«Natürlich, ich habe Angstträume»

Interview in der “WOZ” vom 18. September 2003

Was inspiriert diesen Mann eigentlich? Wie schafft er es, dass seine Partei so geschlossen auftritt? Die WOZ zu Besuch bei einem ihrer mächtigsten politischen Gegner.

von Urs Bruderer und Constantin Seibt


Ihrem Bruder sagten Sie einmal: “Überhaupt ist es so – der Sieger ist im Grunde der Verlierer.”

Christoph Blocher: Da steckt eine tiefe Wahrheit dahinter. Am Abstimmungssonntag nach der EWR-Abstimmung ging ich als Sieger abends um halb acht nach Hause und ins Bett, ich war so kaputt.

Suchen Sie dieses Verlierergefühl?

Christoph Blocher: Sie können noch weitergehen. Es gibt Leute, die gehen als die grossen Sieger durch die Welt. Wenn Sie genau schauen, haben die meistens gar nichts erschafft, sondern schwimmen nur obenauf. Wer wirklich etwas bewegt, muss oft untendurch. Nehmen Sie Winston Churchill. Mit seinem Durchhaltewillen, der an Sturheit grenzte, hat er für die Befreiung Europas gesorgt. Danach wurde er abgewählt, er konnte nicht einmal den Friedensvertrag unterschreiben. Vordergründig war er der Verlierer, in Wirklichkeit aber der Sieger.

Sie sind vordergründig ein grosser Sieger.

Christoph Blocher: Ich sehe es nicht so. Jeder Erfolg der Partei macht mir auch Angst: Können wir jetzt machen, was wir müssen? Die Verantwortung wahrnehmen?

Suchen Sie diese Angst?

Christoph Blocher: Nein. Wie kommen Sie auf diese Idee?

Sie haben Churchill erwähnt, den Sie in fast jeder Rede zitieren. Auch ein anderes Ihrer Vorbilder, Generalfeldmarschall Rommel, kämpfte im Zweiten Weltkrieg. Die Liste liesse sich verlängern. Sehnen Sie sich nach harten Zeiten?

Christoph Blocher:
Nein.

Suchen Sie Angst, Not, Gefahr?

Christoph Blocher:
Nein. Ich nehme die Zeiten so, wie sie sind.

Sie sagten auch schon, es sei für ein Volk sehr hart, eine lange Zeit des Wohlstands aushalten zu müssen, wie die Schweiz sie seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt hat.

Christoph Blocher: Das stimmt. Auch die Unternehmen gehen immer in den guten Zeiten kaputt. In guten Zeiten macht man leichter Fehler. Die Fusionitis der neunziger Jahre war ein für gute Zeiten typischer Grössenwahn. Heute hören Sie von “Fokussierung auf die Kernkompetenz”, blöde Wörter, die nichts anderes heissen als: “Wir machen nur noch, was wir können.”

Sie haben auch schon gesagt, es gehe die halbe Lebenswirklichkeit verloren, wenn es einem gut geht. Mögen Sie gute Zeiten nicht?

Christoph Blocher: Doch, natürlich. Ich bin auch nur ein Mensch. Aber ich weiss auch, dass sie schwerer zu ertragen sind, weil die disziplinierenden Lebensbedingungen fehlen.

Disziplinierende Lebensbedingungen fanden Sie auch, als Sie in den siebziger Jahren Präsident der SVP des Kantons Zürich wurden. Die Partei lag bei zirka zehn Prozent. Warum entschieden Sie sich damals nicht für die FDP, die voll im Saft war?

Christoph Blocher: Weil ich ein 68er bin, nur einer von der anderen Seite. Während Moritz Leuenberger und Thomas Held mit dem berühmten Mao-Buch unter dem Arm unterwegs waren, war ich Mitbegründer des liberal gesinnten Studentenringes. 1972 haben alle drei bürgerlichen Parteien von Meilen gleichzeitig bei mir angeklopft, nachdem sie mich an einer Gemeindeversammlung reden gehört hatten. Die FDP hätte vom Gedankengut her zu mir gepasst, doch waren mir die zu hochnäsig.

