Etwas für anspruchsvolle Leute

Streitgespräch in der «Weltwoche» vom 4. November 2010

Der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg fordert für sein Land den EU-Beitritt. Sein grosser Gegner, der Politiker Christoph Blocher, hält das Gegenteil für zwingend. Im grossen Weltwoche-Streitgespräch stehen sich die beiden Antipoden erstmals seit Jahren wieder gegenüber.Von Roger Köppel

Herr Muschg, in Ihrem neuen Roman «Sax» haben Sie, wie Sie selber sagten, ein halbes Jahrhundert Ihrer Lebenszeit als ­Gespenstergeschichte aufgeschrieben. Was ist der tiefere Grund dafür, dass Sie ausgerechnet dieses Genre wählten?
Muschg: Ich bin als Halbwüchsiger mit Spuk-Erscheinungen bekanntgeworden. Und wünschte mir damals, eine Spukgeschichte zu schreiben. Es hat mich selbst überrascht, dass dieses Bedürfnis mächtig genug wurde für ein so dickes Buch. Einst war ein Medium jemand, der eine Beziehung zum Jenseits herstellen konnte. Heute ist der Spuk der Medien der, dass eigentlich alle Beteiligten nicht mehr ganz da sind. Das Spukhafteste ­habe ich in Dubai erfahren, einem Ort, dessen Verwandtschaft mit der Schweiz nicht auf der Hand liegt. Immerhin: Es gibt eine rein indigene Bevölkerung, eine Handvoll Wüstensöhne, die eine riesige Mehrheit fast rechtloser Gastarbeiter kommandieren und sehr stolz auf ihre Identität sind. Sie haben eine märchenhafte Skyline aufgezogen, und in diesem Kulissenzauber machen sie ihre Geschäfte mit der ganzen Welt. Globalisierung und Provinz sind da auf eine Art zusammengekommen, die sogar Herrn Blocher das Fürchten lehren müsste. Für einen Betrachter wie mich haben die sogenannten Realisten, nicht nur in der Finanzwirtschaft, eine zunehmend virtuelle Realität hervorgebracht, und das gilt nicht nur für Dubai. Globalisierungsphänomene haben etwas Spukhaftes.

Ein Rezensent der Süddeutschen Zeitung hat zu Ihrem Roman geschrieben, es sei auch ein Abgesang auf die 68er Generation. Steckt diese Botschaft im Buch?
Muschg: Sicher. Das Buch beginnt ja mit einer Wette. Drei junge Advokaten, die sich als Anwaltskollektiv verstehen – das ist ein Wort aus den Sechzigern und Siebzigern –, also junge Linke aus guten Häusern wie die meisten Wortführer damals, mieten sich im Haus «Zum eisernen Zeit» ein. Der Vater des einen Advokaten sagt zum Hausbesitzer, einem Banker: «Wollen wir wetten, dass sich deine (Haus-)Gespenster und das Gespenst des Kommunismus gegenseitig austreiben?» Das Buch ist eigentlich die Beschreibung dieser Wette. Dabei sind die jungen Leute bald nicht mehr wiederzuerkennen.

In Ihrem Buch spielt auch eine Figur eine nicht unmassgebliche Rolle, ein Politiker und Unternehmer, den Sie als «unholden Vater des Vaterlandes» beschreiben. Dieser Politiker, Melchior Schiess, bringe durch sein Eigengewicht jede demokratische Balance zum Kippen. Der Mann ist Milliardär, Unternehmer mit Schaffhauser Dialekt, Sammler von Bildern des Malers Albert Anker, und Sie schreiben, dass durch das Gepolter dieses Volkstribuns die letzten Freunde der Schweiz verscheucht worden seien. Kann es sein, dass dieser Mann heute auf dem Podium neben Ihnen sitzt – Christoph Blocher?
Muschg: . . . nicht einmal, was den Dialekt betrifft. Aber für den kann sich Herr Blocher selber wehren.

Offenbar übt dieser Schiess/Blocher eine unheimliche, ja geradezu gespenstische Faszination auf Sie aus.
Muschg: Eine kleine Vorbemerkung. In der Antike lebte ein Maler, der hiess Apelles. Er konnte so täuschend malen, dass die Vögel auf seine gemalten Früchte geflogen sind. Mit anderen Worten: Die Figur Melchior Schiess ist Herr Blocher, und er ist es nicht. Die Faszination der realen Person bleibt unbestritten, sonst sässen wir nicht hier. In diesem Roman habe ich mit ihm gearbeitet und mit seiner aktuellen Person gespielt, aber die literarische Figur ist nicht identisch mit der aktuellen. Zum Beispiel ist mein Schiess noch nicht Bundesrat.

