Ein EU-Beitritt aus Schwäche?

Meine Kolumne in der “NZZ” vom 21. August 2003

Die EU hat an Glanz verloren. Seit der grossen EWR-Debatte von 1992 sind die Lobeshymnen auf das «Vereinigte Europa» weitgehend verstummt. Die Verheissungen der europäischen Staatschefs («Bis 2000 werden wir die Arbeitslosigkeit überwunden haben»; «Die gemeinsame Währung wird einen gewaltigen Produktionsschub auslösen») sind durch die Realität widerlegt worden: Die Euro-Zone stagniert. Die Arbeitslosenzahlen liegen bei rund 9 Prozent. Die Staatshaushalte bleiben defizitär.

Aus einer «gehobenen Freihandelszone» hat sich ein Europa der Institutionen und Bürokraten herausgebildet. Unternehmer im EU-Raum leiden heute mehr unter den Behinderungen durch Überregulierung und Schikanen aus Brüssel, als dass sie vom erhofften Produktivitätsschub profitieren. Die politisch – und nicht ökonomisch – motivierte Einheitswährung zeigt, dass sie den unterschiedlichen Volkswirtschaften Europas nicht gerecht werden kann. Für wirtschaftlich kriselnde Staaten wie Deutschland ist der Euro zu stark, für überhitzte Ökonomien wie die Spaniens zu schwach. In der Folge brechen diverse Regierungen regelmässig den Stabilitätspakt – ironischerweise vor allem die Euro-Promotoren Deutschland und Frankreich.

Politische Fehlkonstruktion

Auch von einer politischen Einheit ist je länger, je weniger zu spüren. Nicht nur durch die verschiedenen Verträge (Maastricht, Amsterdam, Nizza) wurde die Demokratie auf Kosten der kleinen Staaten geschwächt, auch die Grossen gebärden sich immer ungenierter. Man denke an die arrogante Einmischung der EU nach den Wahlen in Österreich, an Präsident Chiracs Versuch zur Disziplinierung der osteuropäischen Staaten wegen ihrer probritischen Haltung («Sie haben eine gute Gelegenheit verpasst zu schweigen») oder Schröders Absage seiner Ferien im «befreundeten» Italien. Durch die Osterweiterung dürfte sich diese Zwei-Klassen-Mentalität noch verstärken. Bereits heute ist die Rede vom «Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten». Angesichts der Polarisierung in der Irak-Frage wirken die arrangierten Fototermine der vereinigten Staatsoberhäupter umso gekünstelter.

Was will die Schweiz?

Das Schweizervolk hat die Schwächen der EU erkannt und mit 76,8 Prozent die Initiative «Ja zu Europa» deutlich abgelehnt. Seither vertuschen Bundesrat und Parlament ihre aussenpolitischen Pläne. Vor allem im Wahljahr 2003 drückt sich die Classe politique um jede klare Stellungnahme. CVP-Präsident Philipp Stähelin denunziert die EU-Frage als «Wahlkampfgeplänkel». Franz Steinegger rät von einer Grundsatzdebatte über den EU-Beitritt ab: «Die FDP kann nur verlieren.»

In Tat und Wahrheit hält der Bundesrat in seinem aussenpolitischen Bericht ausdrücklich fest: «Der EU-Beitritt ist das Ziel des Bundesrates.» Zu diesem Zweck will er in der nächsten Legislaturperiode (2004-2007) über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen entscheiden. Diesem Bericht haben alle Regierungsparteien ausser der SVP zugestimmt.

Mit seiner Erklärung liegt der Bundesrat ganz auf der integrationspolitischen Linie der SP. Was sich die Sozialdemokraten vom Beitritt versprechen, hat Peter Bodenmann kürzlich so beschrieben: «Für mich stellt die EU den einzigen Raum dar, in dem die europäische Linke mit Aussicht auf Erfolg reregulieren kann.»

Die FDP legte sich 1995 per Parteitagsbeschluss auf den Beitritt fest. Laut FDP-Präsidentin Christiane Langenberger soll sich die Schweiz neuerdings «aus wirtschaftlicher Notwendigkeit» der EU anschliessen. Die Präsidentin der FDP hat dies in ihrer 1.-August-Rede 2003 in geradezu apokalyptischer Form festgehalten: «Die Schweiz kann ihrem europäischen Schicksal nicht mehr entrinnen.» Damit übernimmt sie fast wörtlich die Argumentation der Bodenmann-SP-Ringier-Achse. Allerdings räumt sie ein, dass es noch etwas dauern könnte.

Die CVP-Delegierten beschlossen 1998 den EU-Beitritt. 2001 kämpfte die CVP zusammen mit der SP für die Initiative «Ja zu Europa», die sofortige EU-Beitritts-Verhandlungen verlangte.

Die Wirtschaft hat ihre Konsequenzen gezogen. Im Gegensatz zu den frühen neunziger Jahren propagiert heute kaum ein Wirtschaftsvertreter mehr den EU-Beitritt. Auch die Economiesuisse als traditionell der FDP nahestehender Wirtschaftsverband beurteilt einen EU-Beitritt klar negativ (Standortbestimmung zur schweizerischen Integrationspolitik, Oktober 2002).

Nachteile eines EU-Beitritts

Ein EU-Beitritt heisst: Aufgabe des Schweizerfrankens und Ende einer souveränen Geldpolitik; höhere Schuldzinsen mit negativen Auswirkungen auf die Hypotheken, den Wohnungsmarkt und die Mieten; weitere Regulierungen und in der Folge mehr Arbeitslose; Nettozahlungen in Milliardenhöhe; Preisgabe des Bankkundengeheimnisses mit gravierenden Konsequenzen für den Finanzplatz Schweiz.

