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28.07.2012
Interview im Tages-Anzeiger vom 28. Juli 2012 mit Iwan Städler
Frau Martullo, was ist das Wertvollste, das Sie von Ihrem Vater geerbt haben?
Martullo: Sicher unser Unternehmen, die Ems-Chemie. Auch wenn wir Kinder ja nur einen kleinen Teil erbten und uns für den Rest verschulden mussten, ist es schon einmalig, wenn man eine solch innovative Firma übernehmen kann.
Und vom Materiellen abgesehen? Um welche vererbten Eigenschaften sind Sie besonders dankbar?
Martullo: Das Unternehmerische. Ob über die Gene oder in der Erziehung – irgendwie haben wir es alle vier Geschwister mitbekommen.
Haben Sie auch Dinge geerbt, die eher mühsam sind?
Martullo: Mühsam sind die Journalisten mit ihrer Christoph-Blocher-Manie und ihren Vorurteilen.
Welchen Vorurteilen denn?
Martullo: Wir seien engstirnig und konservativ. Dabei sind wir gerade unkonventionell und deshalb oft auch innovativ und offen. Wir trauen uns, das Bestehende zu hinterfragen und denken heute schon an die Zukunft.
Blocher: Ich habe nie darauf hingearbeitet, dass die Kinder dem Vater folgen. Man muss sie sich frei entwickeln lassen. Bis jetzt ist es bei allen gut gekommen, was aber nicht heisst, dass sie nicht darunter leiden, einen bekannten Vater zu haben.
Wie war es als Kind, Blocher zu heissen?
Martullo: Von den anderen Kindern gab es immer wieder blöde Sprüche. Dahinter stecken ja meist die Eltern.
Blocher: Am ersten Kindergartentag eines meiner Enkelkinder sagten alle Eltern: «Schau mal, das ist jetzt Blochers Enkel». Darauf konterte er: «Dann heisse ich jetzt eben Christoph Blocher». Gut gemacht! Man muss es mit Humor nehmen.
Martullo: Mein Sohn ist acht Jahre alt und hat für seinen ersten kleinen Vortrag in der Schule das Thema Ems-Chemie gewählt. Das hat mich überrascht. Bis jetzt hatte er noch nicht viel mit der Firma zu tun. Lediglich an unserer Generalversammlung müssen er und seine ältere Schwester jeweils teilnehmen.
Müssen?
Martullo: Ja, das ist eine Pflicht für sie. Wobei die Generalversammlung bei uns eher einem grossen Volksfest gleicht. Mitarbeiter demonstrieren neue Entwicklungen, junge Musiker treten auf und bei den rund 1’500 Anwesenden herrscht Feststimmung.
Blocher: Die Kinder nehmen mehr auf, als man denkt. Das war auch bei meinen Kindern so. Ich bin immer wieder erstaunt, wie viel Magdalena ähnlich macht wie ich seinerzeit. Zum Beispiel, dass sie in der Silvesternacht ins Werk in Domat/Ems geht, um dort den Schichtarbeitern ein gutes neues Jahr zu wünschen. Das zeigt die Einstellung, welche die Kinder wohl unbewusst übernommen haben: Man lebt fürs Unternehmen, nicht in erster Linie vom Unternehmen.
Wie haben Sie, Frau Martullo, Ihren Vater als Kind erlebt? Fanden Sie, er sei zu wenig zu Hause?
Martullo: Nein, diesen Eindruck hatte ich nie. Dies hilft mir natürlich heute bezüglich meiner eigenen Kinder. Wie mein Vater früher, verbringe auch ich die Wochenenden vor allem mit der Familie.
Und wie haben Sie Ihren Vater erlebt?
Martullo: Ganz anders als in den Medien dargestellt.
Welche Facetten sind in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt?
Martullo: Zum Beispiel sein Humor.
Blocher: Den verträgt es im Privaten eben besser als in der Politik. (lacht) Viele Politiker haben ja keinen Humor.
Martullo: Er kann es auch sehr gut mit Kindern, erzählt theatralisch Geschichten und bringt sie zum Lachen. Er ist stets die grosse Attraktion.
Sie sollen an Familienfesten auch gezaubert haben, Herr Blocher?
Blocher: Ja, das stimmt. Aber es war stets derselbe Trick: Ich zauberte Gummibänder von einem Ort zum andern. Ich musste die Kinder bloss genügend ablenken.
Ihnen selbst hat ein Zauberer später einmal die Krawatte vom Hemd weg gezaubert.
Blocher: Ja, dieser Zauberer war der Bessere! (lacht) Er klaute anderen Portemonnaies und Kugelschreiber. Da dachte ich, das passiert mir bestimmt nicht, und konzentrierte mich stets auf diese Gegenstände. Bis er mich darauf aufmerksam machte, dass meine Krawatte fehlte. Das war hohe Klasse. Aber das Prinzip beim Zaubern ist immer dasselbe: Man muss darauf achten, dass alle in die andere Richtung schauen. Auch in der Politik wird das oft so gehandhabt.
Sie haben politische Reden vor Ihren Kindern geprobt. Warum?
Blocher: Weil ich immer schon so sprechen wollte, dass mich die Leute verstehen. Wenn die Kinder mich nicht verstanden, mussten sie aufstrecken. Dadurch merkte ich, wo ich mich zu wenig einfach ausdrückte.
Besonders exponiert haben Sie sich 1992 durch Ihr Engagement gegen den EWR. Wie haben Sie, Frau Martullo, dies als Tochter erlebt?
Martullo: Ich studierte damals an der Hochschule St. Gallen, wo alle Professoren und Studenten der EU-Euphorie erlagen. Besonders schlimm wurden die Anfeindungen nach der EWR-Abstimmung. Da wurde ich wirklich schlecht behandelt. Man sah unsere Familie als Verräter an der europäischen Vision. Selbst im Hörsaal fielen von den Professoren wüste Töne. Aufgrund meiner Herkunft wollte man mich gar nicht in die Studentenverbindung eintreten lassen, was durch eine Sonderabstimmung aber korrigiert wurde.
