Man kann auf dieser Welt bestehen, auch wenn es schwierig ist

Interview mit der Schweizer Illustrierten, Ausgabe vom 3. Mai 2010

Wer das grüne Tor zu seiner Villa an der Goldküste in Herrliberg ZH passiert hat, betritt ein Kunstreich der Extraklasse: im Entree: Hochkarätiges von Hodler, Giacometti, Segantini. Im Untergeschoss präsentiert der Chef-Stratege der SVP auf 100 Quadratmetern seine sensationelle Anker-Sammlung. 600 Ölgemälde hinterliess der Seeländer Maler, die Hälfte davon befindet sich in Museen auf der ganzen Welt. 272 Bilder, darunter 90 Aquarelle und 90 Zeichnungen, gehören Christoph Blocher. „Nehmen Sie eine Jacke mit nach unten“, warnt der Unternehmer. „die Temperatur beträgt nur 18 Grad.“ Albert Ankers Ururenkel Matthias Brefin, 67, ist beim alt Bundesrat zu Gast. Seine Frau und seine Tochter kamen beim Tsunami in Thailand ums Leben. Seither lebt der ehemalige Spitalseelsorger im Haus seines berühmten Ururgrossvaters in Ins BE. Brefin hat Briefe und Skizzenbücher aus dem Nachlass mitgebracht. Ein munteres Gipfeltreffen der Kunstprofis zum 100. Todestag des Malers vor beeindruckender Kulisse!

Text und Interview: Caroline Micaela Hauger

SI: Was hätten Sie Albert Anker gerne noch gefragt?
Christoph Blocher: « Herr Anker, was geht in ihnen vor, wenn Sie ein Bild malen? » Auf allen Selbstbildnissen haben sie so stechende Augen. Sie müssen ein exzellenter Beobachter sein! » Er nahm das Wesen jedes einzelnen in sich auf und brachte es mit Freude und ungeheurer Begabung zu Papier.
Mathias Brefin: Für mich bleibt ein Rätsel, wie er seine intensive, malerische Tätigkeit mit seinem Familienleben vereinen konnte. Er arbeitete Tag und Nacht. Eine Grosstochter beschrieb im Tagebuch, dass man ihn fast nicht aus dem Atelier locken konnte. Ausser, seine Frau Anna machte eine Schoggicrème. Dann legte er sofort den Pinsel nieder und kam die Treppe hinuntergerannt.

Können Sie Ankers Charakter beschreiben, als Vater, Ehemann, Künstler?
Brefin: Mit Anna Rüfli zeugte er sechs Kinder. Emil starb einjährig, Rudolf wurde drei Jahre alt. Bis zum Tod der Söhne war er ein sinnlicher, lebensfroher Geniesser. Danach wurde er zeitweise melancholische, fast depressiv. Nach einem Schlaganfall sah er im Leben keinen Sinn mehr. Er konnte den Ölpinsel nicht mehr halten, musste auf Aquarelle umstellen. Eindrücklich: Als erstes malte er Ruedeli, seinen verstorbenen Sohn, munter seinen Brei essend. In diesem Moment muss er sich ihm ganz nah gefühlt haben.
Blocher: Ganz wichtig: seine Frau hat ihn sehr unterstützt. 30 Jahre lang zog er mit der ganzen Familie jeden Winter nach Paris, damit er dort malen und arbeiten konnte.

Was gibt Ihnen die Kunst Ankers ganz persönlich?
Blocher: Viel Kraft. Und dass man in dieser Welt bestehen kann, auch wenn es noch so schwer scheint.

Ist seine Bilderwelt tatsächlich so heil?
Blocher: Heil nicht – aber schön! Viele sehen in Anker abschätzig den « Bluemete Trögli-Maler ». Diese Leute verkennen seine Kunst. Anker malte auch Tod, Armut und Einsamkeit. Der elitären Kunstwelt ist Anker verdächtig, weil auch das breite Volk Zugang findet. Seine Botschaft ist einfach und klar: Jedes Individuum ist ein Vertreter von der Schönheit der Welt.

Die Menschen auf seinen Bildern sind oft namenlos, ihr Blick wirkt traurig.
Brefin: Mein Ururgrossvater wusste haargenau, wen er wann porträtiert hatte. Er führte in seinem Notizbuch akribisch alle Verkäufe und Arbeiten auf. Meist stellte er Szenen dar, in denen die Porträtierten ganz in ihrer Tätigkeit aufgehen. Leute, die allein sind und etwas tun, lachen nicht.
Blocher: Ich vermute, er hat die Namen weggelassen, weil er nicht jemanden Spezifischen malen wollte. Der Porträtierte ist ein Vertreter des Ganzen. Den Leuten, die zu mir kommen und sagen: – « Auf einem ihrer Bilder ist meine Urgrosstante abgebildet », – denen antworte ich: « Anker wusste, warum er ihnen keine Namen gab. Die Person, nicht der Name interessierte ihn. »

Warum ist Anker ein Publikumsmagnet, obwohl er kein moderner Maler war?
Blocher: Er hat mit sich gerungen, in welche künstlerische Richtung er gehen soll. Wie Van Gogh: Die beiden haben sich gut gekannt. Seine Popularität führe ich auf die Zugänglichkeit seiner Motive und die künstlerische Ausdruckskraft zurück. Bei der letzten Ausstellung in Ins habe ich Leute beobachtet, die tief betroffen waren. Besucher hatten Tränen in den Augen. Die schlichte, ehrliche Schönheit und seine Gewissheit. „Die Welt ist nicht verloren“, berührt Menschen auf der ganzen Welt.
Brefin: Es ist interessant, wie die Anker-Begeisterung im Ausland zunimmt. In Japan verweilten die Menschen ungewöhnlich lange vor den Bildern, fast wie vor Heiligenbildern in einer Kirche.