Herr Blocher, in den Schiess-Passagen des neuen Muschg-Romans geht es um das grosse Thema, das Sie beide trennt: die Europafrage. Fühlen Sie sich richtig eingeschätzt als Politiker, der durch seinen Isolationismuskurs die letzten Freunde der Schweiz verscheucht?

Blocher: Ich habe das Buch gekauft, Herr Muschg. Es hat Dinge drin, die stimmen: Ich wohne am Zürichsee, bin Milliardär. Ein Unternehmer muss ja reich sein, denn es gibt nichts Traurigeres als arme Unternehmer. Ich sammle Albert Anker, das weiss man. Mein Dialekt ist schaffhauserisch, ich bin im Zürcher Weinland aufgewachsen, und das Zürcher Weinland ist Schaffhausen orientiert und hat darum eine etwas eigene Sprache, aber ich spreche leider keinen reinen Dialekt, weil meine Eltern Zürichdeutsch gesprochen haben. Ich habe das Buch zu lesen begonnen und die ersten zwanzig, dreissig Seiten verstanden, dann kam ich nicht mehr mit. Wenn es eine Spuk- oder eine Geistergeschichte ist, liegt es an mir, weil ich mich als Unternehmer und pragmatischer Politiker mehr mit der Realität auseinandersetze . . .

Deshalb finden Sie die EU-Begeisterung von Herrn Muschg weltfremd.

Blocher: An Herrn Muschg schätze ich, dass er zu den Leuten gehört, die sich mit der Schweiz auseinandersetzen. Man setzt sich ja nur mit etwas auseinander, zu dem man eine intensive Beziehung pflegt. Ich schreibe über niemanden, der mir gleichgültig ist. Aber wir stehen auf einer politisch ganz anderen Grundlage. Ich bin ein liberal-konservativer Politiker seit je, Herr Muschg ist ein Sozialdemokrat, er hat für den Ständerat kandidiert. Damals habe ich ihn schon aus der Ferne bekämpft, weil ich gesagt habe: «Der darf nicht nach Bern, das ist nicht in Ordnung!»

Können Sie sich an diese Auseinandersetzung noch erinnern?
Muschg: Das war 1975. Ich wurde von einem Pfarrer in Witikon aufgefordert zu predigen. Herr Blocher hat daraufhin in einem Leserbrief im Zürcher Unterländer gegen mich und meine vermeintlich linke Gesinnung geschrieben. Ich habe Blocher dann gefragt, ob er die Predigt überhaupt gelesen habe. Das hatte er nicht. Und seither leben wir, sagen wir mal, asymmetrisch: Er liest mich nicht, und ich lese ihn ziemlich intensiv.

Was ist weltfremd an Adolf Muschgs Haltung zur EU?
Blocher: Die Hauptdifferenz zwischen uns ist, dass er für einen EU-Beitritt ist, ich verachte ihn dafür nicht, aber es ist eine völlig falsche Richtung für die Schweiz. Ich bin überzeugt, dass ein Beitritt der Schweiz schaden, dass die Schweiz an Wohlfahrt, Freiheit und Selbstbestimmung einbüssen würde.

Herr Muschg, hat sich Ihre Position bezüglich EU gelockert oder verhärtet?
Muschg: Die Position hat sich radikalisiert. Erstens: Der Ausgangspunkt für mich ist die Schweizer Geschichte. Ich gehe dabei vom 19. Jahrhundert aus. Die Schweiz wurde ja nicht 1291 gegründet, sondern 1848. Wenn ich die damaligen Diskussionen innerhalb der Schweiz verfolge, gleichen sie strukturell aufs Haar den Diskussionen, die wir heute innerhalb der EU erleben. Die Schweiz war ein heterogener Verbund. Es brauchte enorme Energie und einen kleinen Bürgerkrieg, dass sie 1848 zusammenkam. Die Linke und die Liberalen waren noch vereint, die Konservativen und Föderalisten waren auf der anderen Seite. Gescheite Leute sassen schon damals zwischen vielen Stühlen. Zweitens: Ich gehöre zu denen, die das Jahr 1945 als ein auch auf die Schweiz bezogenes Datum erleben. Ich bin als kleiner Superpatriot aufgewachsen: Man musste am 1. August beim Höhenfeuer dabei sein und «Rufst du, mein Vaterland» singen. Nach 1945 hat sich dieses uns umgebende Europa aus Trümmern wieder erhoben und einen Staatenbund geschaffen, den ich auch für mich als verpflichtend empfinde. Für mich als Schweizer – das meine ich mit «Radikalisierung» – verlangt diese Konstruktion Teilnehmer, nicht Zuschauer, wenn ihre Statik in Frage steht wie heute. Ich hafte genauso für ihre Haltbarkeit, wie wenn ich Deutscher wäre oder Franzose oder Lette oder Russe. Die staatspolitische und die friedenspolitische Leistung der EU ist eine einzigartige Errungenschaft und ein Muster auch für die übrige Welt.

