Regulierungen, zu mehr Beamten, zu mehr Rechtsanwälten und mehr Juristinnen- und Juristen führt.

Gefühl der Einengung und der Angst

Es ist nicht zu verkennen: Diese Vorschriftenzunahme ruft bei den Menschen ein Gefühl der Ohnmacht und des Überdrusses hervor. Bürgerinnen und Bürger haben mehr und mehr das Gefühl, zu stark eingeengt zu sein, ja im Dickicht der staatlichen Normen zu ersticken.

Bei zuviel Regeln müssen sie in ständiger Angst leben, mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. Vor allem Menschen, die Ausserordentliches tun, verspüren diese Angst. Dieses mulmige Gefühl der Angst lähmt. Das ist eine der Ursachen der fehlenden Dynamik unseres Landes – gerade auch wirtschaftlich.

Grenzen der staatlichen Leistungsfähigkeit

Negativ ist es aber nicht nur für die Bürger, sondern auch für den Staat selbst. Er hat mehr Macht und ist zunehmend überfordert. Seine Mittel reichen nicht mehr aus. Der Staat kann die Aufgabenerfüllung kaum mehr finanzieren, er treibt dem Bankrott entgegen. Der Staat hat sich in den letzten Jahrzehnten übertan. Oder anders ausgedrückt: weil wir den Staat in den letzten Jahrzehnten überfordert haben, muss er alles tun. Wer alles tun muss, kann nichts mehr recht tun.

Das Gefühl der Einengung und der Unsicherheit auf der Bürgerseite und die – namentlich finanzielle – Überforderung des Staates auf der anderen Seite erklären, weshalb die Forderung nach Deregulierung heute noch lauter ertönt als noch vor ein paar Jahren. Ich meine, wir sind gezwungen, uns grundsätzlich zu fragen: Wie viel Staat ist überhaupt nötig?

Wir müssen mit anderen Worten mehr nach dem “Ob” statt nach dem “Wie” des staatlichen Tätigwerdens fragen: “Soll, muss oder darf der Staat überhaupt tätig werden?”
Die Frage der Regulierung und Deregulierung ist also zunächst ein politisches und erst dann ein juristisches oder gesetztechnisches Problem.

Bei der Beantwortung der politischen Frage tun wir gut daran, zu den Ursprüngen – zum Fundament – der Schweiz zurückzukehren und uns an diesen zu orientieren. Wir sollten uns wieder dem liberalen Staatsverständnis zuwenden, das den schweizerischen Bundesstaat in seinen Anfängen geprägt und so erfolgreich gemacht hat. Zu viel Ballast hat sich seither auf diesem liberalen Credo abgelagert und versperrt den Blick aufs Wesentliche.

Gewährleistung der inneren und äusseren Sicherheit

Nach dem liberalen Staatsverständnis gibt es Aufgaben, die der Staat erfüllen muss und die nur er erfüllen kann. In erster Linie ist dies die Gewährleistung der persönlichen Sicherheit. Die Gewährleistung innerer und äusserer Sicherheit ist von gewissen Autoren des 19. Jahrhunderts (so etwa Wilhelm von Humboldt) sogar als einzige Aufgabe des Staates betrachtet worden. So weit gehe ich nicht.
Aber innere und äussere Sicherheit – d.h. Polizei und Militär – gehören zu den unverzichtbaren Kernaufgaben des Staates. Es geht dabei um den Schutz von Leib und Leben, um den Schutz der essentiellen, ja der existenziellen Güter des Individuums, auch des Privateigentums. Tut es der Staat nicht, befiehlt das Faustrecht.

Sicherung der Freiheitsrechte

Der liberale Staat zeichnet sich aber auch aus durch die Gewährleistung der individuellen Freiheitsrechte. Der Schutz dieser Rechte – vor allem gegenüber dem Staat – ist neben dem Schutz von Leib und Leben eine zweite Kernaufgabe und Teil des liberalen Staatsverständnisses. So paradox es klingen mag: der Rechtsstaat muss den Bürger vor den Eigeninteressen eines sich verselbstständigenden Staatsapparates schützen.