Blocher: Das war eine enorm intensive Zeit. Otto Fischer und ich kämpften ja anfänglich ganz alleine gegen die Classe politique und die Medien. Ein Jahr vor der Abstimmung stellten wir fest, dass wir persönlich an die Leute gelangen müssen und hielten jeder jeden Tag mindestens einen Vortrag. Das Interesse und der Andrang waren riesig. Aber die Belastung natürlich auch. In der Folge hatte ich am Abstimmungssonntag einen Nervenzusammenbruch und zog mich daraufhin für mehrere Wochen zurück. Ich musste sogar Medikamente nehmen. Noch schlimmer erging es dem herzkranken Otto Fischer, der eigentlich längst ins Spital hätte gehen sollen. Doch er kämpfte weiter. In den letzten fünf Wochen vor der Abstimmung konnte er nicht mehr liegen, sondern stand jeweils an die Wand, um zu schlafen! Kurz, nachdem die Schweizer Nein sagten zum EWR-Beitritt, verstarb er.
Sie sagten einmal, Sie hätten nebst der Politik und dem Unternehmen keine Zeit für Ferien gehabt und deshalb Ihre Familie einfach auf Geschäftsreisen mitgenommen. Wie war das?
Blocher: Interessant. Als China sich öffnete, reisten wir schon anfangs der 80er Jahre in die abgelegensten Orte des noch geschlossenen Chinas. Meine Frau und die vier Kinder (die jüngste neun Jahre alt!). Die neue Regierung wollte damals vor allem die unterentwickelten Gebiete entwickeln. Also reisten wir dorthin.
Martullo: Es gab kein fliessendes Wasser und keinen Strom. Die Autos mussten wir importieren.
Blocher: Meine Frau und die Kinder hatten leider noch monatelang danach Magenbeschwerden. Aber es waren Erlebnisse, die geblieben sind.
Nehmen Sie Ihre Kinder auch mit auf Geschäftsreisen, Frau Martullo?
Martullo: Bis jetzt nicht, aber sie bestürmen mich immer. Vor allem China interessiert sie sehr.
Ihre Mutter gab ihren Beruf als Lehrerin auf, um die Kinder aufzuziehen. Sie selbst sind beruflich voll engagiert, während vor allem Ihr Mann und eine Nanny zu den Kindern sehen. Was ist besser?
Martullo: Da gibt es keine allgemeingültige Regel. Das muss jede Familie für sich entscheiden. Für mich war immer klar, dass ich weiterarbeiten möchte. Als Hausfrau und Mutter wäre ich nicht geeignet. Mir fällt die Decke schnell auf den Kopf. Das sagte ich meinem Mann auch als erstes, als wir uns kennenlernten.
Ihr Vater hat Sie gleich zweimal während einer Schwangerschaft ins kalte Wasser geworfen: Beim ersten Kind mussten Sie Ems-Dottikon in einer Krisensituation übernehmen. Während Ihrer zweiten Schwangerschaft wurde Christoph Blocher in den Bundesrat gewählt, worauf Sie alleinige Chefin der ganzen Ems-Gruppe wurden. Wie gingen Sie damit um?
Martullo: Man arrangiert sich eben. Mir war es wichtig, nach dem Ausscheiden meines Vaters Präsenz zu zeigen. Alle drei Schwangerschaften waren medizinisch kritisch. Beim dritten Kind stellten die Ärzte gar die Prognose, es werde nicht überleben. Zum Glück kam aber alles gut und wir haben drei fröhliche gesunde Kinder. Dafür sind wir dankbar, das ist nicht selbstverständlich.
Blocher: Als wir eine etwaige Wahl in den Bundesrat und die Übernahme besprachen, machte sie mich drauf aufmerksam, dass sie in drei Monaten das zweite Kind erwarte. Ich sagte: Das macht doch dem Kindchen nichts.
Martullo: Am Freitag hielt ich meine erste Medienkonferenz ab und am Montag darauf gebar ich unseren Sohn. Wenn es nötig ist, ist viel möglich.
Herr Blocher, Sie schenkten Ihren Kindern die Ems-Aktien nur zu einem Drittel. Für den Rest mussten sie sich verschulden. Warum?
Blocher: So mussten sie vom ersten Tag an darauf achten, dass das Unternehmen rentiert. Das Dümmste, was man machen kann, ist jemandem ein Unternehmen zu schenken. Da besteht die Gefahr, dass sich der Beschenkte zurücklehnt und dann nur noch vom statt für das Unternehmen lebt.
Bei Ihrer Tochter hat es offenbar funktioniert. Sie hat den Gewinn und den Aktienkurs im Vergleich zu Ihrer Zeit massiv gesteigert. Was macht sie besser als Sie?
Blocher: Magdalena macht es sicher sehr gut, wie die anderen Kinder übrigens auch. Sie machen vieles besser als ich. Sie sind ja auch besser ausgebildet und kennen sich mit der modernen Kommunikation aus.
Martullo: Ich habe auch mehr Zeit als du. Du hattest immer noch die Politik.
Wer würde die Ems übernehmen, wenn Ihnen etwas zustossen würde?
Martullo: Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich Ihnen das jetzt mitteile, oder? Dieser Fall ist bei uns aber selbstverständlich vorbereitet.
Ihr Vater hat ja einmal gesagt, er wäre als Bundesrat zurückgetreten, um bei der Ems einzuspringen, wenn es nicht gut gelaufen wäre.
Blocher: Das stimmt. Aus Verantwortung dem Unternehmen gegenüber. Peter Bodenmann ist ja auch aus der Walliser Regierung ausgetreten, als sein Hotel-Projekt in Schwierigkeiten geriet. Nur hat er dann einem primitiven Brief der CVP die Schuld gegeben. Ich glaube, ich wäre in einem solchen Fall zum Rücktrittsgrund gestanden.