Herr Blocher, warum kommen Sie als Bewunderer der Schweizer Bundesstaatsgründung nicht zu den gleichen Schlüssen wie Adolf Muschg? Sie müssten ja eigentlich auch die Parallelen sehen.
Blocher: Wer sagt, wir sollten der EU beitreten, das sei wie 1848, der sagt, die Schweiz solle ein Kanton von Brüssel werden. Das will ich nicht, das ist auch nicht nötig. 1848 war die Diskussion eine ganz andere. Erstens: Hinter 1848 lagen fünfzig Jahre mehr oder weniger ausländische Beeinflussung der Schweiz. Die Franzosen waren gekommen und gestalteten die Schweiz nach ihrem Gusto. Napoleon zog dann relativ schnell wieder ab, allerdings nahm er noch den Berner Goldschatz mit. Danach rafften sich die Schweizer auf. Wesentlich war, dass man gesagt hat: «Wir nehmen die Sache selbst in die Hand!» Ich wäre damals auf der Seite der liberalen Vorkämpfer des Bundesstaats gestanden. Danach wurde eine eigene Währung geschaffen, aber nicht eine politisch begründete wie später in der EU. Nochmals: Ein EU-Beitritt wäre für die Schweiz ein Fehler. Er brächte uns Nachteile und der EU nichts – ausser unserem Geld, das wir abliefern müssten. Andere Staaten traten der EU bei, weil sie sich Vorteile versprachen. Für die Schweiz gilt, was ich als Unternehmer meinen Leuten sagte: «Denke global, aber handle lokal!»

Aber es stimmt doch: Die EU von heute könnte sich zusammenraufen wie einst die in souveräne Kantone zergliederte Schweiz.
Blocher: Das Motto dieser Veranstaltung lautet: «Welche Schweiz wollen wir?» Das klingt ja so, als ob man eine Schweiz wollen und konstruieren könnte. Genau so geht es nicht. Die Schweiz ist nicht erfunden worden, sondern sie ist entstanden und gewachsen. 1848 wurde ein neuer Staat gegründet mit zentralen Kompetenzen, mit Landesverteidigung. Die Kantone sollten etwas zu sagen haben, gleich viel wie das Volk. Das gibt es alles nicht in der EU. Schliesslich wurde in der Schweiz die direkte Demokratie massiv ausgebaut. Nichts davon in der EU.

Dieser Punkt, Herr Muschg, müsste Sie beunruhigen. Wir beobachten in EU-Mitgliedstaaten einen Ruf nach mehr direkter Demokratie. Die Turbulenzen um den Stuttgarter Bahnhof sind nur ein aktuelles Beispiel. Woher nehmen Sie die Gewissheit, dass die Schweiz in der EU nicht unter die Räder kommt?
Muschg: Ich habe diese Gewissheit so wenig wie Sie, aber ich kann mithelfen, die Chance dafür zu verbessern. Ich rede nicht als EU-Vertreter, sondern als selbstkritischer Patriot, wenn ich daran erinnere: Um zu werden, was sie ist, musste die Schweiz genau wie Europa zuerst kurz und klein geschlagen werden, zuerst 1798 von den Heeren der Französischen Revolution. 1803 korrigierte Bonaparte den verfehlten Einheitsstaat durch seine Mediation. Dass wir Kantone haben, verdanken wir den Franzosen. Und wo kam die Neutralität her, die bewaffnete? Sie wurde der Schweiz verordnet am Wiener Kongress 1815 auf Betreiben des Zaren Alexander I. von Russland. Das Volk war tief gespalten bis zum Bürgerkrieg 1847. Da haben nicht wir, nicht Sie und nicht ich gewonnen, sondern eine bestimmte Partei, die Fortschrittsliberalen, hat ihre Schweiz durchgedrückt, und der Rest des 19. Jahrhunderts wurde darauf verwendet, die andere Hälfte der Schweizer Schritt für Schritt zu integrieren, die nicht für die Verfassung von 1848 gestimmt haben. Deren Väter waren gegen die direkte Demokratie. Die hat erst die Demokratische Partei in den siebziger Jahren eingeführt.

