Abenteuerliche Sicherheitspolitik

Christoph Blocher erläutert seinen ablehnenden Standpunkt zum Bericht der Kommission Brunner

Interview mit der Zürichsee Zeitung vom 5. Mai 1998

Die vom Bundesrat eingesetzte Studienkommission für Strategische Fragen hat am 26. Februar ihren Schlussbericht zur zukünftigen Sicherheitspolitik vorgelegt. Von den 40 Mitgliedern des Gremiums unter dem Vorsitz von Alt-Botschafter Edouard Brunner hat nur ein einziges, nämlich Nationalrat Christoph Blocher (SVP, Herrliberg), dem Bericht nicht zugestimmt. Seine Gegenargumente hat Blocher kürzlich in einer ausführlichen Studie veröffentlicht. Im folgenden Gespräch begründet er seinen ablehnenden Standpunkt.

Interview: Sebastian Leicht

Der Bericht Brunner ist Ihrer Ansicht nach überhaupt nicht zukunftsbezogen. Worin äussert sich das?

Christoph Blocher: Der Bericht Brunner geht von der ersten Hälfte der neunziger Jahre aus. Nach dem Fall der Mauer herrschte viel Idealismus. Er hat es versäumt, die damaligen Machtkonstellationen genau zu untersuchen, und gelangt deshalb zu einem Konzept, das für den Moment vielleicht zwar richtig war, aber nicht für die nächsten 30 Jahre.

Sie sagen nein zu einer “naiven” Sicherheitspolitik, zu “Wichtigtuerei” und “Grossmannssucht”. Könnten Sie dafür Beispiele geben?

Blocher: Zuerst ein Beispiel zur “Naivität”. Als die Schweiz Mitglied von Partnerschaft für den Frieden wurde, sagte mir der EMD-(heute: VBS-)Vorsteher: “Ich kann doch nicht gegen eine Organisation sein, die für den Frieden eintritt.” Das ist naiv. Denn jede militärische Konstellation spricht vom Frieden. Und Partnerschaft für den Frieden ist eine amerikanische Konstruktion mit den Ländern, die nicht in die Nato eintreten können oder wollen. Damit bezwecken die Amerikaner eine Einbindung dieser Staaten in ein Bündnis, das letztlich ihrer eigenen Interessenwahrung dient. Ich bin nicht gegen die Amerikaner, aber es ist naiv, wenn man sagt, die sind für den Frieden, nur weil im Namen der Begriff Frieden vorkommt. Und nun zur “Grossmannssucht”. Die Schweiz ist ein Kleinstaat. Militärs haben immer den Drang zu grossen Konstruktionen. Und sie glauben dann, auf der ganzen Welt Einfluss nehmen zu können. Das ist Grossmannssucht eines Kleinstaats. Wir müssen uns bescheiden sagen, für das Stück Land, das wir haben, wollen wir selber sorgen. Und das ist schon sehr anspruchsvoll.

Sie zitieren in Ihrer Studie den Amerikaner Donald Kagan mit den Worten: “Nur eines ist häufiger als die Ankündigung vom Ende des Krieges: der Krieg selbst.” Zweifeln Sie an der Fähigkeit internationaler Organisationen wie etwa der Nato, den Frieden zu erhalten?

Blocher: Dass nach dem Zweiten Weltkrieg der Frieden Bestand hatte, beruht in erster Linie auf dem “Gleichgewicht des Schreckens”. Wenn der Osten drohte, musste der Westen ein Gegengewicht schaffen. Ich bin gewiss kein Gegner der Nato. Aber heute hat die Organisation eine andere Funktion. Sie ist ein Instrument, um weltweit die (amerikanischen) Interessen zu wahren, und sie steht voll und ganz unter amerikanischer Schirmherrschaft. Ich kritisiere die Nato nicht, aber es wäre falsch, wenn die Schweiz ihr beitreten würde. Der Frieden ist eben mehr als kein Krieg.

Sie betonen zu Recht, dass sich die Geschichte nicht wiederhole. Hingegen befürchten Sie neue Varianten von kriegerischen Auseinandersetzungen. Womit muss in Zukunft in der Schweiz gerechnet werden?