An einer Medienkonferenz der Ems haben Sie, Frau Martullo, die chinesische Regierung als «die kompetenteste Exekutive der Welt» bezeichnet. Muss man sich in China so einschmeicheln oder meinen Sie das im Ernst?
Martullo: Ich sagte dies nicht für die Chinesen, sondern für die Schweizer. Meine Beurteilung bezieht sich nur auf die Wirtschaftspolitik. Diesbezüglich agiert die chinesische Regierung wirklich äusserst kompetent – vor allem wenn man sie zum Beispiel mit europäischen Regierungen vergleicht. Letztere wollen ja in erster Linie sich selber profilieren und handeln nicht aus Verantwortung für ihr Land. Ungeliebte Probleme gehen sie deshalb oft nicht an. Die chinesische Regierung hingegen denkt und handelt sehr fundiert, professionell und sehr langfristig ausgerichtet. Der Erfolg gibt ihr recht.
Finden Sie nicht, in China gebe es etwas gar wenig Demokratie und Menschenrechte?
Martullo: Man kann China diesbezüglich natürlich nicht mit der Schweiz vergleichen. Aber was nützt Europa deren Demokratie: Da werden den Leuten Leistungen versprochen, die nicht bezahlbar sind. Das Volk wird hinters Licht geführt. Der Chinese ist in wirtschaftlicher Hinsicht heute besser bedient, die Regierung orientiert sich nämlich an seinem langfristigen Wohlergehen.
Und wo stehen Sie selbst politisch? Wählen Sie stets SVP?
Martullo: Ja, je länger je exklusiver.
Parteimitglied sind Sie aber nicht?
Martullo: Nein.
Blocher: Ich begreife das. Meine Kinder denken in den Grundsätzen gleich: Sie sind für eine freiheitliche und unabhängige Schweiz. Aber sie engagieren sich parteipolitisch nicht. Das wäre für sie auch schwierig, weil man sie nicht als eigenständige Personen wahrnehmen würde, sondern immer als Kinder von Christoph Blocher.
Könnten Sie, Frau Martullo, sich vorstellen, irgendwann wie Ihr Vater in die Politik einzusteigen?
Martullo: In gleichem Ausmass? Nein.
Ihr Nein zum Einstieg in die Politik scheint aber nicht definitiv zu sein. Jedenfalls hängten Sie auch schon den Nachsatz an: «Ausser ich muss.» Wie darf man dies verstehen?
Martullo: Wenn es für die Schweiz notwendig und sinnvoll ist. Ich müsste schon eine gewisse Zuversicht haben, etwas zum Vorteil der Schweiz bewegen zu können.
Herr Blocher, hätte Ihre Tochter das Zeug zur Politikerin?
Blocher: Sie hat sicher eine starke Meinung und eine gute Grundhaltung – und auch Durchsetzungsvermögen. Sie führt aber bereits ein grosses, internationales Unternehmen und hat eine noch junge Familie. Ich kann nachvollziehen, dass es sie zur Zeit nicht in die Politik zieht. Kommt dazu, dass die eidgenössischen Räte derart bürokratisch geworden sind, dass ich mich selbst manchmal frage, was ich dort noch bewirken kann.
War es ein Fehler, nach 24 Jahren Nationalrat und 4 Jahren Bundesrat nochmals ins Parlament zurückzukehren?
Blocher: Ich weiss es noch nicht. Aber ich merke, dass der Anteil an Berufspolitikern nochmals massiv zugenommen hat. Heute sind diese in der Mehrheit, was auch mit den zu hohen Entschädigungen zu tun hat. Nun geht es im Nationalrat steriler zu und her.
Aber die Legislatur machen Sie noch fertig?
Blocher: Ja, ja, selbstverständlich.
Sie fürchten offenbar den sogenannten Blair-Effekt. Was verstehen Sie darunter?
Blocher: Plötzlich hat man genug von Politikern, die lange etwas zu sagen hatten – vor allem auch in den eigenen Reihen. Tony Blair machte eigentlich nichts Schlechtes. Allein wegen des Irakeinsatzes musste er nicht gehen. Man hatte einfach genug von ihm, wollte einen Wechsel.
Das könnte Ihnen auch passieren?
Blocher: Natürlich. Aber vielleicht gehe ich vorher. Ich politisiere ja nicht für mich, sondern für die Schweiz. Damit sie gesund bleibt.
Sie haben einen Auftrag?
Blocher: Ja.
Von wem denn?
Blocher: Von den Wählern.
Aber diese haben Sie ja nicht gezwungen zu kandidieren. Irgend etwas treibt Sie an. Was?
Blocher: Natürlich habe ich eine eigene Verpflichtung für die Schweiz. Ich sehe: Ich bin noch einer der wenigen, die unabhängig politisieren können. Ich bin weder vom Staat, der Presse, noch von einem Amt abhängig. Wer ausser mir hätte sonst erfolgreich gegen den Blender Philipp Hildebrand vorgehen können? Niemand. Da sage ich mir: Wenn du schon diesen Vorteil hast, musst du ihn auch nutzen.
Gott spielt da keine Rolle?
Blocher: Sie und ich stehen beide unter der Gnade Gottes. Ich habe ein gesundes Gottvertrauen. Aber ich bin kein Frömmler. Ich versuche einfach, das Richtige zu tun.
ZUM ORT
Christoph Blocher und seine Tochter Magdalena Martullo-Blocher wählten für dieses Gespräch die Büros der EMS-Gruppenleitung in Herrliberg. Sie befinden sich direkt unterhalb der Villa von Christoph Blocher und sind heute Magdalena Martullos Arbeitsort. Vor seiner Wahl in den Bundesrat wirkte hier Christoph Blocher als Konzernchef der Ems-Chemie. Um keine Zeit mehr fürs Pendeln zu verlieren, hatte er sein Büro von Zürich nach Herrliberg gezügelt. Das war 2001. „Zwei Jahre später arbeitete ich dann in Bern“, scherzt Blocher. Seine Tochter übernahm mit der EMS-CHEMIE auch die repräsentativen Räumlichkeiten an der Zürcher Goldküste mit Blick bis in die Berner Alpen - und behielt sie auch nach Christoph Blochers Abwahl als Bundesrat. Er selber bezog bescheidenere Büros in Männedorf. (is.)