Blocher: Ich bin gar nicht einverstanden. Es ist typisch, dass der Schriftsteller nur die geschriebenen Rechtsakte sieht. Dabei ist die Neutralität der Schweiz viel älter. Sie geht zurück auf die Schlacht von Marignano 1515.

Muschg: Wenn Sie mein Buch gelesen hätten, fänden Sie einen Marignano-Saal.

Blocher: Ich habe davon gehört. Auf die  Schlacht von Marignano geht unsere Neutralität zurück, die ist viel älter als der Bundesstaat. Es folgte der berühmte Satz, der Niklaus von der Flüe zugeschrieben wird: «Machet den Zun nit zuwit», und: «Mischt euch nicht in fremde Händel.» Jetzt ist die Schweiz hier. Würden wir der EU beitreten, müssten wir die wesentlichen Elemente unseres Staates preisgeben, die Neutralität, aber auch  direkte Demokratie.

Herr Muschg, ist es nicht doch so? Die Schweiz würde sich in einer EU auflösen wie ein Stück Zucker im Tee.
Muschg: Hat sich Dänemark aufgelöst? Die Niederlande? Der grosse Unterschied zwischen Ihnen und mir, Herr Blocher, ist eben, dass ich mich an der EU mitbeteiligt fühle. Ich sehe viele Schweizer, vor allem im Ausland, deren politisches, föderalistisches, demokratisches Know-how in der EU überaus gefragt wäre, wenn sie es denn einsetzen könnten. Letten und Portugiesen sind ebenso weit auseinander wie Appenzeller und Genfer; sie müssen einander nicht mögen. Es funktioniert trotzdem. Und die Weisheit, die nötig ist, um diesen Erdteil zusammenzuhalten – eine Festung muss er darum nicht werden –, diese Weisheit ist der Schweiz schon ein Stück weit in Gewohnheit übergegangen. Diese Mitgift müssen wir nicht für uns behalten. Dass die Schweiz sich begnügt, im Windschatten des epochalen Versuchs zu segeln, tut mir weh, wie eine unverdiente Beleidigung.

Herr Blocher, es stimmt ja, dass sich dieses Land immer gegen ausländische Vögte und Machtgelüste zur Wehr gesetzt hat. Handkehrum achtete man darauf, die anderen nicht zu sehr zu reizen. Gehen Sie mit Ihrem Konfrontationskurs zu weit?
Blocher: Wenn man in einem selbständigen Land lebt, ist es mühsamer, die eigene Position zu vertreten, als sich von einem Dritten vereinnahmen zu lassen. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Die Schweizer Geschichte ist seit 700 Jahren geprägt durch das mühselige Ringen um die Unabhängigkeit. Es stimmt nicht, dass die anderen Staaten nicht wüssten, was die direkte Demokratie sei. Sie wollen sie nicht! Das nehme ich der EU nicht einmal übel. Ich bin kein Missionar für die direkte Demokratie in anderen Ländern. Natürlich hat die Demokratie auch Mängel. Volkes Stimme ist nicht Gottes Stimme. Das ist mir auch klar. Aber wenn ich die Geschichte anschaue: So schlimm ist die direkte Demokratie nicht herausgekommen. Die Fehlentscheidungen der Politiker und der Regierungen waren viel verheerender.

Als die Schweiz 1848 gegründet wurde, gab es weder die Volksinitiative noch das Referendumsrecht in der Bundesverfassung. Wieso soll sich die EU nicht in diese Richtung entwickeln?
Blocher: Wir können ihr ja immer noch beitreten, wenn sie sich so wunderbar entwickelt!

Muschg: Beitragen, Herr Blocher, beitragen!

Blocher: Herr Muschg, sehen Sie, die Politiker in Bern sagen, wir könnten dann mitreden. Stimmt: Die Politiker könnten sicher mitreden, aber doch nicht die Bevölkerung. Hier liegt der Unterschied: Wenn Österreich der EU beitritt, dann verlagert sich die Macht vom Regierungsgebäude in Wien auf das Regierungsgebäude in Brüssel. Bei uns verlagert sich die Macht von der Urne nach Brüssel.

