Privatrecht und direkte Demokratie

Ansprache von Bundesrat Christoph Blocher am Abendempfang der « Study Group on an European Civil Code SGECC » vom 13. Dezember 2006 in Luzern

13.12.2006, Luzern

Luzern. In seiner Ansprache am Abendempfang der « Study Group on an European Civil Code SGECC » wies Bundesrat Christoph Blocher auf die Besonderheiten der direkten Demokratie und deren Auswirkungen auf das schweizerische Privatrecht hin. Im Hinblick auf das Projekt « European Civil Code » gab er zu bedenken, dass gleiches Recht immer auch mit der Gefahr verbunden sei, die gleichen Fehler zu machen.

Die Study Group on a European Civil Code tagt erstmals ausserhalb der Europäischen Union. Ich freue mich, Ihnen zu diesem Ereignis die Grüsse des Schweizerischen Bundesrates überbringen zu dürfen.

Sie tagen in der Schweiz. Was ist die Schweiz? Zunächst ist sie ein Teil Europas, aber will der EU nicht angehören. Und doch gehören wir alle, die hier versammelt sind, rechtsstaatlich verfassten, demokratischen Staaten an.

Das Unterscheidende ist lediglich die Tatsache, dass die schweizerische Demokratie eine direkte Demokratie ist. Was ist damit gemeint? In der Schweiz meint direkte Demokratie das Recht des Volks, in letzter Instanz über jedes vom Parlament beschlossene Gesetz befinden zu können. Diese Art der Demokratie, also Volksherrschaft, ist auch der Hauptgrund, warum die Schweiz nicht der EU angehört. Denn das Volk hat die Möglichkeit an der Urne zu allen entsprechenden Vorlagen Nein zu sagen. Und das ist mit dem EU-Beitritt unvereinbar.

Was heisst direkte Demokratie?

Was heisst nun Direkte Demokratie im konkreten politischen Alltag. Eine Volksabstimmung über ein vom Parlament beschlossenes Gesetz kommt dann zustande, wenn innerhalb von 100 Tagen nach Erlass eines Gesetzes 50’000 Stimmberechtigte eine Volksabstimmung verlangen. Anders als bei einer Verfassungsänderung findet also nicht in jedem Fall eine Volksabstimmung statt. Entsprechend ist statt von direkter Demokratie häufig auch vom fakultativen Referendum die Rede.

Heissen die Stimmberechtigten das Gesetz gut, so kann dieses in Kraft treten. Andernfalls ist es gescheitert. Die Abstimmung hat also weder bloss konsultativen noch plebiszitären Charakter. Deshalb kann die Regierung auch nach einer Abstimmungsniederlage im Amt bleiben, und auch das Parlament wird in diesem Fall nicht aufgelöst. Müsste die Regierung nach jeder verlorenen Abstimmung abtreten, dann hätten wir wahrscheinlich mehr Regierungswechsel zu verzeichnen gehabt als Italien. Also eine ganze Menge.

Privatrecht als Wiege der direkten Demokratie

Die direkte Demokratie ist ohne Zweifel die Besonderheit des schweizerischen Staatsrechts. Die Stimmberechtigten können damit unmittelbar auf die Gesetzgebung Einfluss nehmen und nicht nur, wie im Ausland üblich, über die Wahl bestimmter Personen und Parteien. Dies gilt selbstverständlich auch für das Privatrecht. Es stand sogar an der Wiege der direkten Demokratie in der Schweiz.

Das fakultative Referendum fand 1874 Aufnahme in die schweizerische Bundesverfassung, just zum gleichen Zeitpunkt, als Volk und Stände auch jener Verfassungsänderung zustimmten, die den Weg zur Vereinheitlichung des Privatrechts auf Bundesebene freimachte: Es folgte 1881 das Obligationenrecht und 1907 – nach einer nochmaligen Ergänzung der Verfassung – das Zivilgesetzbuch.

Das Zusammentreffen von direkter Demokratie und Rechtsvereinheitlichung in der Verfassung von 1874 war kein Zufall. Im Gegenteil. Den politischen Akteuren der damaligen Zeit war klar, dass ohne Ausbau der Demokratie auf Bundesebene keine Mehrheit für die Vereinheitlichung des Privatrechts auf Bundesebene zu finden war. Ohne Referendum keine Rechtseinheit!