Was danach folgte, war eine der brillantesten Managementleistungen der Schweiz: der Aufbau der SVP zur grössten Partei.

Christoph Blocher: Da war die Partei am Boden, sonst wäre ich nie zum Präsidenten gewählt worden. In guten Zeiten wählt man einen Verwalter, nicht jemanden, der etwas bewirken will. Damals gab es Leute, die meinten, die SVP sollte sich nach links öffnen. So hätten wir die Glaubwürdigkeit und die letzten Wähler aber auch noch verloren. Ich sah das, und das war eine wichtige Weichenstellung. Das Problem war, dass die SVP damals fast ausschliesslich eine Bauern- und Gewerbepartei war. Ganze Bereiche lagen brach, die Bildung, die Aussenpolitik, die Finanzpolitik kam nur am Rande vor. Ich musste die Partei im Gedankengut prägen.

SVP-Politiker sind deutlich disziplinierter als Mitglieder anderer Parteien. Wie bringt man das hin?

Christoph Blocher:
Unser Vorteil ist, dass wir konzeptionell arbeiten, also langfristig und grundsätzlich. Die SVP hat sich ihre Positionen intern erstritten. Diese Arbeit haben die anderen Parteien nie gemacht. Ich gebe zu: Ich war und bin in dieser Beziehung die
treibende Kraft.

Mit wie vielen Leuten haben Sie das gemacht?

Christoph Blocher: Am Anfang braucht es nicht mehr als zwei, drei. Sie können nicht mit sechzig Personen ein Papier formulieren. Aber nachher müssen Sie in die Breite gehen, ins Parteibüro, in die Parteileitung, den Vorstand und die Delegiertenversammlung, wo dann 400 Leute gemeinsam beschliessen.

Wer waren damals die beiden anderen Köpfe?

Christoph Blocher: Sie fragen jetzt nach zwei, andere sagen, es braucht nur einen… In Zürich war Ruedi Ackeret wichtig. Professor Karl Spühler hat viel gemacht. Heute arbeitet Christoph Mörgeli an diesen Dingen oder, im Sozialbereich, Toni Bortoluzzi und andere.

Die Partei wurde immer grösser und mit ihr die Fraktion…

Christoph Blocher: Ein grosses Problem.

…Politiker sind eitel, wollen sich profilieren. Auffälligkeit erzeugt man durch Dissens. Wie schaffen Sie es, dass die Zürcher SVP im Kantonsrat wie betoniert auftritt?

Christoph Blocher: Das ist uns gut gelungen. Am Tag nach den Wahlen 1999, als wir von 45 auf 72 Sitze zulegten, war mir klar, dass wir zusammensitzen müssen. In einer zweitägigen Fraktionssitzung gingen wir alle Punkte durch, die wir verwirklichen wollten, und stimmten darüber ab. Dann haben wir das Programm in der Zeitung veröffentlicht, mit Köpfen und Unterschrift.

Politiker anderer Parteien klagen, dass SVP-Vertreter in der Kommission eine Meinung vertreten und nach der Fraktionssitzung das Gegenteil.

Christoph Blocher: Das kommt vor. In den Kommissionen werden die Leute mit Information von der Verwaltung zugedeckt, und manchmal sind die Mitglieder nicht in der Lage, das sofort zu durchschauen. Man sollte zuerst in der Fraktion arbeiten und nachher erst in den Kommissionen.

Dann würden die Politiker in der Kommission keine eigene Meinung vertreten, sondern als Sprachrohr der Partei auftreten.

Christoph Blocher: So, wie es heute läuft, ist die Versuchung riesig, sich auf die Seite der Verwaltung zu stellen. Die liefert ihnen die Begründungen, denken müssen Sie gar nichts.