Herr Muschg, wollen Sie aus Eigeninteresse in die EU, weil Sie dann, als politischer Intellektueller, möglicherweise als Berater für Brüssel wirken könnten?
Muschg: Im Gegensatz zu Herrn Blocher bin ich 76, und meine Karriereerwartungen halten sich in Grenzen . . .

Blocher (lacht): . . . meine beginnen erst . . .

Muschg: . . . mein ökonomisches Interesse an einem EU-Beitritt darf ich vernachlässigen. Für das kulturelle und das geistige Interesse wehre ich mich. Die Schweiz und die EU sitzen im gleichen Boot. Wir können schon ­einen Salon darin einrichten und uns vormachen, dieser Salon sei autonom. Übrigens klingt das Klagelied, das Sie, Herr Blocher, gegen Brüssel anstimmen, ähnlich wie dasjenige gegen Bundesbern. Auch deutsche Politiker brauchen Brüssel gern als Sündenbock für alles, was im eigenen Land nicht läuft.

Frankreich wirft, ohne Volksabstimmung und Schäfchenplakat, unerwünschte Ausländer hinaus. In Deutschland wird «Multikulti» plötzlich für tot erklärt. Herrscht in der EU überhaupt der Geist, den Sie, Herr Muschg, dort vermuten?
Muschg: Man muss dort, wie überall, für diesen Geist kämpfen. Zum Glück bietet die Schweiz Beispiele genug für eine geglückte Ausländerpolitik. Auch Herrn Blochers Vorfahren sind im 19. Jahrhundert zugewandert, wie die Nestlés, die Browns, Boveris und Bührles. Der erste Rektor der Uni Zürich war ein Flüchtling aus Thüringen. Der Aufbau der Schweiz wäre ohne «Asylanten» und ihren Beitrag nicht möglich gewesen. Auch die ETH gäbe es nicht.

Was aber sagen Sie, wenn nicht Professoren einwandern, sondern Islamisten, die gegen die Aufklärung anrennen, die Sie hochhalten?
Muschg: Das Problem ist unbestritten. Aber für die Lösung ist es nicht gleichgültig, welcher Symbole man sich bedient. Das schwarze Schaf, das von den weissen rausgekickt wird – als wäre die Kerneigenschaft der Ausländer ihre Kriminalität: Das ist keine Politik, sondern, milde gesagt, kurzsichtig – und kleinmütig.

Blocher: Die schwarzen Schafe, die hier sind und kriminell sind, die haben das Land zu verlassen. Aber wenn Sie meine Familie ansprechen: Mein Urururgrossvater hat nach dreissig Jahren in der Schweiz für die Einbürgerung einen halben Jahreslohn hinblättern müssen. Daran sehen Sie, was damals eine Schweizer Staatsbürgerschaft noch wert war. Mit den heutigen Problemen hat das nichts zu tun.

Herr Muschg, wo liegt für Sie beim Thema Ausländer die Grenze zwischen legitimer Sorge und dem Schüren von Fremdenhass, wie Sie es Herrn Blocher vorwerfen?

Muschg: Diese Grenze kennt keiner von uns zum Vornherein, man muss sie an sich selbst erfahren – und für mich ist der Test immer der einzelne Fall. Wie ist der konkrete Sans-Papiers in seine Lage gekommen? Was lerne ich von ihm, auch über mich und meine Gesellschaft? Und was das Grundsätzliche betrifft, Herr Blocher: Wir haben immerhin ein paar internationale Vereinbarungen unterschrieben, dazu gehört das Non-Refoulement-Prinzip. Dieses hat fundamental mit Menschen- und Völkerrechten zu tun. Sie strapazieren diese Rechtsgüter. Wir landen mit Recht vor «fremden Richtern», falls wir Ihre Ausschaffungsinitiative annehmen sollten. Der Gegenvorschlag des Bundesrates ist allerdings ein Beweis dafür, wie Sie und Ihre SVP seit einigen Jahren die Agenda der Classe politique bestimmen! Ich bin so wenig für den Gegenvorschlag wie für die Initiative, denn er fährt im Kielwasser Ihrer Initiative und macht sie nur gerade knapp völkerrechtskonform. Aber wenn Sie mit Ihrem Ja durchkommen, könnten wir in die Lage der Appenzeller geraten, als sie vom Frauenstimmrecht einfach nichts wissen wollten – da mussten sie auf dem Rechtsweg eines Besseren belehrt werden. Will unser Land, der Sitz internationaler und humanitärer Organisationen, eine ähnliche Abfuhr riskieren?