Nun hat der Staat aber diese Freiheitsrechte wieder reguliert und – unter dem Anliegen des Schutzes des Einzelnen – so umfassend reguliert, dass er gerade diese Freiheit in Frage stellt. Das gilt in ganz besonderem Masse für die Handels- und Gewerbefreiheit.

Die Eingriffe und Regulierungen in diesem Bereich sind gewaltig, so dass die Früchte dieser Freiheit – nämlich die Sicherung der Wohlfahrt – allmählich ausbleiben. Die Deregulierung gerade in diesem Bereich wäre eine soziale Forderung dieser Tage. Reform heisst hier Entschlackung. Wir stehen erst am Anfang eines Prozesses. Vorerst wird nur über Deregulierung geredet, getan wird noch nichts.

Aber auch in anderen Bereichen, wo individuelle Freiheitsrechte auf dem Spiel stehen, wie etwa im Bereich der Pressefreiheit, der Kulturfreiheit oder der Meinungsäusserungsfreiheit hat sich der Staat gewaltig – meist unter Berufung auf edle Motive – eingemischt und Freiräume vernichtet.

Interessanterweise gelten heute Förderungsmassnahmen und Finanzhilfen des Staates ohne weiteres als grundrechtskonform. Gerade bei der Wirtschaftsfreiheit hat dies die rechtliche Dogmatik entgegen jeder vernünftigen ökonomischen Betrachtungsweise stets akzeptiert. Dabei vergessen die Dogmatiker und die Subventionsempfänger immer und gerne eine Maxime, die ihnen sonst lieb und teuer ist, nämlich: “Wer zahlt, befiehlt”! Wer zahlt, wird also auch – und muss auch – regulieren. Wer empfängt, muss sich die Regulierung auch gefallen lassen.

Interessant ist in diesem Zusammenhang übrigens auch der Umstand, dass die ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Verankerungen der Freiheitsrechte nicht etwa Ausdruck ihres besseren rechtlichen Schutzes, sondern im Gegenteil Zeichen ihrer wachsenden Gefährdung und Einschränkung sind. Mit andern Worten: je länger und umfassender der Grundrechtskatalog in einer Verfassung ist, desto nahe liegender ist die Vermutung, dass es mit der tatsächlichen Gewährleistung der individuellen Freiheiten nicht zum Besten steht. So ist zum Beispiel die Eigentumsgarantie in der Bundesverfassung erst ausdrücklich aufgenommen worden, als es darum ging gleich festzuschreiben, wie und auf welchem Wege man diese verletzen könne.

Der Grundsatz der Subsidiarität

Die Verfassung hat diese Gefahren an sich erkannt und Grundsätze als Schranken eingebaut. So das Subsidiaritätsprinzip.
Dieses Subsidiaritätsprinzip gehört zweifellos zu unserem Grundverständnis des Verhältnisses zwischen Staat und Gesellschaft und soll im Rahmen der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA), über die Volk und Stände Ende November dieses Jahres abstimmen werden, als Artikel 5a explizit in der Bundesverfassung verankert werden.
Parallel dazu ist aber eine Tendenz zur Zentralisierung – d.h. gegen das Subsidiaritätsprinzip – unverkennbar. Dabei fällt bei dieser Missachtung der Freiheitsrechte auf, dass die Privaten, die Gemeinden und die Kantone ihre Rechte sehr oft an die höhere Ebene gegen Staatsbeiträge veräussern. Auch hier gilt eben: Wer zahlt, befiehlt! Der Eingriff in die eigene Souveränität lässt man sich nicht gerne gefallen – ausser man bekommt dafür Geld!
Bekenntnis zu einer privatwirtschaftlich orientierten Marktwirtschaft

Ebenfalls zu erwähnen ist schliesslich, dass Artikel 94 BV deutlich macht, dass die Wirtschaftsfreiheit nicht nur ein individuelles Freiheitsrecht, sondern auch ein Entscheid für ein bestimmtes Wirtschaftssystem beinhaltet. Damit werden der Übernahme von Aufgaben durch den Staat sowohl aus individualrechtlicher als auch aus institutioneller, systemischer Sicht Grenzen gesetzt: Leistungen, die von Privaten, welche im Wettbewerb untereinander stehen, erbracht werden, dürfen nicht vom Staat erbracht werden, wenn der Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit nicht ausgehöhlt werden und zu einem Papiertiger verkommen soll.

