UNO: Gibt es ein Ausserhalb?

Streitgespräch mit Bundesrat Pascal Couchepin im St. Galler Tagblatt vom 31.Januar 2002

Die Schweiz ist ein kleines Land, das neutral und unabhängig bleiben will. Darin sind sich Bundesrat Pascal Couchepin und Nationalrat Christoph Blocher (SVP/ZH) einig. Trotzdem will der eine in die UNO und der andere nicht. Ein Streitgespräch.

Gesprächsleitung: Denis Barrelet (“24 heures”) und René Lenzin, St. Galler Tagblatt

Herr Blocher, weshalb ist Ihr Bild der Schweiz nicht mit dem UNO-Beitritt vereinbar?

Christoph Blocher: Die Schweiz ist ein kleines Land, das grossen Wert legt auf Freiheit, Selbstbestimmung, direkte Demokratie und die integrale, das heisst umfassende Neutralität. Das Erfolgsrezept der Schweiz im Bezug auf die Welt ist, dass sie weltoffen und mit allen befreundet ist, sich aber nicht einbinden lassen will. In der UNO sind wir überall dabei, wo es nicht um Kriegsfragen geht. Wir zahlen, reden und beschliessen dort mit. Beschlüsse in dieser technischen UNO sind jedoch nicht verbindend. Am 3. März geht es um die politische UNO und um die Frage, ob wir uns den verbindlichen Beschlüssen der UNO-Charta unterwerfen sollen, was gegen unsere Neutralität ist.

Herr Couchepin, weshalb verträgt sich Ihr Bild der Schweiz mit dem Beitritt?

Pascal Couchepin: Die Schweiz ist ein kleines, unabhängiges Land, das selbstsicher und stolz auf seine Eigenheiten ist. Sie ist aber auch ein realistisches Land, das weiss, dass es Freunde und ein Solidaritätsnetz braucht, um in der Welt zu existieren, dass man dort präsent sein muss, wo Weltpolitik gemacht wird.

Stichwort Neutralität. Was ist an der Schweiz anders als an neutralen Ländern wie Schweden oder Finnland?

Blocher: Die Schweiz ist umfassend und dauernd neutral. Schweden und Finnland haben eine Neutralität von Fall zu Fall, und da mag der Beitritt möglich sein. Weshalb unsere Neutralität dem Beitritt widerspricht? Lassen Sie mich den Bundesrat zitieren, der von 1945 bis in die 80er-Jahre stets erklärt hat: Der Beitritt in die politische UNO und das Unterschreiben der Charta ist nicht kompatibel mit der Neutralität, insbesondere nicht die Artikel 41 bis 43. Und in den 80er-Jahren hat der Bundesrat einen Schwenker vollzogen, indem er beschloss, der politischen UNO beizutreten, dann dem EWR, dann als strategisches Ziel den EU-Beitritt verkündete, damit musste er die Neutralität über Bord werfen. Weder der Beitritt in die politische UNO noch der EU-Beitritt ist mit der schweizerischen Neutralität vereinbar.

Couchepin: Was Sie aus der Charta zitieren, ist ein isoliertes Element. Im Beitrittsbrief, den wir vorbereitet haben und der von der UNO akzeptiert ist, wenn Volk und Stände Ja sagen, behalten wir uns vor, unsere Rechte in der UNO nach unserer Neutralitäts-Konzeption wahrzunehmen. Es ist eine Beleidigung des Volkes und der von ihm gewählten Politiker, wenn Sie behaupten, dieser Vorbehalt würde nicht eingehalten. Es ist auch eine Unterstellung zu behaupten, der UNO-Beitritt sei der erste Schritt zum EU-Beitritt. Wer das behauptet, lässt die Behörden als Leute erscheinen, die das Volk betrügen. Das ruiniert die Demokratie.

Blocher: Wenn man keine Argumente hat, drängt man den Gegner in eine Ecke…

Couchepin: Das ist genau die Methode, die Sie beherrschen . . .

Blocher: Für den unvoreingenommenen Bürger ist doch klar, was die Neutralitätspolitik besagt: Wir nehmen nicht teil an internationalen Konflikten. Treten wir jedoch der politischen UNO bei, unterschreiben wir einen Vertrag, wonach wir die Beschlüsse des Sicherheitsrats, als mächtigstes Organ der UNO, erfüllen müssen. Das heisst, wir müssen zum Beispiel Boykotte, Nahrungsmittelsperren, Abbruch von Verkehrsverbindungen und von diplomatischen Beziehungen – das sind alles Kriegsmittel – durchführen.

Couchepin: Soll die Schweiz das einzige Land der Welt sein, das weiter mit Saddam Hussein Handel treibt? Gibt es Neutralität gegenüber dem Terrorismus, wenn man nicht die Schweiz selbst in Gefahr bringen will?

Hätte die Schweiz den Boykott gegen Saddam Hussein nicht mittragen sollen?