11.05.2012
Zitate von Herr Dr. Blocher für ein Interview mit der Handelszeitung
…
Im Verlauf des Tages war durch eine Indiskretion bekannt geworden, dass der Bundesrat an einer Sitzung beschlossen hatte, bei der Europäischen Union (EU) ein Gesuch um die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zu stellen. Christoph Blocher: «Damit hat die Landesregierung offen ausgesprochen , dass der Beitritt zum EWR nur ein erster Schritt auf dem Weg zur EG-Mitgliedschaft sein könnte. Otto Fischer und ich sahen plötzlich eine geringe Chance, dass Volk und Kantone den EWR-Beitritt ablehnen könnten».
….
Unbestritten ist, dass der EWR/EU-Beitritt den Aufstieg der SVP in den 1990er Jahren massiv gefördert hat. «Damit war klar: Man hatte über die Unabhängigkeit unseres Landes abzustimmen », sagt Christoph Blocher. Nur wie ist die Rekordstimmbeteiligung vom 6. Dezember 1992 zu erklären. Mit ihrem Widerstand sei es der SVP gelungen, sich gerade in den konservativen Kantonen der Innerschweiz und der Ostschweiz, wo sie bis dahin praktisch nicht existent war, als die Partei zu profilieren, «welche für die Erhaltung der schweizerischen Souveränität kämpft».
02.01.2012
Neujahrsanlass vom 2. Januar 2012 in Niederglatt
Meine sehr verehrten Damen und Herren
Liebe Frauen und Männer
I. Einleitung
Wir versammeln uns hier im Zürcher Unterland am "Bächtelistag" des Jahres 2012, um "Zürcher Persönlichkeiten" zu würdigen, die längst nicht mehr unter uns weilen.
Das mag vielen Zeitgenossen eigenartig vorkommen.
Tatsächlich, alle drei Persönlichkeiten – Alfred Escher (der Architekt der modernen Schweiz), Gottfried Keller (der bedeutendste Schweizer Dichter) und Rudolf Koller (der Künstler des schweizerischen Nationaltiers – der Kuh) sind vor über hundert Jahren gestorben.
Alle drei sind "grosse Zürcher Persönlichkeiten", nicht des 21. Jahrhunderts, sondern des 19. Jahrhunderts. Trotzdem: Sie sollen heute gewürdigt und "ihre Bedeutung für die Schweiz" aufgezeigt werden.
Allein, dass wir dies tun, beweist, dass es sich um besondere Menschen handelt. Wer würde sonst von ihnen reden?
Denn die Zeit trennt das Wichtige vom Unwichtigen, das Bleibende vom Vergänglichen, das Wertvolle vom Wertlosen, das Werk von der Betriebsamkeit.
In einer Zeit, in der der Mensch – wie der gegenwärtige Blick in die Welt und in die Vorgänge in Europa zeigt – das gross Angelegte, das abstrakt Konstruierte, das Grenzenlose, Unübersichtliche anstrebt, ist die Suche nach dem Allgemeingültigen und Dauerhaften von besonderer Bedeutung.
Die Erkenntnis zeigt, dass es halt doch Persönlichkeiten und nicht Systeme sind, die das Wesen der Welt ausmachen.
zum Video
10.12.2011
Ansprache von a. Bundesrat Christoph Blocher anlässlich der Delegiertenversammlung vom 10. Dezember 2011 in der Kaserne von Chamblon (VD)
Herr Präsident
Herr Bundesrat
chers amis de la Suisse romande
cari amici della Svizzera italiana
meine Damen und Herren
In vier Tagen wird unsere Landesregierung neu gewählt. Die Frage lautet: Gilt die Konkordanz oder soll eine Koalition von Gleichgesinnten regieren?
I. Die SVP und die Konkordanz
In der Konkordanz regieren mehrere Parteien zusammen - sinnvollerweise die grössten. Nicht weil sie gleicher, sondern obwohl sie verschiedener Meinung sind. Sie haben nur etwas gemeinsam: Sie sind die Wählerstärksten. Für die Landesregierung hiess dies bisher: Die drei grössten Parteien sind mit je zwei Sitzen, und die kleinste Partei mit einem Sitz in der Regierung vertreten. Das galt zumindest solange, als die SVP die kleinste Partei war. Nachher waren der Ausreden viele, um die SVP ganz oder teilweise aus der Regierung auszuschliessen. Sie predigten Wasser und tranken Wein!
II. Am 14. Dezember 2011 geht es um die Konkordanz
Die Konkordanz garantiert eine gewisse Stabilität. Darum hat sich die SVP stets vorbehaltlos hinter die Konkordanz gestellt. Mit der „Zauberformel“ – 2:2:2:1 – sind etwa 75 Prozent der Wählerinnen und Wähler im Bundesrat vertreten.
Das ist anspruchsvoll: Jeder Bundesrat trägt die Grundsätze seiner Partei und ihrer Wähler ins Regierungsgremium. Hier treffen die verschiedenen Ansichten aufeinander. Und hier muss nun ein tragfähiger Kompromiss erstritten, erkämpft und erlitten werden.
Was heisst das für die SVP? Erstens hat man den Gegner ernst zu nehmen, indem man sich mit ihm streitet. Es ist kein billiges Anbiedern.