Blocher: Im Moment sehe ich keinen Staat, der die Freiheit und Unabhängigkeit der Schweiz mit Waffengewalt bedroht. Aber es gibt ganz neue Formen. Etwa die Globalisierung, die nicht nur die Durchlässigkeit der Grenzen für Waren und Güter ermöglicht, sondern auch den Informationsfluss fördert. Lokale Konflikte können zu grossen Konflikten werden. Ich erinnere etwa an die “Schurkenstaaten” – der Irak ist ein typisches Beispiel. Dann gibt es heute anspruchsvolle Formen der Kriegführung wie den Informationskrieg (elektronische Kriegführung, Ausfall der Computer etc.). Ich erwähne im weiteren bürgerkriegsähnliche Wirren, die vor allem durch Migration begünstigt werden. Auf diesen sogenannten primitiven Krieg sind wir relativ schlecht vorbereitet. Schliesslich wären die möglichen Massenvernichtungswaffen – biologische Waffen etwa – zu nennen. Deshalb muss eine neue Armee gegen diese Bedrohungen eingesetzt werden können. Das braucht auf der einen Seite eine relativ kleine, hoch technisierte Armee, was den Informationskrieg anbelangt, und es bedingt anderseits eine Milizarmee mit grossen Beständen für den akuten Fall. Und nicht vergessen werden darf der Schutz der Zivilbevölkerung.

In der Nato geht es, wie Sie sagten, nicht mehr in erster Linie um die gemeinsame Verteidigung Europas, sondern um die Verteidigung gemeinsamer Interessen unter amerikanischer Führung. Diese “pax americana” ist Ihnen offensichtlich nicht ganz geheuer. Warum?

Blocher: Man muss sehen, dass Amerika für die nächste Zeit die einzige Weltmacht ist, wenn sie auch nicht unangefochten bleiben wird. Aber es ist völlig klar: Amerika verteidigt seine ureigenen Interessen. Es ist das Recht und die Pflicht eines Staates, dies zu tun. Ein Kleinstaat muss jedoch darauf achten, dass er nicht von einer solchen Macht abhängig wird, obwohl wir etwa während des kalten Krieges den Amerikanern gewiss näher standen als den Russen.

Sie sind davon überzeugt, dass die Welt wieder in den überwunden geglaubten Zustand der Kanonenbootdiplomatie zurückgefallen ist. Eine Einbindung in supranationale Organisationen wie Nato oder EU sei aber nicht zu empfehlen, weil man sonst in “fremde Händel” hineingezogen werde. Welche Folgerungen für unsere Sicherheitspolitik ziehen Sie daraus?

Blocher: Ich habe eine grundsätzliche Skepsis gegenüber Grossorganisationen. In der Regel ist die Fassade solcher Gebilde eindrücklicher als das, was sich dahinter verbirgt. Das gilt übrigens auch für die Wirtschaft. Natürlich kann es verteidigungs-politisch von Vorteil sein, einem Militärbündnis anzugehören, weil wir annehmen dürfen, dass uns die andern im Falle eines Angriffs helfen. Dafür wird aber die Gefahr, dass man in Auseinandersetzungen hineingezogen wird, grösser. Darum hat die Schweiz immer einen anderen Weg gewählt. Nämlich: Dafür sorgen, dass man nicht in Auseinandersetzungen hineingezogen wird, indem man nicht Partei ergreift. Das heisst Neutralität. Für diese Konzeption nämlich dass Stillesitzen (Neutralität) einen grösseren Schutz für einen Kleinstaat gewährt als ein Bündnis spricht zumindest die Erfahrung: Es gibt kein Land, das es fertig gebracht hat, 200 Jahre lang keinen Krieg zu haben, obwohl dieser Staat sich mitten in den blutigsten Auseinandersetzungen befand. Und ich glaube, gerade gegen mögliche moderne Kriege ist Neutralität von allergrösster Bedeutung.

Die humanitäre Intervention ist Ihrer Ansicht nach ein Widerspruch in sich selbst. Sie zitieren in Ihrer Studie Günther Gillessen, der kurz und bündig sagt: “Wer schiesst, wird automatisch Partei.” Was heisst das für die schweizerische Sicherheitspolitik?