Bedeutung der direkten Demokratie

Auch wenn das Referendum nur in wenigen Fällen ergriffen wird, darf man nicht glauben, dass die direkte Demokratie ohne Bedeutung ist.

Im Gegenteil: die direkte Demokratie ist die Möglichkeit, Nein zu sagen. So wissen alle politischen Akteure in der Schweiz – angefangen von den politischen Parteilen über den Bundesrat bis hin zum Parlament – nur zu gut, dass es ihnen nichts nützt, von einer Vorlage überzeugt zu sein, wenn sie schliesslich nicht auch die Stimmberechtigten überzeugen können. Die Referendumsmöglichkeit begleitet so die Gesetzgebung von Beginn weg. Der Wert der direkten Demokratie könnte man folglich als « Prävention gegen bürgerfeindliche Gesetze » bezeichnen.

Nun werden Sie fragen: Nützt oder schadet die direkte Demokratie dem Privatrecht?

Diese Frage kann man nicht beantworten. Weil es eine Frage der persönlichen Wertung ist.

Wer für ein Gesetz war, dem das Volk zugestimmt hat, rühmt dann meistens die Klugheit und Weitsicht des Volkes.
Wer hingegen in einer Volksabstimmung unterliegt, leidet an der Niederlage und verwünscht dann das « tumbe » Volk mitsamt der direkten Demokratie. Ähnliche Vorbehalte vermute ich auch auf Seiten der Wissenschaft. Das Privatrecht blickt bekanntlich auf eine sehr lange Geschichte des gelehrten Rechts zurück.

Da kann es schon als anstössig gelten, dass seit 200 Jahren Parlamente und damit zwangsläufig auch juristische Laien Hand ans Privatrecht legen.

Aber für viele gilt das erst recht, wenn das gemeine Volk mitentscheidet.

Privatrecht und Wissenschaft?

Es ist klar, dass ein solches Privatrecht nie und nimmer einem wissenschaftlichen Ideal entsprechen wird. Die Frage ist aber, ob das Privatrecht einem wissenschaftlichen Ideal entsprechen soll. Versucht man von diesen mehr oder weniger subjektiven Einschätzungen etwas Abstand zu nehmen, lässt sich etwa das Folgende sagen:

Die direkte Demokratie führt weder zu besserem noch zu schlechterem Privatrecht. Hingegen trägt sie zu einer besonderen Verankerung des Privatrechts im Volk bei und garantiert auf diese Weise für Stabilität und Verlässlichkeit. Dadurch mag der Fortschritt manchmal etwas später kommen. Dafür stellt dieser dann eine bleibende Errungenschaft dar.

Meine Damen und Herren. Welche Schlüsse ziehe ich aus dem Gesagten für Ihr Projekt: Den European Civil Code?

Ein European Civil Code

Zu bedenken ist, dass gleiches Recht immer auch mit der Gefahr verbunden ist, die gleichen Fehler zu machen.

In der Wirtschaft begegnet man dieser Gefahr mit dem Ruf nach (mehr) Wettbewerb. Wieso sollte Gleiches nicht auch für Privatrechtsordnungen gelten?

Wieso will man es verhindern, dass Staaten in einen Wettbewerb um die beste Privatrechtsordnung treten? Wieso soll zum Beispiel überall in Europa der gleiche Verbraucherschutz gelten?

Die Erfahrung der letzten Jahre und Jahrzehnte lehrt auf jeden Fall, dass unterschiedliche Privatrechtsordnungen einem regen Austausch von Gütern und Dienstleistungen nicht im Wege stehen. Dies gilt auch und gerade zwischen der Europäischen Union und der Schweiz.

Viel wichtiger als gleiches Privatrecht ist eben, dass sich alle Beteiligten – Staaten wie Private – an bestimmte grundlegende Werte halten. Ich denke da beispielsweise an den Schutz des Eigentums und der Vertragsfreiheit, aber auch an den Schutz der Persönlichkeit. An diesen Werten sollte sich auch ein European Civil Code immer wieder ausrichten. Nur so macht das Unterfangen überhaupt Sinn. Nur so lohnt sich der Aufwand. Dann aber lohnt sich jeder Aufwand! Ich wünsche Ihnen bei Ihrer Arbeit Glück und Erfolg.

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