Staatspolitisch gesehen bedeutet der EU-Beitritt einen weitgehenden Verlust der Freiheit und Selbstbestimmung, der Volksrechte und der Neutralität. Warum halten SP, FDP, CVP und Bundesrat dennoch stur am Beitrittsziel fest?

Ausdruck der Resignation

Der Wunsch nach einem EU-Beitritt ist als Flucht aus der innenpolitischen Verantwortung zu sehen. Er ist Ausdruck der öffentlichen Resignation und der sichtbaren Unfähigkeit, die Aufgaben im eigenen Land erfolgreich zu bewältigen: Weil man das Asylproblem nicht anpacken mag, träumt Bundesrätin Ruth Metzler vom Dublin-Vertrag. Ihre Beamten begründen lieber die Unlösbarkeit des Asylproblems und möchten die Verantwortung nach Brüssel abwälzen, als dass sie den milliardenteuren Missbrauch wirksam bekämpften. Moritz Leuenberger unterzeichnet eigenmächtig einen Staatsvertrag, worin er Deutschland faktisch die Ausgestaltung der heimischen Luftverkehrspolitik abtritt.

2001 stimmte das Volk mit 84,7 Prozent (!) der Schuldenbremse zu. Schon ein halbes Jahr nach deren Einführung verbreitet das Finanzdepartement ein «Time-out» und verschiebt die versprochene Haushaltsanierung auf 2008. Aymo Brunetti, Chefökonom des Seco, zählt minuziös die wirtschaftlichen Schwächen der Schweiz auf und gibt offen zu, dass es sich um eine Auflistung binnenwirtschaftlicher Fragen handelt. Dennoch sieht er als einzigen Ausweg den EU-Beitritt. Offenbar traut Brunetti seiner eigenen Regierung keine selbständige Reformpolitik mehr zu.

Die aus allen Rudern laufenden Ausgaben für die Sozialwerke werden als naturgegeben hingenommen. Phantasielos erhöht man die Mehrwertsteuer. Hinterher beklagen die gleichen müden Leute das mangelnde Wirtschaftswachstum. Politiker und Beamte scheuen die Mühsal, im eigenen Land für Sicherheit zu sorgen, flüchten sich deshalb in internationale Verträge und hoffen, in einem Europa ohne Grenzen der Kriminalität Herr zu werden.

Der Drang in die EU erinnert stark an das Vorgehen unfähiger Manager, ihr eigenes Unternehmen in ein grösseres zu integrieren, in der Meinung, die anderen würden es dann schon richten. Diese Fluchtstrategie kann nie zum Erfolg führen.

Die EU hat keines der Probleme gelöst, die wir angeblich nur mit Hilfe dieser Union lösen sollten: Schuldenwirtschaft, Arbeitslosigkeit, schleppendes Wachstum, Regulierungsflut, ausufernder Sozialstaat, Bildungsmisere, Kriminalität und Asylmissbrauch. Wir wären darum naiv, unser Heil in der EU zu suchen.

Bilaterale als Hintertüre zum Beitritt?

Wer resigniert, kann keine guten Verträge aushandeln. Zumal die Regierung ein doppelzüngiges Spiel treibt: Vor der Abstimmung über die bilateralen Verträge beschwichtigte Moritz Leuenberger das Volk: «Die bilateralen Verträge sind ein eigenständiger und selbständiger Schritt und haben mit dem EU-Beitritt nichts zu tun.» Einen Tag nach der Abstimmung erklärte sein Bundesratskollege Deiss: «Die Bilateralen sind ein wichtiger Schritt hin zur EU.» Diese Zwitterstellung der Schweiz ist unverständlich und schädlich. Einerseits signalisiert der Bundesrat gegenüber der EU den Wunsch nach einer Vollmitgliedschaft; andererseits gibt man vor, als souveräner Staat bilateral zu verhandeln.

Klare Positionierung

Was braucht die Schweiz von der EU? Die Bilateralen I wurden zwar schlecht ausgehandelt, aber sie genügen. Die EU wäre heute bereit für ein Abkommen zur Zinsbesteuerung, womit das Bankkundengeheimnis gewahrt bliebe. Doch die Bundesverwaltung hat anderes im Sinn: Sie will das Abkommen mit dem umstrittenen Schengen-Vertrag verknüpfen, der ein Europa ohne Grenzen vorsieht und damit neue Probleme bringt, vor allem nach der Osterweiterung. Der Vertrag über die Zinsbesteuerung sollte umgehend abgeschlossen werden. Die Verhandlungen zu den Bilateralen II sind abzubrechen, denn sie dienen lediglich als Vorbereitung eines späteren EU-Beitritts. Mit der Personenfreizügigkeit für Osteuropa ist zuzuwarten, bis genügend Erfahrungen mit den Bilateralen I vorliegen. Dass die EU die Bilateralen I ganz aufkünden, ist abwegig. Sonst müsste die EU – etwa beim Transitverkehr – wieder die alten vorvertraglichen Bestimmungen erfüllen. Aber eine solche Politik brauchte eine fähige und selbstbewusste Landesregierung.

Die SVP will eine souveräne Schweiz. Deshalb müssen wir das Beitrittsgesuch zurückziehen. Nur so können wir die Haltung gegenüber der EU bereinigen, welche zu Recht am aussenpolitischen Kurs unserer Regierung zweifelt. Danach gilt es, die bürgerlichen Kräfte zu bündeln für die dringend notwendigen Aufgaben und Reformen innerhalb der Schweiz.

Nationalrat Christoph Blocher, Herrliberg

← Indietro a: Testi