Wie stimmt man die Leute eigentlich um?

Christoph Blocher: Indem man eine Sache tiefer durchschaut. Es hat auch mit Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft zu tun. Heute gelingt es mir leichter als früher, weil die Leute wissen, dass meine Politik bis jetzt erfolgreich war. Ich habe das nicht so gern. Die Leute müssen inhaltlich überzeugt sein, sonst kippen sie, sobald der Erfolg einmal ausbleibt.

Gibt es eigentlich Freundschaft in der Politik?

Christoph Blocher:
Im Volksmund gibt es die Steigerung: Feind, Todfeind, Parteifreund. Da steckt wie immer ein Körnchen Wahrheit drin. Aber ich habe gute Freunde auch in der eigenen Partei. Unter den Überzeugten ergibt sich auch eine menschliche Beziehung, man macht viel durch, wird zu einer Art Schicksalsgemeinschaft.

Bei welchen Leuten in der Partei hören Sie genauer hin? Wer inspiriert Sie?

Christoph Blocher:
Sie müssen verstehen, dass ich darüber nicht rede. Jeder, den ich nenne, ist einer zu viel, jeder, den ich nicht nenne, einer zu wenig. Man tut ja oft so, als ob ich in der SVP eine Herde blökender Schafe hinter mir hätte. Das ist nicht so. Als Politiker muss man oft geben. Um dies zu können, muss man aber auch hören, aufnehmen, und, ganz wichtig, Sie müssen auch Informationen von ausserhalb der Partei haben. Ich habe Leute aus der Wirtschaft, aus der Kultur, aus der Wissenschaft von ausserhalb der Partei. Nur darf ich die nicht nennen, weil ich so umstritten bin, dass die verschossen wären, wenn ich öffentlich sage, dass ich eine Beziehung zu ihnen habe.

Das klingt beneidenswert nach Filmstar.

Christoph Blocher:
Wieso?

Nach einem bösen Helden mit sehr viel Macht.

Christoph Blocher:
Die “classe politique” lehnt doch alles ab, was von Blocher kommt.

Nun, es kommt darauf an, wie Sie es servieren. Kellnerqualitäten haben Sie jedenfalls nicht.

Christoph Blocher: Servieren hat seine Zeit, und Fordern hat seine Zeit. Wenn Sie den Mainstream ändern wollen, dürfen Sie nicht servieren. Dann müssen Sie die Leute von den Geleisen werfen.

Das stimmt, und da sind Sie seit 25 Jahren dran…

Christoph Blocher:
Und es gelingt nie, wollen Sie sagen.

Es ist auf jeden Fall ein sehr entschlossener Versuch. Warum wollen Sie grosse Änderungen in diesem angenehmen, nicht sehr sensationellen Land?

Christoph Blocher:
Ich finde die Schweiz ein sensationelles Land. Sie nicht? Ich schon! So ein kleines Land, mit vier Kulturen, zweihundert Jahre ohne Krieg und hohem Wohlstand trotz schlechten ökonomischen Voraussetzungen. Ich finde das alles sensationell und glaube nicht, dass wir grosse Änderungen brauchen.

Auf der WOZ haben wir seit ungefähr zwei Jahren die Devise “Nicht jammern”. Bei Ihnen haben wir den Eindruck, dass Sie uns im Jammern längst überholt haben. In Ihren Reden zeichnen Sie die Schweiz als ein Land, das seine Bürger schröpft…

Christoph Blocher: Das stimmt aber auch!

…und in dem die Freiheit bedroht ist…

Christoph Blocher: Und das auch!

Fühlen Sie sich in Ihrer Freiheit bedroht?

Christoph Blocher: Ich weniger, weil ich mich in einer beneidenswerten Lage befinde. Freiheit ist auch eine Frage des Status. Aber wenn ich nicht mehr mitentscheiden kann, fühle auch ich mich eingeschränkt.