Die SVP setzt sich auch in der Regierung ein für Freiheit, für eine unabhängige Schweiz, für die Volksrechte, die dauernd bewaffnete Neutralität und die Sicherung der Wohlfahrt. Sie muss auch bereit sein, sogar mit einer SP notfalls einen Kompromiss einzugehen. Die Konkordanz verlangt, dass die SVP notabene mit einer SP regiert, die in ihrem neuesten Programm genau das Gegenteil von der SVP darstellt.
Die SP strebt eine in die EU eingebundene Schweiz an, sie tritt ein für die Abschaffung der Landesverteidigung und für die Überwindung des Kapitalismus – d.h. für den real existierenden Sozialismus. Die SVP weiss, dass in der Geschichte Wirtschaftstotenstille, Hunger, Elend, Massenelend, Blutvergiessen und Millionen von Ermordeten, Verdrängten und Vertriebenen zur Diktatur geführt haben. Nein, wir regieren nicht mit der SP, weil uns dieses Programm begeistern könnte. Aber wir akzeptieren die SP, die mit 18,5 Prozent Wähleranteil die zweitgrösste Partei ist, und daher zwei Sitze zu gut hat.
Allerdings kann diese Bereitschaft der SVP nur dann gelten, wenn auch die SP bereit ist, der SVP – der mit 26,6 Prozent grössten Partei – zwei Sitze zuzugestehen. In der Konkordanz müssen alle involvierten Parteien diese mittragen – und zwar nicht nur verbal.
Darum, meine Damen und Herren, gilt: Am 14. Dezember 2011 geht es um die Konkordanz.
Wird der SVP der zweite Sitz zugunsten der 5,4-Prozent-Partei BDP verweigert, ist die Konkordanz gebrochen. Dies hat unabsehbare Folgen.
III. Wo steht die SVP?
Die Entscheidung fällt in der Wahl um den zweiten Bundesratssitz. Eine Vertreterin einer 5,4-Prozent-Partei hat keinen Platz in der Konkordanz. Wird die SVP als stärkste Partei in ihrem Anspruch auf einen zweiten Sitz nicht berücksichtigt, ist DIE KONKORDANZ GEBROCHEN! Dann gelten dann sofort keine Regeln und Abmachungen mehr.
26,6 Prozent der Wähler haben SVP gewählt, mehr als ein Viertel.
Die SVP ist mit dem drittbesten Resultat in ihrer 92-jährigen Geschichte aus den Wahlen hervorgegangen! Die Partei hat erstmals 1919 an den eidgenössischen Wahlen teilgenommen. Das Jahr 1919 war auch das erste Jahr der Proporzwahlen.
2011 hat die SP mit dem zweitschlechtesten Resultat in ihrer Geschichte abgeschlossen!
Und die CVP und FDP liegen auf dem historischen Tiefpunkt!
Meine Damen und Herren, wer ist hier die Verliererpartei?
IV. Der Auftrag der SVP
Die SVP hat vor den Wahlen dem Schweizervolk ein klares Programm und einen Vertrag mit dem Volk vorgelegt – 26,6 Prozent der Wähler haben sich dafür ausgesprochen und damit der SVP einen klaren Auftrag erteilt.
Am Anfang der Bundesverfassung steht geschrieben:
„Die Schweizerische Eidgenossenschaft schützt die Freiheit und die Rechte des Volkes und wahrt die Unabhängigkeit und Sicherheit des Landes.“
Meine Damen und Herren:
Freiheit
Volksrechte
Unabhängigkeit
Sicherheit
Genau dies ist das Parteiprogramm der SVP!
Die Verwirklichung dieser Ziele ist für die Schweiz existenziell.
Schauen Sie hinaus in die Welt! Die Schuldenpolitik ist das Resultat globalen Grössenwahns. Es ist eine Politik ohne die Grundsäulen Freiheit, Volksrechte, Unabhängigkeit, Sicherheit! Meine Damen und Herren, wir stehen vor einer der grössten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg!
Es drohen Unsicherheit und Wirtschaftniedergang mit Arbeitslosigkeit! Es gilt, diesen Gefahren entschlossen entgegenzuwirken. Es gilt, die bewährten Grundsäulen unseres Landes nicht zu verlassen. Bürger und Wirtschaft sind zu stärken. Ist es da sinnvoll, die grösste Partei aus der Regierung auszuschliessen?
V. Tadel als grösstes Lob
Es mag Leute unter Ihnen geben, die unter all den schadenfreudigen Meldungen und Falschmeldungen der Monopolmedien Fernsehen und Radio, sowie der Main-stream-Medien leiden. Doch, meine Damen und Herren, gönnen Sie doch unseren Gegnern die Schadenfreude, dass die SVP nach 20-jährigem Dauererfolg am 23. Oktober 2011 etwas zurückgefallen ist.
Wer kann denn ein Lob erwarten von all denen, die sich schon lange von der Schweiz verabschiedet haben? Von all jenen,
die uns Richtung EU treiben,
die dem Druck aus der EU und den USA leichtfertig nachgeben,
die die Schweizer Wirtschaft verregulieren und zu Tode verbürokratisieren,
die die Stromversorgung unterbrechen, bevor sie neue Energiequellen haben,
die die verheerenden Auswirkungen der Personenfreizügigkeit und von Schengen nicht sehen,
die das Asylunwesen nicht beseitigen, sondern verwalten und pflegen,
die ein Finanzgebaren an den Tag legen, das die Schweiz zum Schuldenstaat macht?
Sollten wir von diesen Kreisen Lob erhalten?
Nein, meine Damen und Herren: Der Tadel unserer Gegner ist gleichzeitig unser grösstes Lob!
Deshalb können wir freudig und selbstbewusst in die Zukunft schreiten!
Egal, ob die SVP in der Regierung als vollwertiger Partner vertreten ist oder ausserhalb der Regierung steht: Sie wird sich auf jeden Fall für die Schweiz einsetzen.