Blocher: Nicht in dieser Form. Der Boykott richtet sich nicht gegen Saddam Hussein, sondern gegen den Irak. Selbst die UNO hat eingesehen: Hunderttausende sind verhungert, der Diktator ist geblieben. Deshalb mussten die Sanktionen geändert werden: “Oil for food” heisst es jetzt. Ich hatte vorgeschlagen, die Kriegsmaterialausfuhr gemäss Gesetz zu verbieten, ansonsten den Courant normal zu pflegen und als neutraler Staat ein gezieltes Programm im Nahrungsbereich für die Ärmsten im Irak zu lancieren.

Couchepin: Gerade solche Sanktionsdebatten können und müssen innerhalb der UNO geführt werden. Wenn man ausserhalb ist, lassen es die realen Machtverhältnisse nicht zu, dass man gegen die Beschlüsse der UNO verstösst. In der Praxis kann die Schweiz gar keine autonome Boykott-Politik betreiben. Mehr noch: Sie hat nicht einmal die Mittel, andere Argumente geltend zu machen.

Blocher: Wer in der UNO ist, hat die Sicherheitsbeschlüsse gemäss Vertrag zu erfüllen. Als neutraler Kleinstaat können wir dort nicht eigene Wege gehen. Ausserhalb sind wir frei zu handeln und haben keine Rechtspflicht.

Kann man vor dem Terrorismus neutral sein?

Blocher: Terrorismus ist kein Staat, sondern eine Kampfform. Wir sind neutral gegenüber Staaten. Wie schützen wir uns gegen Terrorismus? Indem wir uns erstens neutral verhalten und damit den Terrorismus nicht anziehen. Zweitens indem wir mit Armee und Polizei dafür sorgen, dass sich in unserem Land kein Terrorismus und keine terroristischen Organisationen entfalten können.

Couchepin: Terrorismus ist tatsächlich eine Kampfform, aber Afghanistan zeigt, dass er zuweilen von Staaten unterstützt wird. In diesem Fall wird klar, dass die Neutralität nicht mehr hilft. Denn den Terrorismus zu bekämpfen heisst auch, die Staaten zu bekämpfen, die ihn fördern.

Blocher: Nun zum Brief des Bundesrats. Die SVP-Fraktion hat im Nationalrat einen Antrag gestellt: Wenn man schon in die politische UNO will, braucht es einen Neutralitätsvorbehalt, das heisst einen Vorbehalt, dass die Schweiz die Verpflichtungen des Sicherheitsrates nur erfüllen kann, soweit diese nicht der dauernd bewaffneten, bündnisfreien, frei gewählten, integralen Neutralität widersprechen. Dieser Vorbehalt hätte von der UNO gegengezeichnet werden müssen. Der Bundesrat hat erklärt, das gehe nicht, weil die Schweiz sonst die Charta nicht voll erfüllen könne, was sie jedoch wolle. Trotzdem schreibt er in seinem Brief, die Schweiz trete der UNO als neutraler Staat bei.

Couchepin: Wir schreiben auch, dass wir unsere Pflichten konform zu unserer Interpretation der schweizerischen Neutralität erfüllen. Die UNO antwortet, dass die Schweiz unter diesen Bedingungen Mitglied werden kann. Das ist ein Vertrag.

Blocher: Nein, das ist ein wertloser Brief, und anschliessend unterschreiben wir einen Vertrag, der das Gegenteil sagt.

Couchepin: Es ist ein Vertrag, der nach dem Willen der Vertragspartner interpretiert werden muss. In der Praxis wird es gar kein Problem geben. Es ist fundamentalistisch, wenn Sie die Charta dermassen theoretisch-juristisch interpretieren.

Völkerrechtler sehen keinen Widerspruch zwischen UNO-Beitritt und Neutralität. Sind Sie, Herr Blocher, kompetenter als diese Experten?

Blocher: Diese Experten sprechen alle vom Neutralitätsrecht gemäss Haager Abkommen und nicht von der Neutralitätspolitik der Schweiz. Glaubwürdig ist die Neutralität nur, wenn die Schweiz nicht an fremden Konflikten teilnimmt. Die Völkerrechtler sagen, die UNO sei kein Staat, sondern eine Staatengemeinschaft. Aber wenn wir feindliche Massnahmen gegen andere Staaten ergreifen müssen, widerspricht das unserer Neutralitätspolitik. Das sind zwei verschiedene Ebenen.

Couchepin: Es hat keinen Wert, über die grossen Theorien zu sprechen. Was beim Völkerrecht viel mehr zählt als Konzepte, ist die Realität. Die Vereinten Nationen haben die Charta seit 60 Jahren immer so interpretiert, wie wir das tun. Alles andere ist reine Theorie.

Wenn wir schon bei der Praxis sind: Die Entscheide des Sicherheitsrats sind doch von den Interessen der Grossmächte geprägt. Stichwort Veto.