Fehlentwicklungen

Leider fehlt es nicht an Beispielen, die zeigen, dass die genannten verfassungsrechtlichen Grundsätze im politischen oder legislatorischen Entscheidungsprozess nicht genügend Orientierungskraft entfalten.

Wohin führen diese Entwicklungen? Neben der Lähmung des Einzelnen und neben der Überforderung des Staates geschieht ein Drittes: Es verleitet die wirtschaftlichen Akteure dazu, nach Lücken zu suchen und mit vordergründiger Normkonformität gleichwohl ihre Interessen wahrzunehmen. Die sehr detaillierten amerikanischen Vorschriften im Bereich der Rechnungslegung von Firmen scheinen mir diesbezüglich ein besonders lehrreiches Beispiel zu sein. Haben sie etwa den Fall Enron verhindert? Im Gegenteil, sie haben sich als absolut kontraproduktiv erwiesen und letztlich die Transparenz verunmöglicht, die sie eigentlich schaffen sollten.

Zu dichte und detaillierte Regulierungen sind in mehrfacher Hinsicht verfehlt: Einerseits verursachen sie Mehraufwand, um eine zumindest vordergründige Normkonformität sicherzustellen; das mag zwar die Anwälte freuen, ist aber volkswirtschaftlich unsinnig.
Und anderseits führen sie dazu, dass Rechtsunterworfene, also zum Beispiel Unternehmen, ihre Entscheide zum Teil nicht mehr nach wirtschaftlichen Kriterien und Bedürfnissen treffen, sondern auf Anforderungen ausrichten müssen, die sachlich nicht gerechtfertigt sind. Es geht darum – bar jeder wirtschaftlichen Logik – Paragraphen zu erfüllen.

Wahrnehmung von Verantwortung verlangt etwas anderes. Auch die Rechtsordnung sollte dies berücksichtigen. So ist zum Beispiel der Unternehmer und nicht der Revisor verantwortlich für eine richtige Bilanzierung. Wir haben diesem Gedanken bei der Revision des Obligationenrechtes betreffend der Bestimmungen im Bereich der Rechnungslegung von Unternehmen Rechnung zu tragen, indem auf dem Grundsatz der Verantwortung aufzubauen ist.
Selbstregulierung

Das Wort “Selbstregulierung” ist bezeichnend für unsere Denkweise. So sehr glaubt man an die gestaltende Kraft der Regulierung, dass man die Selbstverantwortung wieder ersetzt durch den Begriff Selbstregulierung. Was unsere Gesellschaft aber braucht ist: Mehr Selbstverantwortung, und diese kann oft auch ohne Regulierung auskommen.

Den Bürger mittels Regulierung auf Selbstverantwortung zu trimmen, stellt bloss einen weiteren gut gemeinten Versuch dar, mit falschen Mitteln richtige Ziele erreichen zu wollen – ein Irrweg.

Dank an den Schweizerischen Juristenverein

“La loi devient insupportable, mais son absence l’est au moins autant”, hat der französische Philosoph Jean-Maire Domenach treffend geschrieben.

Ich weiss: Ohne Gesetzgebung, ganz ohne statthafte Regulierung geht es nicht. Aber mit zu viel geht es auch nicht. Gerade deshalb sind die Bemühungen um das richtige Mass und die Qualität staatlicher Regulierung so wichtig.

Weniger staatliche Eingriffe, mehr Selbstverantwortung und die konsequente Beachtung des Subsidiaritätsprinzipes würden zu mehr Freiheit der Bürgerinnen und Bürger, zu mehr Wohlfahrt und einem wieder bezahlbaren Staat führen.

Ich danke Ihnen und dem Schweizerischen Juristenverein, dass Sie sich dieser wichtigen Sache annehmen.

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