Wie gross ist die Ehrfurcht vor Bildern, mit denen man sich seit Jahrzehnten umgibt?
Blocher: Sie nimmt jeden Tag zu. Seit 15 Jahren hängt « der Schulspaziergang“ bei uns im Esszimmer. Ab Freitag ist er in der Ausstellung in Bern zu sehen. Das Bild ist mir fest ans Herz gewachsen, wie ein Kind, das man sehnsüchtig zurückerwartet. An seiner Stelle hängt nun ein wunderschöner Hodler. Trotzdem fehlt es mir! In meinen vier Wänden bedeuten die Bilder nur uns etwas. Im Museum haben alle etwas davon. Darum bin ich ein grosszügiger Leihgeber.
Brefin: Leider hat das Risiko wegen Diebstahl oder Fälschungen stark zugenommen.

Christoph Blocher, was gab den Auslöser zu Ihrer Sammlung?
Blocher: Mein Vater war Pfarrer mit elf Kindern, er hatte Freude an Bildern. Auch ich hängte mir als Bub Drucke aus Zeitschriften an die Wand. Als ich Geld verdiente, fing ich an, Zeichnungen zu kaufen.

Hängen Sie die Bilder persönlich auf und wie gehen Sie vor?
Blocher: Jedes Bild platziere ich selbst. Ich bin einmal – an einem Ostermontag – um fünf Uhr früh aufgestanden, habe meinen Morgenrock angezogen und war abends um sieben noch mit der gleichen Wand beschäftigt. Ich habe die Aquarelle bestimmt 20 Mal umgehängt. Was mir an genau dieser Wand gefällt? Die eine Seite symbolisiert die Jugend, die andere das Alter. Das sagt alles aus über Ankers Schaffenskraft, seine Philosophie, seine Menschlichkeit.

Keine Angst vor Einbrechern – oder schlafen Sie mit dem Gewehr unter dem Kopfkissen?

Blocher:
Bis jetzt wurde jeder Einbruch verhindert. Ein Diebstahl von so bekannten Bildern wird schwierig. Man wird die Gemälde kaum mehr los.

Mathias Brefin, wie beurteilen Sie Christoph Blochers Sammlung?
Brefin: Ich bin beeindruckt, wie viel diese Bilder ihm bedeuten. Und froh, dass sich jemand intensiv mit der Materie auseinandersetzt und so viel Geld dafür ausgibt. Ich kann genau sagen, ob ein Bild aus der Blocher-Sammlung stammt oder nicht: Er pflegt und restauriert sie, andere lassen sie verkommen. Für den Nachlass ist das ein enormer Gewinn.
Blocher: Wir Sammler sind ja komische Menschen, wir haben ein Konzept, das nur wir kennen. Kunst ist kein Buch, das man auswendig lernen kann. Albert Anker ist für mich ein Fundament. Es muss sich niemand die Mühe machen, meine Bilder schön zu finden.

Besitzen Sie als Ururenkel des Malers auch Anker-Originale?

Brefin: Bloss, was in der Familie blieb: Reiseaquarelle, Zeichnungen, Ölstudien – und ganz wenige Ölbilder. Leider ist keines von den ganz bekannten darunter. Die hatte er alle bereits verkauft.

Beneiden Sie Herrn Blocher um seine Sammlung?

Brefin: Ich hätte gar keinen Platz und keine Möglichkeiten, sie aufzubewahren. Ich schaue sie mir lieber hier an – wenn ich darf.

Welchen Preis erzielt ein Anker heute?

Brefin: Seinerzeit verlangte der Künstler für seine Ölbilder bis zu 4000 Franken –eine stolze Summe. Aquarelle verkaufte er zum Einheitspreis von 100 Franken.
Blocher: Seit auch Ausländer mit bieten, hohe Preise! Zum Teil mehrere Millionen Franken. Der Markt ist überhitzt. Selbst Aquarelle, die Kunst des kleinen Mannes, kosten heute 50 000 bis 90 000 Franken. Für das Bild „Mädchen mit Brot“, meine jüngste Neuerwerbung, setzte ich mir keine Grenze. Es ist eine ausgesprochen schöne Arbeit, ich wollte sie unbedingt haben!

Christoph Blocher, Sie haben sich auf Anker und Hodler spezialisiert. Zu welchem Maler haben Sie das innigere Verhältnis?

Blocher: Zu Anker ist die Beziehung tiefer. Seine Menschenbilder stehen mir näher als Hodlers Landschaften. Wenn Hodler Menschen malte, dann stellte er sie als Helden dar. Seine Frauenköpfe machen mir sogar Angst.

Anker setzte sich als Grossrat für den Bau eines Kunstmuseums ein. Was bedeutet Ihnen die Jubiläums-Ausstellung in Bern?

Brefin: Es ist eine seltene Gelegenheit, viele Originale nebeneinander zu sehen. Man erhält einen Querschnitt durch das Schaffen eines der wichtigsten Schweizer Künstler am Ende des vorletzten Jahrhunderts.
Blocher: Albert Anker ist jetzt 100 Jahre tot. Die Ausstellung zeigt: Er hat überlebt. Gerade heute, wo Menschen wieder Halt suchen, ist Anker mit seiner Botschaft ein sicherer Wert. Gute Sachen finden oft spät Anerkennung. Ich bin sicher: Anker wird sich in der Kunstwelt durchsetzen.

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