Couchepin: Das Veto ist nicht Ausdruck von arroganter Macht, die dem Rest der Welt ihr Diktat aufzwingen will, sondern der Entscheid der Grossmächte, welche die Demokratien gerettet haben und welche es nach dem Krieg erlaubt haben, eine Welt ohne Hitler, ohne Mussolini und ohne das imperialistische Japan aufzubauen. Zudem kennen wir das Veto auch im schweizerischen politischen System. Das Ständemehr ist ein Vetorecht der kleinen Kantone gegenüber den grossen. Im Grunde wäre die UNO ohne Vetorecht ein System, in dem es nur das Ständemehr gäbe und in dem Andorra und Monaco ihren Willen den USA aufzwingen könnten. Alle demokratischen Systeme suchen solche Gleichgewichte.

Blocher: Das ist nun wirklich eine romantische Darstellung des Vetorechts. Nicht die Mehrheit der Mächte hat ein Vetorecht, sondern ein Einziger kann alles blockieren. Das wäre, wie wenn in der Eidgenossenschaft der Kanton Zürich ein Vetorecht hätte. Für einen Demokraten ist das unerträglich. Die fünf Grossmächte haben die Sache so arrangiert, dass in ihrem Einflussbereich nie eine Massnahme gegen ihren Willen durchgesetzt werden kann. Das zeigt sich zum Beispiel im israelisch-palästinensischen Krieg, bei dem Resolutionen nicht durchgesetzt werden, weil die Grossmächte es nicht wollen.

Couchepin: Aber das Vetorecht ist nicht einer einzigen Macht gegeben, sondern fünf verschiedenen, deren Interessen divergieren. Und das ist wiederum ein Schutz für ein Land wie die Schweiz, das nicht in Abenteuer hineingezogen werden will. Wenn alle diese fünf Länder eine Massnahme akzeptieren, ist bewiesen, dass sie von der Gesamtheit der Staatenwelt getragen wird und nicht nur von den Interessen einer Macht.

Blocher: Die fünf Mächte können zusammen auch Interessen vertreten, die uns nicht behagen. Nehmen Sie den Terrorismus: Alle haben sofort gesagt: Wir sind gegen den Terrorismus. Die Russen haben gesagt, es ist gut, damit sie freie Hand in Tschetschenien erhalten. Auch China hat ein Interesse daran, dass es frei gegen Terroristen vorgehen kann. Israel hat unverzüglich Ja gesagt, damit es die Palästinenser als Terroristen bezeichnen kann. Der Friedensnobelpreisträger Arafat ist plötzlich ein Terrorist. Man muss nicht naiv sein. Es geht um Interessen.

Couchepin: Weder Sie noch ich sind naiv. Aber die Frage lautet: Sind Sie gegen den Krieg gegen den Terrorismus? Sind Sie gegen die Massnahmen gegen Al-Qaida?

Blocher: Ich bin für den Kampf gegen Terroristen, aber ich will, dass wir selbst denken und entscheiden, wer Terroristen sind und wie man gegen Terroristen vorgeht.

Couchepin: Selbstverständlich wollen wir über die Massnahmen diskutieren können, aber um das tun zu können, müssen wir Mitglied der UNO sein. Wenn nicht, müssen wir gehorchen, ohne mitbestimmen zu können.

Beeinträchtigt der UNO-Beitritt die direkte Demokratie?

Blocher: Jeder Beitritt zu einer internationalen Organisation wendet die Aktivitäten der Regierung von der Bevölkerung weg. Zwar können wir zu den Beschlüssen der Generalversammlung Ja oder Nein sagen, aber der Druck, die Beschlüsse zu übernehmen, ist natürlich gewaltig. Darum muss man aufpassen, dass man nicht zu viele Kompetenzen weit weg von der Bevölkerung vergibt.

Couchepin: Noch nie in der Geschichte der Schweiz war die Aussenpolitik so breit abgestützt wie heute. Der Bundesrat teilt seine aussenpolitischen Kompetenzen mit dem Parlament, mit den Kantonen, es gibt breite Diskussionen in der Öffentlichkeit, es gibt die direkte Demokratie. Wenn das Volk Ja sagt zum UNO-Beitritt, weiss es, dass dieses Ja zusätzliche Verpflichtungen, aber auch zusätzliche Chancen birgt.

Der UNO-Beitritt kostet zusätzlich 70 Millionen. Zu viel für die Schweiz?

Blocher:
Vor der Abstimmung kostet es immer wenig – nachher ist es ganz anders, siehe Expo, Krankenkassenprämien usw. Wir haben 110 Milliarden Schulden. Bei den etwa 70 Millionen Franken wird es nicht bleiben. Es kommen Konferenzen, Reisen und indirekte Dinge dazu, die das Volk bezahlen muss. Ich höre es schon. Wenn die Generalversammlung einstimmig beschliesst, man sollte 0,7 Prozent des Bruttoszialprodukts für die Entwicklungshilfe übernehmen, wird der Druck aufs Parlament gewaltig sein. Couchepin: Entscheidend sind die 70 Millionen auf ein Budget von 50 Milliarden. Alles andere ist Polemik.

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