Kann es sich die Schweiz leisten, mit wesentlichen völkerrechtlichen Verträgen, die sie selber unterschrieb, in Konflikt zu geraten?
Blocher: Wir sind verpflichtet, das zwingende Völkerrecht einzuhalten. Non­Refoulement bedeutet: Man darf Leute nicht in ein Land zurückweisen, wo die Lebensbedingungen für sie nicht mehr vorhanden sind. Solche Leute sind von unserer Initiative nicht betroffen. Allerdings: Es gibt in der Uno-Flüchtlingskonvention eine Bestimmung, die das Non-Refoulement ausser Kraft setzt. Nämlich für Personen, welche die Sicherheit in ihrem Gastland gefährden. Das wird stets verschwiegen. Schliesslich: Sich auf das Völkerrecht im Ganzen zu berufen, ist problematisch. Man hat das Gefühl, die Völker hätten dieses Recht gemacht. Doch es waren Expertenkommissionen, Beamte, die mit anderen Beamten Verträge geschlossen haben. Es sind lediglich Verträge, die wir auch künden können.

Trotzdem: Die Schweiz hat immer darauf geachtet, dass sie nicht alle anderen zu sehr provoziert hat. Mit Ihrem Kurs, Herr Blocher, droht die Schweiz als eine Art Schurkenstaat ins Visier zu geraten. Und dann hat die Schweiz, wie es Herr Muschg formuliert, wirklich keine Freunde mehr.
Blocher: Wir müssen doch nicht denken, die ganze Welt müsse uns lieben. Ein Spannungsverhältnis gehört zum Alltag. Wir reden ja auch nicht nur gut über die anderen, das ist doch nicht so schlimm. Und es gibt kein Land, wo so viele Leute hinmöchten wie in die Schweiz. Wir sind auch kein Schurkenstaat. Dieser Vorwurf wäre lächerlich. Wir sind ein Rechtsstaat. Aber wir wollen unser eigenes Recht festsetzen, und da gibt es natürlich Schwierigkeiten mit anderen Staaten, die uns ihre Rechtsvorstellungen aufzwingen möchten.

Herr Muschg, Sie betonen den Vorrang des Völkerrechts vor dem Landesrecht. Da müssten Sie ja eigentlich auch für militärische Interventionen wie seinerzeit im Irak gewesen sein. Da wurde ein Terrorregime mit Waffengewalt gestürzt im Namen westlicher Werte.
Muschg: So argumentierte damals Joschka Fischer, der deutsche Aussenminister, bei der Intervention in Afghanistan. Wenn man allgemeine Grundsätze geltend macht, ist das immer eine Gratwanderung. Wie viel spezielle Interessen sind daran beteiligt? Es war eine grosse Errungenschaft der Aufklärung, die Menschenrechte für allgemeinverbindlich zu erklären. Aber im konkreten Fall haben sie immer auch eine Nase, und oft sitzt sie schief. Ganz andere Gesellschaften, die darum nicht minderwertig sein müssen, sehen dann nur die machtpolitische Einmischung, die Fortsetzung des alten Kolonialismus.

Sind Sie ein Kolonialist für Menschen- und Völkerrechte?
Muschg: Es ist ein Dilemma. Die Erbschaft der Aufklärung sollten wir im Sinne Voltaires weitertragen: «Ich bin nicht deiner Meinung, aber ich setze mein Leben dafür ein, dass du sie äussern kannst.» Grandios – machen wir’s doch eine Nummer kleiner, dafür mit echtem Respekt für das Anderssein der anderen. Auch Idealisten manipulieren, am meisten sich selbst. Vielleicht müssten wir weniger von Toleranz reden und mehr von Neugier und Interesse. Nicht nur gegenüber Chinesen, auch gegenüber den «eigenen» Ausländern müsste gelten: Schweizer sein heisst, fähiger werden, mit Differenzen zu leben, Widersprüche auszuhalten, die man nicht heute oder morgen bereinigen kann. Probleme bleiben unsauber, die Schweiz kann so sauber sein, wie sie will. Grundsätze sind zweischneidig, Verallgemeinerungen fatal. Und hier muss ich einen meiner heiligen Sätze loswerden: Wahrheiten erkenne man immer daran, dass das Gegenteil genauso wahr sei. Das steht in Goethes «Wanderjahren», es gilt auch, sagte Niels Bohr, in der Teilchenphysik.