Fühlen Sie sich geschröpft?

Christoph Blocher: Das sowieso. Aber ich kann die Schröpfung besser ertragen
als einer, der mit Mitteln nicht gesegnet ist.

Wer wird denn unerträglich geschröpft?

Christoph Blocher:
Der Mittelstand wird geschröpft.

Wer ist der Mittelstand?

Christoph Blocher:
Ich definiere so: Wer zu wenig arm ist, um auf staatliche Unterstützung zählen zu können, aber nicht so reich, dass er nach Monaco zügeln muss, weil er sich den Wohnsitz in der Schweiz nicht mehr leisten kann, der gehört zum Mittelstand.

Die Definition ist nach oben offen.

Christoph Blocher:
Nicht ganz.

Sie müssen nicht nach Monaco.

Christoph Blocher:
Darum gehöre ich auch zum Mittelstand.

Und unfrei fühlen Sie sich auch?

Christoph Blocher: Nehmen wir das neuste Beispiel. Bis jetzt konnten Gemeindebürger sagen, wen sie ins Bürgerrecht aufnehmen. Jetzt hat das Bundesgericht das verboten. Das ist eine Einschränkung der Entscheidungsfreiheit…

Sie reden einem Verhältnisblödsinn das Wort. Einbürgerungswillige müssen sich bewerben. Vor einer Kommission geht das, da gibt es gerechte Prüfungen. Aber vor 3000 Leuten, was soll man da machen? Eine Werbekampagne? Den 3000 Bürgern fehlen die Grundlagen für den Entscheid, und Entscheidungen ohne Grundlage sind eine Idiotie.

Christoph Blocher:
Erstens hat man eine Grundlage, man kennt die Leute, man kann sie kennen, in den Gemeinden, an der Gemeindeversammlung…

Jetzt reden Sie an den Realitäten vorbei.

Christoph Blocher: Dass Sie nicht gleicher Meinung sind, ist klar. Vielen Bürgern liegt daran, da zu bestimmen, Sie können das gut oder schlecht finden, aber die sind unfrei. Ich gehe weiter. Wir haben x Sachen, die wir wegen internationaler Verträge nicht tun können.

Wollen Sie aus allen internationalen Verträgen aussteigen?

Christoph Blocher: Da und dort wäre es vielleicht gut. Auf jeden Fall sollten wir uns nicht dauernd mit neuen Verträgen binden. Das sind ja oft Verwaltungsverträge. Die Schweizerinnen und Schweizer haben nichts dazu zu sagen.

Sie vermischen Ebenen. Wir sprachen von der persönlichen Freiheit der Bürger. Dass die Schweiz als Land freiwillig Verträge eingeht mit anderen Ländern, ist klar.

Christoph Blocher: Ich rede von den Bürgern. Die Politiker können vielleicht noch entscheiden, die Verwaltungsleute auch. Aber die Bürger nicht mehr.

Das sind doch normale Entscheidungen. Die Verträge haben Vorteile und Nachteile – sie schaffen Rahmenbedingungen. Es gibt keine Freiheit im leeren Raum.

Christoph Blocher:
Das stimmt. Aber bei uns fallen immer mehr Entscheidungen in der Verwaltung, sodass der Bürger nicht mehr frei entscheiden kann. So verlieren wir Freiheit an den Staat. Das geht bis in die kleinen Dinge, den Abfall, das Abwasser, Gebühren et cetera.

Die Bürokratie fällt über einen her wie der Schnupfen, klar, aber ob das eine wirkliche Einschränkung der Freiheit ist?

Christoph Blocher: Ich empfinde es so. Sie empfinden es weniger. Ich nehme an, Sie haben weniger Sachen, wo sie in der Freiheit eingeschränkt sind, als ich als Unternehmer, der bauen muss, der exportieren muss, der Leute anstellen muss, Abrechnungen erstellen, Statistiken ausfüllen.