18.09.2011
Jubiläums-Ansprache am Bettag, Sonntag, 18. September 2011, 17 Uhr in der Klosterkirche Wettingen
Meine sehr verehrte Festgemeinde,
I. Geburtsstunde
Der 14. November des Jahres 1841 war kein Tag wie jeder andere.
An diesem Tag sang eine Zürcher Sängerrunde in privatem Kreis zum ersten Mal den „Schweizerpsalm“.
Fast ein halbes Jahr lang hatten Pater Alberik Zwyssig und der Freizeitdichter Leonhard Widmer Melodie und Verse aufeinander abgestimmt.
Zwyssig und Widmer – so ungleich sie von Herkunft, Überzeugung und Lebensumständen waren –, hatten sich zusammengetan, um etwas Harmonisches, Weihevolles, Patriotisches und Naturfrommes zu schaffen. Und es gelang. Der „Schweizerpsalm“ eroberte im Sturm die Chorliteratur, gehörte bald zum Repertoire geistlicher wie weltlicher Konzerte und fand Aufnahme im katholischen wie im reformierten Kirchengesangbuch. 1961 – vor fünfzig Jahren – wurde der „Schweizerpsalm“ zur provisorischen, zwanzig Jahre später zur definitiven schweizerischen Nationalhymne.
II. Feier am Eidgenössischen Dank-,Buss- und Bettag
Die heutige Feier verdanken wir der Initiative von ebenso kunstsinnigen wie heimatliebenden Mitbürgerinnen und Mitbürgern. Und es ist eine glückliche Idee, die Würdigung der schweizerischen Landeshymne am heutigen nationalen Feiertag vorzunehmen. Denn der Eidgenössische Dank-, Buss- und Bettag wurde vor über zweihundert Jahren als äusseres Zeichen der Verbundenheit aller Landesteile, Sprachen und Konfessionen geschaffen.
Nachdem der Sonderbundskrieg um 1847 – eine Mischung zwischen Religions-, Bürger- und ein Bruderkrieg unter den Eidgenossen –erhebliche Wunden ins eidgenössische Zusammenleben geschlagen hatte, galt es durch einen gemeinsamen Akt die Wunden im noch jungen Bundesstaat zu heilen!
III. Geboren in stürmischen Zeiten
Versetzen wir uns zurück ins Jahr 1841, ins Jahr, als der "Schweizer Psalm" erstmals in einem privaten Kreis gesungen wurde.
Die Zeiten waren stürmisch, die eidgenössischen Orte zerstritten, das politische Klima in der Schweiz war vergiftet, der Hass zwischen Konservativen und Liberalen so tiefgreifend, dass es sogar zu bewaffneten Freischarenzügen mit Toten und Verletzten kam.
Vor diesem Hintergrund erscheint es uns fast wie ein Wunder: Über kaum unüberwindliche, schmerzvolle Gräben hinweg trafen sich zwei gleichaltrige Männer und schufen ein vaterländisches Lied, das nach über hundert Jahren zu unserer Nationalhymne werden sollte.
Pater Zwyssig übertrug einen früher von ihm komponierten lateinischen Messgesang auf den Text von Leonhard Widmer.
Die Gegensätze hätten nicht grösser sein können:
Die beiden Schweizer verkündeten nicht prahlerisch und selbstgerecht Toleranz und Solidarität. Aber sie handelten entsprechend.
– Hier der liberale Feuerkopf Leonhard Widmer
– dort der konservative Zisterzienser Alberik Zwyssig.
– Hier der Reformierte und dort der Katholische
– Hier der Zürcher und dort der Urner.
– Hier der Geschäftsmann und dort der Geistliche.
– Hier der Heftige und dort der Sanftmütige.
– Hier der umtriebige Städter und dort der zurückgezogene Mönch.
– Hier der kraftvoll Gesunde und dort der ständig Kränkliche.
– Hier das Vaterlandslied und dort der Messgesang.
– Hier die deutsche und dort die lateinische Sprache.
All diese Gegensätze sind in diesem Schweizerpsalm – gleichsam unfreiwillig als Symbol gestaltet – heute in der Landeshymne vereint.
Ganz ähnlich geschah es übrigens in jener Zeit mit dem Lied „O mein Heimatland, o mein Vaterland!“, das zeitweise ebenfalls als schweizerische Nationalhymne diskutiert wurde.
Dichter des Textes war der junge Zürcher Gottfried Keller. In Töne setzte die Verse sein damals wohl bester Freund, der früh verstorbene Thurgauer Katholik Wilhelm Baumgartner.
Beide bedeutungsvollen Schweizerlieder sind nicht die Frucht selbstgerecht gepredigten und prahlerisch verkündetem Bekenntnis für billige Toleranz und schwächlicher Solidarität. Nein, es sind die Früchte von tiefsinnigem und echt freund-eidgenössischem Denken und Handeln.
IV. Entstehung des Schweizerpsalms
Die Entstehungsgeschichte des Schweizerpsalms ist kurz. Leonhard Widmer kannte und schätzte Pater Alberik Zwyssig, der gelegentlich Musikalien aus dessen lithographischer Anstalt bezog. Im Sommer 1841 schickte ihm Widmer seinen Liedtext. Noch waren die Strophen etwas breiter, zerdehnter und holpriger.
Doch die Kraft, der Glaube und der Patriotismus des Textes müssen Zwyssig tief beeindruckt und inspiriert haben.
Er erinnerte sich an einen sechs Jahre zuvor komponierten Messgesang auf den Psalmtext „Diligam te Domine“ – Dich will ich lieben, Herr!
Nun galt es, diese feierliche Melodie dem Text Widmers rhythmisch anzugleichen. Wie genau sich Töne und Text, in welchem Hin und Her sich Widmer und Zwyssig zusammenfanden, ist nicht mehr zu klären. Aber jedenfalls: Ende gut – alles gut. Und so kam es:
Etwa gleichzeitig, wie in Zürich Widmers Freunde den Psalm sangen, waren es in Buonas am Zugersee bei Zwyssig vier Zuger Stadtbürger, die das Lied als Quartett mit erstem und zweitem Tenor sowie mit erstem und zweitem Bass intonierten.