Blocher: Ich würde dazu lieber ein praktisches Beispiel nennen: Ich habe mit Führung zu tun, den ganzen Tag. Ich lehre alle meinen Direktoren: Bringen Sie die Alternative! Wenn wir eine Lösung haben, haben wir nie eine gute Lösung, sondern immer die am wenigsten schlechte. Auch diese hat noch Nachteile, aber das dispensiert mich nicht vom Entscheid, entsprechend zu handeln. Trotz den Nachteilen. Bei der EWR-Abstimmung, als ich sehr alleine war, musste ich den ganzen Tag hören, wie die Crème de la Crème der Wirtschaft bis hin zu den Gewerkschaften, Parteien, Regierungen, Diplomaten sagten, die Schweiz habe keine Überlebenschance, wenn wir zum EWR nein sagen. Ich habe damals oft schlecht geschlafen, weil ich mir auch nicht immer ganz sicher war, ob ich recht habe. Jetzt geht es mir besser. Wir kommen nicht darum herum zu entscheiden. Und auch in der Asylpolitik ist es wichtig, dass man entscheidet und handelt. Als Bundesrat hatte ich mit Personen zu tun, die nach Hause mussten, und natürlich haben sie mir leidgetan. Sie sagten mir, sie hätten es hier doch besser als daheim. Ich erwiderte: Sie haben recht. Wären Sie alleine in der Schweiz, könnten Sie hier bleiben. Wenn ich nun aber ja sage, dann haben wir 10 000 oder 20 000 Menschen, die dasselbe wollen. Dieser Entscheid war nicht per se richtig oder falsch für diese Person. Mir tat es leid, dass die betreffende Familie gehen musste, und es tut mir leid, dass in Somalia schlechtere Verhältnisse herrschen als hier, aber wir können nicht anders vorgehen. In Europa wird diese unbewältigte Ausländer- und Asylfrage noch böse Folgen zeitigen.

Muschg: Herr Blocher, wenn ich diese ­Nuance – das Leidtun – in Ihrer Politik wiederfände: wunderbar. Ich fürchte nur: Dann wären Sie nicht der erfolgreiche Politiker, der Sie sind. Sie wissen, wie man Fronten begradigt – in der Kunst haben Sie, so viel ich sehe, einen weniger holzschnittartigen Geschmack. In der politischen Praxis opfern sie die drei armen ­Leute einem Prinzip: Für Pestalozzi hätte die Menschlichkeit beim Einzelfall angefangen. Bei der summarischen Behandlung hört sie auf.

Blocher: Das können Sie sagen! Wenn der Verantwortliche in Bern das sagt, dann ist das angenehm für ihn, für die drei Betroffenen vielleicht auch, aber für das Land nicht.

Muschg: Lieber Herr Blocher, ich meine ja nicht, dass sie einen Gnadenakt im Sinne des absolutistischen Souveräns aussprechen. Aber es ist ein deutlicher Unterschied, ob man eine Gesellschaft dazu trainiert, auf die anderen, auch wenn sie stören oder fremd sind, mit Abwehr zu reagieren. Ob man dann das Problem von den kriminellen Rändern her definiert oder ob man daran erinnert, was wir Ausländern verdanken. Das geltende Gesetz, das Sie als Justizminister noch gehandhabt haben, hat Sie nicht gezwungen, Ausländer nach Schwarz und Weiss zu sortieren. Dass Ihre Abstimmungspropaganda mit dieser schrecklichen Vereinfachung operiert, mag einprägsam sein; ich beneide Sie nicht darum. Es tut dem Land nicht gut. Es fördert die politische Idiotie, zu Deutsch: die Enge in eigener Sache. Statt Teil der Lösung, wird die Schweiz immer mehr zum Teil des Problems.

Herr Blocher, es ist ja unbestritten, dass sich Ausländer immer als ideale politische Sündenböcke eignen. Wo ziehen Sie die Grenze zwischen berechtigter Politik und Hetze?

Blocher: Es ist gar nicht so kompliziert. Natürlich kann man Bevölkerungsmassen irreführen. Noch viel leichter ist es, Parlamente in die Irre zu führen. Ich habe das als Bundesrat gesehen. Vor dem Blick hat niemand so viel Angst gehabt wie die Bundesräte. Das Volk war dagegen viel stärker immun. Zweitens bin ich ein realistischer Menschenbeurteiler. Der Mensch ist nicht nur gut. Er ist manchmal sogar böse. Ich habe nichts übrig für sogenannte Gutmenschen. Ich mag jene, die das Gute bewirken. Wo ist also die Grenze? Sie haben gefragt, wieso bringen Sie pointierte, provokative Botschaften ans Volk, wonach die kriminellen Ausländer rausmüssen? Weil wir während Jahren nicht gehört wurden im Parlament und im Bundesrat! Am Schluss müssen Sie sich doch an den Souverän wenden, an die betroffene Bevölkerung. Und ich habe nicht den Verdacht, dass die Schweizerinnen und Schweizer eine manipulierbare Masse sind, die man auf alle Seiten treiben kann.