Und Reden halten. Wie bereiten Sie sich darauf eigentlich vor?

Christoph Blocher: Die meisten Reden halte ich frei, aber die Albisgüetlirede zum Beispiel schreibe ich auf. Innerlich arbeite ich an der Rede monatelang, bis ich die Konzeption habe. Dann setzte ich mich und schreibe mit Bleistift. Ich bin immer unzufrieden, schreibe einen Entwurf nach dem anderen. Der zirka achtzehnte, den ich nehmen muss, weil keine Zeit mehr bleibt, ist der wenigst schlechte.

Denken Sie beim Redenschreiben an die Wirkung?

Christoph Blocher:
Meine Hauptsorge ist immer, ob man mich versteht. Man sagt, ich rede so einfach. Das musste ich lernen. Als ich noch jung war und meine Kinder klein, hielt ich ihnen meine Reden. Sie mussten aufstrecken, wenn sie etwas nicht verstanden. So habe ich gemerkt, wo ich zu kompliziert formulierte oder, häufiger, wo etwas nicht durchdacht war.

Und wie fühlen Sie sich vor 1500 Leuten?

Christoph Blocher: Nach dem ersten Satz bin ich innerlich bei der Sache. Davor habe ich jedes Mal unglaublich Lampenfieber. Auf dem Weg zum Pult habe ich oft das Gefühl, die Beine können mich vor lauter Zittern nicht mehr tragen.

Träumen Sie davon?

Christoph Blocher:
Natürlich, Angstträume. Ich stehe vor den Leuten, und es kommt mir nichts in den Sinn. Oder ich sage etwas, das ich gar nicht sagen will.

Was halten Sie eigentlich für typisch links?

Christoph Blocher:
Links steht für viel Staat, rechts steht für wenig Staat. Der Linke glaubt ans Kollektiv und will möglichst viel regeln. Das Kollektiv soll alles richten. Rechts obwiegt der Glaube an den Einzelnen, an den Bürger. Darum sagt der Bürgerliche “Nein” zu zu viel Kollektiv.
Die Praxis sieht häufig anders aus.
Da haben Sie nicht Unrecht.

Zum Beispiel ist die SVP eine wesentlich kollektivere Partei als die SP.

Christoph Blocher:
In welcher Beziehung sind wir kollektiver?

Zum Beispiel in Sachen Geschlossenheit beim Abstimmungsverhalten. Derart ent- und geschlossene Parteien gab es auf linker Seite zuletzt unter jenen Leuten, die mit der Mao-Bibel unterwegs waren.

Christoph Blocher:
Ich habe diesen Leuten nie Geschlossenheit vorgeworfen, sondern dass sie, geschlossen oder nicht, in die falsche Richtung liefen.

Wer nicht an der Spitze steht, hat in der Geschlossenheit beschränkte Aussicht: Er sieht den Vordermann, spürt den Hintermann.

Christoph Blocher:
Wenn jemand stets eine völlig andere Meinung vertreten will, geht er besser in eine andere Partei.

Sie definieren Freiheit als eine Frage von mehr oder weniger Staat. Es geht aber auch um Lebensmöglichkeiten. Wer hart arbeitet, um dann die Pensionierung zu geniessen, führt ein unfreieres Leben als jemand, der in der Hängematte liegt. Es gibt auch die Möglichkeit der Freiheit ausserhalb des Ganzen. “Wenn man einen Beinbruch hat und ein paar Wochen an Krücken geht”, sagten Sie einmal, “dann wird das arbeitsfreie Leben plötzlich interessant.”

Christoph Blocher: Ich habe dieses Beispiel früher an mir selber erlebt, als ich mich an die arbeitsfreien Tage zu gewöhnen begann. Wissen Sie, von mir aus kann einer den ganzen Tag in der Hängematte liegen. Aber wenn die andern das bezahlen müssen, dann wehre ich mich.