Blocher: In der amerikanischen strategischen Literatur wird heute sachlich festgehalten, entweder handle es sich um bewaffnete Intervention und damit Parteinahme oder um einen humanitären Einsatz, also Hilfe. Eine Verbindung von beidem ist unmöglich. Das weiss die Schweiz schon lange. Das Rote Kreuz basiert erstens auf der Nicht-Bewaffnung und zweitens auf der strengen Neutralität. Man leistet Hilfe ungeachtet der Herkunft des Hilfesuchenden. Und glaubwürdig sind Sie nur, wenn Sie unbewaffnet sind. Das heisst für mich, für derartige Einsätze im Ausland kommen nur zwei Organisationen in Frage, nämlich einerseits das Rote Kreuz und anderseits ein (ausgebautes) Katastrophenhilfekorps. Und wenn der Einsatz gefährdet erscheint, muss man sich entweder unter den Schutz von Interventionstruppen begeben oder sich zurückziehen. Nachzulesen, wie gesagt, in der aktuellen amerikanischen strategischen Literatur.

Sie machen einen Unterschied zwischen der Neutralität, wie sie im Zweiten Weltkrieg und während der Zeit des kalten Krieges Sinn machte, und einer “Neutralität von morgen”. Wie müsste denn Neutralität am Ende dieses Jahrhunderts gehandhabt werden, um als diplomatisches Mittel wirksam zu sein?

Blocher:
Was heisst denn eigentlich Neutralität? Neutralität bedeutet, sich draussen zu halten aus internationalen Konflikten. Im Zweiten Weltkrieg standen wir zwischen den beiden Kriegsparteien. Solche Machtblöcke existieren heute in dieser Form nicht mehr. Sich draussen halten aber gilt nach wie vor. Und das “dauernd neutral sein” ist von allergrösster Bedeutung. Sonst werden Sie nämlich zum Opportunisten und können die Neutralität nicht mehr als diplomatisches Mittel einsetzen. Wenn ein Staat nur dann neutral ist, wenn es ihm gerade nützt, dann ist er nicht mehr glaubwürdig. Eine dauernde Neutralität ist auch heute noch von Bedeutung. Ich nehme das Beispiel Irak. Wenn wir uns nicht in die Front gegen Sadam Hussein einreihen, heisst das doch nichts anderes, als dass es noch einen gibt, der ausserhalb steht und seine guten Dienste anbietet sowie humanitäre Hilfe leistet und dabei glaubwürdig ist. Und das ist ein modernes Verständnis von Neutralität, auch wenn die Mächtekonstellation heute eine andere ist. Der Grundsatz hingegen ist alt und bewährt. Es gab im Übrigen immer Zeiten, in denen führende Kreise in diesem Lande die Neutralität abgelehnt haben. Sie sind schneller bereit, die Neutralität abzuschaffen, als das Volk, weil dieses vor der jeweiligen internationalen Mächtekonstellation logischerweise mehr Angst hat als jene Kreise.

Worin sehen Sie selbst den Sinn ihres Beitrags an die Diskussion über die schweizerische Sicherheitspolitik der Zukunft?

Blocher: Selbstverständlich ist es nicht damit getan, zu sagen, dieses oder jenes Resultat kann ich nicht akzeptieren. Vielmehr muss ich sagen, welchen Schlussfolgerungen ich zustimmen kann. Meine Studie sagt ja zu einer Sicherheitspolitik, welche die Werte unseres Landes zu schützen vermag und glaubwürdig ist. Hingegen sagt sie nein zu einer abenteuerlichen Sicherheitspolitik. Wenn Sie auf der Linie der Kommissionsmehrheit liegen, brauchen Sie es nicht zu begründen. Wenn Sie aber einen gegenteiligen Standpunkt einnehmen, müssen Sie ihn sehr wohl erläutern. Im Übrigen ist es der Sache auch nicht förderlich, wenn sozusagen eine Einheitsmeinung vorherrscht. Denn die Demokratie lebt ja vom Austausch der Argumente, von der Diskussion verschiedener Sichtweisen. Und schliesslich: Wieviel Unheil ist im Laufe der Geschichte angerichtet worden, weil sehr viele Menschen einfach kritiklos einer Sache hinterher gerannt sind und zu wenige hingestanden sind und eine gegenteilige Meinung vertreten haben! Eine Meinung ist auch dann wertvoll, wenn sie nicht ganz richtig sein sollte.

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