1843 figurierte der Schweizerpsalm erstmals in einem Festheft der Zürcher Studentenverbindung Zofingia.
Im gleichen Jahr wurde er am Eidgenössischen Sängerfest in Zürich vorgetragen, und die Männerchöre überlieferten Melodie und Text fortan über Generationen.
Bald schon erfolgte die Übersetzung ins Französische, und es war denn auch ein Genfer Gesangslehrer, der 1894 den Schweizerpsalm erstmals als Nationalhymne vorschlug.
Doch vorerst überwogen die Bedenken: Die Komposition sei zu schwierig, der Schluss zu wenig straff, der religiös-hymnische Charakter ungeeignet.
Am 12. September 1961 beschloss der Bundesrat nach einer Befragung der Kantone, den Schweizerpsalm einstweilen als Nationalhymne einzuführen.
Nach dreijähriger Versuchsperiode erfolgte eine erneute breite Befragung. Schliesslich am 1. April 1981 der erneute, unbefristete Beschluss.
Positiv gewürdigt wurde vor allem, dass diese Hymne im Gegensatz zum etwas martialischen „Rufst Du mein Vaterland“ keine Gewalt und Waffentaten verherrliche, sondern die Liebe zu Gott, Heimat und Naturschönheit.
Denn der Schweizerpsalm – so meinte der Bundesrat – sei „ein rein schweizerisches Lied, würdig und feierlich, so wie eine Grosszahl unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger sich eine Landeshymne wünschen“.
V. Ein Feldmeilemer als Texter
Doch erinnern wir uns etwas eingehender der beiden denkwürdigen Männer, denen wir den Schweizerpsalm verdanken. Der Textdichter, Leonhard Widmer, wurde 1808 in Feldmeilen am Zürichsee geboren. Jenem Ort am rechten Zürichseeufer übrigens, wo ich mit meiner Familie über zwanzig Jahre gelebt habe und die zusammen mit meiner heutigen Wohngemeinde Herrliberg den Bahnhof teilt.
Der Gedenkstein, der 1908 zu Leonhard Widmers 100. Geburtstag gesetzt wurde, ist allerdings kaum mehr sichtbar. Er steht zwischen Bahnschienen eingeklemmt, von Efeu überwachsen unweit des Bahnhofgebäudes Herrliberg-Feldmeilen, wo sein Geburtshaus dem Bahnbau weichen musste. Wer den Gedenkstein nicht sucht, findet ihn auch nicht!
Familie Widmer lebte am Zürichsee in ärmlichen Verhältnissen, bis der Vater in Hirslanden recht erfolgreich eine Gärtnerei betreiben konnte, aber früh verstarb.
Der Berufsweg von Leonhard Widmer entsprach den unruhigen Zeiten: Er absolvierte eine kaufmännische Ausbildung in einem Seidenhandelsgeschäft, wechselte in eine Musikalienhandlung, lebte in Lausanne als Hauslehrer und in Morges als Pensionatslehrer, kehrte zurück, verlor wegen politischer Heftigkeit eine gute Stelle in einer konservativen Druckereifirma. Widmer gab zeitweilig das kämpferisch liberale „Neumünster-Blatt“ heraus.
Er, der uns im Schweizerpsalm so innig naturfromm und gottvertrauend entgegentritt, war ein begeisterter Anhänger des 1839 aus Deutschland berufenen Theologen Friedrich Strauss, den konservative Reformierte schlicht als Unchristen bekämpften.
Später betrieb Widmer selber ein Lithographiegeschäft und versuchte in jeder Art, seine Familie und sich wirtschaftlich über Wasser zu halten.
Schliesslich pflegte er die Geselligkeit als Gastwirt „Zum schönen Grund“ in Oberstrass.
Widmers Leidenschaft galt der Politik. Er vertrat mit Energie die liberal-radikale Richtung und folgte ihr auch in den extremen Auswüchsen. So verehrte er den Aargauer Klostergegner Augustin Keller und pflegte dennoch Freundschaft mit dessen Opfer, Pater Alberik Zwyssig.
Als sich der von Widmer mitbegründete Grütliverein immer mehr sozialistischen und gar kommunistischen Gedanken annäherte, kam es zum Bruch.
Am meisten aber liebte Leonhard Widmer den Gesang und die Verskunst.
Er beteiligte sich begeistert am 1841 gegründeten liberalen Sängerverein „Harmonie“ und später im Sängerbund Zürich. Viele seiner Texte sind vergessen. Der Schweizerpsalm aber ist geblieben und etwa noch das Lied „Wo Berge sich erheben“, doch leider auch dieses nur noch der älteren Generation bekannt.
Es war damals die ganz grosse Zeit des vierstimmigen Männerchorgesangs. Ausgezeichnete Musiker vertonten die Verse ausgezeichneter Dichter. Die eidgenössischen, kantonalen und regionalen Sängerfeste vereinigte Tausende von Sängern und bildeten machtvolle Demonstrationen vaterländischer Gesinnung. Leonhard Widmer war stets eifrig dabei, sang im Quartett, im grossen Chor, verfasste Sängerzeitungen und gab Liedersammlungen heraus.
Im Alter von sechzig Jahren verstarb der merkwürdige Mann, dessen Gesichtszüge kraftvolle Energie und kluge Aufmerksamkeit ausstrahlen.
VI. Alberik Zwyssig: Melodie aus dem Kloster Wettingen
Ganz anders verlief der Lebenslauf des Komponisten Alberik Zwyssig. Als „Johann Josef Maria“ 1808 in Bauen am Urnersee, mitten in der Wiege der Eidgenossenschaft, geboren, verlor er früh seinen Vater, dessen Spur sich in holländischen Kriegsdiensten verlor. Schon seine Mutter war Novizin gewesen, und vier ihrer fünf Kinder wählten später den Ordensstand.