Diese Mentalität verstehen wir nicht, dieses Gefühl, irgendwie betrogen zu werden.

Christoph Blocher:
Die Selbstverantwortung verlangt, dass nicht andere für jemanden sorgen, der selbst für sich sorgen könnte. Wir haben einfach einen zu grossen Staat, zu hohe Zwangsabgaben.

Es gibt kein System mit perfektem Wirkungsgrad, eine gewisse Verschwendung ist immer da.

Christoph Blocher:
Man muss Verschwendung bekämpfen, auch wenn man sie nicht ganz verhindern kann. Das ist auch in einem Betrieb so.

Nach Ihren Erfolgen könnten Sie sich zur Ruhe setzen. Weshalb widerstehen Sie der Versuchung des arbeitslosen Lebens?

Christoph Blocher: Dass ich nicht mehr muss, macht ja den Reiz der Sache aus. Das gibt mir Unabhängigkeit und damit Wirkung. Ich frage mich auch nicht immer, ob ich es andersherum schöner hätte. Ich mache einfach, was ich im Moment für richtig halte.

Ist das eine moralische Haltung?

Christoph Blocher:
Sicher keine moralistische. Moralisten schauen nur darauf, dass sie eine reine Weste haben. Sie machen alles nur, um gute Menschen zu sein. Wer dagegen eine hohe Moral hat, tut das Gegenteil: Er macht etwas, um das Gute zu ermöglichen – ohne ans eigene Ansehen zu denken.

Fragen Sie sich manchmal, ob Sie ein guter Mensch sind?

Christoph Blocher: Nein. Aber ich frage mich immer wieder, ob es richtig ist, was ich tue oder was ich tat. Diese ewigen Zweifel begleiten mich ununterbrochen.

Warum merkt man davon nichts?

Christoph Blocher: Wieso soll man das zur Schau stellen? Wer seine Aufgaben gemacht hat, innerlich, der muss nicht seine Zweifel ausbreiten, sondern mit dem Ergebnis kommen. Zweifel auszubreiten, wo Entscheide gefragt sind, ist feige.

Sie sagten auch schon, zu differenzieren sei eine Feigheit.

Christoph Blocher:
Nein, das nicht. Vor einem Entscheid muss man alle Aspekte einer Sache zur Kenntnis nehmen. Hinter jedem Entscheid lauert ja ein Fehlentscheid. Man kann auch ohne Differenzierung zu einer Meinung kommen, nur hält die dann in der Diskussion nicht stand. In der Politik kenne ich fast alle Argumente meiner Gegner im Voraus

Führt das mit der Zeit nicht zu einer Art Pingpong?

Christoph Blocher: Vor Abstimmungen wird es manchmal fast langweilig.

Politik scheint Sie unterdessen ohnehin zu langweilen, oder?

Christoph Blocher:
Ich fand Politik nie besonders interessant, von allem Anfang an, vor allem das Parlament nicht. Ich erlaube mir oft, nicht dort zu sein. Ich habe in der Politik eine andere Bedeutung bekommen: Ich gebe heute Richtungen vor.

Wer, abgesehen von Ihnen, macht das noch?

Christoph Blocher: In meiner Partei ist Christoph Mörgeli einer, der stark so arbeitet.

Ist er nicht ein bisschen zu scharf und ein bisschen zu hors-sol?

Christoph Blocher: Ich habe gern, wenn die Jungen so sind. Sonst werden sie im Alter fertige Philister.

Und in den anderen Parteien?

Christoph Blocher:
Im Moment gibt es nicht sehr viele. Auf der Linken gab es früher den Bodenmann.

Warum können das nur so wenige Leute?

Christoph Blocher:
Ich bin nicht gescheiter als die und auch nicht fähiger. Die befassen sich einfach weniger mit der Sache und heucheln dafür ein bisschen mehr. Auch darum muss ich manchmal aus dem Parlament und nach Hause. Ich halte jedes Klima gut aus, nur nicht das Heuchelklima.