Herr Blocher, Sie haben Herrn Muschg in der Debatte um nachrichtenlose Vermögen hart attackiert. Von Ihnen sind wenig schmeichelhafte Voten über Intellektuelle überliefert. Sind Sie ein Intellektuellenhasser?

Blocher: Ich bin kein Intellektuellenhasser. Die Frage lautet: Was ist ein Intellektueller? Wenn ein Intellektueller jemand ist, der studiert und einen Doktortitel hat, bin auch ich einer. Ich kämpfe gegen diejenigen, die nur Intellektuelle sind. Die haben nur eine einzige Ader, die massgebend ist: den Intellekt. Emotionen werden ausgeklammert, das konkrete Leben wird übersehen. Intellektuell kann man alles immer gut begründen, auch das Falsche. Deshalb sagte ich 1992: Die EU, der EWR und der Euro sind intellek­tuelle Fehlkonstruktionen. Jetzt haben wir am Beispiel Griechenland gesehen, dass der Euro tatsächlich nicht funktioniert. Ich bin klar gegen intellektuelle Systeme, die das Leben ausklammern. Ich lebe gerne!

Muschg: Herr Blocher, mit Ihrem Bild des Intellektuellen, das Sie eben gezeichnet haben, haben Sie musterhaft illustriert, warum es in der Schweiz keinen Platz für ihn gibt, und schon gar keinen Respekt ihm gegenüber. In Frankreich wüsste man besser, was ein Intellektueller sein kann: Einer wie Voltaire, der für seine Meinung das Leben einsetzt und das Exil der Unterwerfung vorzieht. Glauben Sie, als Zola sein «J’accuse» der bürgerlichen Gesellschaft entgegenschleuderte, das sei ohne Emotionen abgegangen? Oder das Bekenntnis europäischer Intellektueller zur Schweiz von 1848? Wenn man sich in der Schweiz eine intellektuelle Leistung an den Hut steckt, dann erst hinterher: zum Beispiel Spittelers Rede 1914 «Unser Schweizer Standpunkt». Wann feierte man sie? 1919, nachdem er den Nobelpreis erhalten hatte – gelesen hat man ihn darum noch lange nicht.

Zwischenfrage aus dem Publikum: Herr Muschg, sind Sie als überzeugter Demokrat der Meinung, dass die Europäer über die Dubliner und die Nizza-Verträge abstimmen sollten?

Muschg: Sie haben schon gewählt – nicht nur durch ihre Parlamente, auch durch Gewohnheit. Doch ist mir schon klar: Wenn in jedem Land ein Politiker mit dem Talent Herrn Blochers wirkt, der für den Alleingang trommelt, liegt die Antwort auf der Hand: Überall ergäbe die Volksabstimmung ein Nein zur EU. Zum Glück ist die EU kein Fall für Entweder-oder-Entscheidungen. Sie ist etwas für intelligente Leute – oder besser: für anspruchsvolle Leute.

Blocher: . . . nach dem EWR-Nein hat es geheissen: Die Dummen haben nein gestimmt und die Gescheiten haben ja gestimmt. Da habe ich gesagt: Ich gehöre ab sofort gerne zu den Dummen.

Muschg: Bitte schreiben Sie fürs Protokoll auf: für anspruchsvolle Leute, danke.

Herr Blocher, ist Herr Muschg für Sie ein Patriot?

Blocher: Ich glaube, er ist ein Patriot. Weil er sich mit dem Land auseinandersetzt. Er hat einfach völlig falsche Vorstellungen, er ist ein gefährlicher Idealist, weil er so weit weg vom menschlichen Leben ist.

Herr Muschg, Sie bekämpfen Herrn Blocher jetzt schon seit über dreissig Jahren. Hat es sich gelohnt?
Muschg: Sagen wir es so: Ich möchte Herrn Blocher, der mir bescheinigt, dass ich völlig unrecht habe, entgegnen: Er hat völlig halbrecht; und das sind die Schlimmsten!

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