Nach einer Ausbildung in Menzingen trat Zwyssig im 13. Altersjahr ins 1227 gegründete Zisterzienserkloster Wettingen ein.
Neben der theologischen spielte hier die musikalische Ausbildung eine bedeutende Rolle; Alberik wurde zum vielseitigen Instrumentalisten und vorzüglichen Kantor.
Im alten Klostergemäuer ging es durchaus auch fröhlich zu; Zwyssigs erste musikalische Schöpfung war ein Trinklied. Sein humorvolles, heiteres und mildes Wesen liess den begabten Mönch später Freunde auch ausserhalb des Klosters, ja ausserhalb seiner eigenen Konfession gewinnen.
Er wurde Novize und nach einem Jahr mit dem Namen „Alberik“ nach Ablegung der Profess freudig als Mönch aufgenommen.
Nach weiteren theologischen und musikalischen Studien erfolgten 1832 in Luzern die Priesterweihe und danach war er manche Jahre als Stiftskapellmeister und Sekretär von Abt Alberik Denzler tätig.
Es wird bezeugt, dass der junge Zisterzienser äussert unzufrieden war mit der alten Klosterorgel. Darum habe er die altersschwachen Tasten so sehr traktiert, um sie vollends zu ruinieren…
Bald schon nahmen die politischen unruhigen Zeiten Zwyssig mehr und mehr in Beschlag. Die Wahl des neuen, eher entscheidungsschwachen Abtes Leopold Höchle machten seine Sekretärspflichten nicht leichter.
Am 13. Januar 1841 verfügte schliesslich der Grosse Rat die Aufhebung der aargauischen Klöster, und Pater Zwyssig hat diesen rechtlich gewiss fragwürdigen Akt mitsamt militärischer Besetzung für die Nachwelt aufgezeichnet.
Die vertriebene Klostergemeinschaft fand zuerst im Schloss Buonas eine neue Bleibe. An eine Rückkehr war nach der Einrichtung eines Lehrerseminars in den Wettinger Konventsgebäuden im Jahr 1846 nicht mehr zu denken.
Vorübergehend in Werthenstein bei Wolhusen untergebracht, vertrieb der Sonderbundskrieg 1847 die Klostergemeinschaft erneut.
So folgten weitere sechs Jahre im Kloster Wurmsbach in Jona am Obersee. Alberik Zwyssig leitete am dort neu gegründeten Töchterinstitut den Musikunterricht und schuf zahlreiche geistliche und weltliche Werke.
1854 bezog er mit sechs anderen Patres und drei Brüdern das wiederbelebte Benediktinerkloster Mehrerau in Bregenz.
Zwyssig aber – stets von schwächliche Konstitution und nach grossen Anstrengungen meistens längere Zeit leidend – verstarb schon ein halbes Jahr nach dieser letzten Umsiedlung im Alter von erst 46 Jahren.
VII. Nationalhymne in unserer Zeit
Meine Damen und Herren, wir haben hier unseren Schweizerpsalm und dessen weitgehend vergessene Urheber gewürdigt.
Erlauben Sie mir zum Schluss ein Wort über das Wesen und die Bedeutung einer Nationalhymne in unserer Zeit ganz allgemein.
Eine Nationalhymne hat ja eine Bedeutung, die heute weit über die Repräsentation der Staaten bei Staatsbesuchen und ähnlichen diplomatischen oder militärischen Ereignissen hinausgeht.
Sie ist – ähnlich wie die Flagge – ein äusseres Zeichen der Einmaligkeit von jedem einzelnen der immer noch zahlreichen Staaten dieser Welt.
Gerade in Zeiten der Vermassung und Gleichmacherei entsprechen solche Unterscheidungsmerkmale einem tiefen menschlichen Bedürfnis nach Verwurzelung und Heimatgefühl.
Gerade bei Sportveranstaltungen und deren Übertragung für ein Millionenpublikum am Fernsehen bildet die Nationalhymne ein wichtiges emotionales Mittel der Identifikation. Die jungen Fussballfans singen zumindest die erste Strophe kräftig mit und man schaut genau hin, ob die Stars bei Spielbeginn kräftig mitsingen oder wenigstens die Lippen ein bisschen dazu bewegen.
Beim gegenwärtig feststellbaren, neu erwachenden Patriotismus der jungen Generation spielt die Nationalhymne eine nicht zu unterschätzende Rolle.
So vielfältig und unterschiedlich die Staaten sind, so verschieden sind auch ihre Nationalhymnen.
Länder wie Grossbritannien, Dänemark, Schweden oder Norwegen würdigen ihre Monarchen und wünschen ihnen ein langes, gesundes Leben.
Wieder andere Hymnen haben einen kriegerisch-militärischen Charakter, etwa jene der Grossmacht Amerika, das irische „Soldatenlied“ oder – besonders bekannt – die französische „Marseillaise“ aus blutiger Revolutionszeit.
Die Schweiz aber besitzt eine Nationalhymne mit ausgeprägt sakralem, chorartigem Charakter, die sogar Aufnahme in die kirchlichen Gesangbücher unseres Landes fand.
Ist es nicht bemerkenswert und Grund zur Freude, dass unsere Schweiz auch diesbezüglich von der Norm abweicht und einen Sonderfall darstellt?
Wir verdanken diesen Sonderfall den dichterischen Versuchen eines idealistisch gesinnten, kleinbürgerlichen Zürcher Freiheitsfreundes. Und den musikalischen Fähigkeiten eines begabten, empfindsamen „grauen Mönchs“, der in dieser Wettinger Klosterkirche zur Ehre Gottes musizierte.
So ungleich die beiden Schöpfer unseres Schweizerpsalmes waren: Wir sind ihnen zutiefst dankbar, dass es ihnen gelang, bleibend Ergreifendes für eine ganze Nation zu schaffen.