Wo wird denn mehr geheuchelt, in der Politik oder in der Wirtschaft?

Christoph Blocher: In der Politik, eindeutig. Heucheln heisst ja immer die Lebenswirklichkeit verneinen. In der Politik hat das keine Konsequenzen, in der Wirtschaft gehen Sie so unter. Viele Unternehmen haben über Ethik gesprochen, um eigenen Dreck zuzudecken. Aber sie gingen unter.

Man sieht Ihnen eine gewisse Freude an, wenn Sie das erzählen.

Christoph Blocher: Ich habe Freude, dass es schief geht, wenn die Lebenswirklichkeit nicht befolgt wird.

Schadenfreude kennen Sie nicht?

Christoph Blocher: Nein.

Geht der Entscheid, sich besonders unheuchlerisch zu geben, nicht auch an der Lebenswirklichkeit vorbei?

Christoph Blocher: Wenn einer sagt, er lüge einfach nie, ist das ebenso falsch, wie wenn einer sagt, er lüge immer. Wenn jetzt eine Frau vorbeikommt und ich finde sie furchtbar hässlich, dann lüge ich vielleicht und sage ihr das nicht. Wieder ist das Motiv entscheidend. Der Zweck heiligt die Mittel.

Gilt das auch bei politischen Kampagnen?

Christoph Blocher:
Ja. Aber nicht jeder Zweck heiligt die Mittel, und nicht jedes Mittel wird vom Zweck geheiligt.

Wo ist die Grenze?

Christoph Blocher: Die muss man selber finden.

Bei Provokationen zum Beispiel?

Christoph Blocher: Bei Ehrverletzungen und Ähnlichem.

Das Messerstecherinserat zum Beispiel muss enorm Spass gemacht haben.

Christoph Blocher: Es brachte die Sache auf den Punkt. Da war gar nichts einzuwenden!

Die “Filzläuse” waren auch sehr komisch, das Wort “Weichsinnige” auch, die “Zweisinnigen” waren tödlich gut.

Christoph Blocher:
Wir sind manchmal nächtelang zusammengesessen, bis wir die richtigen Worte fanden.

Wer ist wir?

Christoph Blocher: Leute aus der Partei und andere, die Ehefrauen waren auch schon dabei.

Und wie arbeiten Sie da?

Christoph Blocher: Die “Linken und Netten” zum Beispiel entstanden so: Ich habe gefragt, warum es mit unserer Justiz und Verbrechensbekämpfung so schlecht stehe, wo wir Bürgerliche doch die Mehrheit haben. Dann hat einer den Franz Hohler zitiert “Si si halt alli so nätt”, und dann kam einer auf die Idee: “Das haben wir den Linken und den Netten zu verdanken.”

Sie arbeiten bewusst an Ihrer Sprache. In der Ems-Chemie haben Sie Begriffe wie Vision oder Strategie verboten.

Christoph Blocher: Ich verbiete Modewörter, Begriffe, die von allen benutzt werden und von allen anders. “Strategie” war einmal so ein Wort. Da habe ich gesagt, wir reden nicht mehr von Strategie, wir reden von Plänen. Das ist viel bodennäher. Heute können wir “Strategie” wieder brauchen, dafür ist “Fokussierung” verboten. Ich habe lieber, wenn die Leute sagen: “Ich beschränke mich auf etwas.” Und wenn einer das sagt, weil er weiss, dass der Blocher das gern hört, frage ich als Zweites: “Und was lassen Sie weg?” Eine ungenaue Sprache führt zu einer schlechten Führung.

Wie kommt es eigentlich, dass die bestbezahlten und vielleicht auch mächtigsten Leute zwar nicht bei ihren Anzügen, aber in ihren Köpfen nach einer Mode gehen? Was läuft da schief?

Christoph Blocher: Mit der Mode gehen ist halt wunderbar einfach. Sie stossen nirgends an.

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