Für eine wirtschaftlich starke, freie und sichere Schweiz

Ansprache von Bundesrat Christoph Blocher zum Nationalfeiertag 2005 (Schafisheim, Unteriberg, St. Moritz und Winterthur)

01.08.2005, Schafisheim, Unteriberg, St. Moritz und Winterthur

Es gilt das gesprochene Wort

Heute feiern wir den 714. Geburtstag unserer Schweizerischen Eidgenossenschaft. Wir feiern ihn wie den Geburtstag von betagten Menschen! Dankbar und freudig schauen wir zurück auf das Gewesene, dankbar und freudig gedenken wir heute der mutigen Männer und Frauen, die 1291 die Kraft und Weitsicht hatten, den Freiheitsbrief schreiben zu lassen und damit den Grundstein für die heutige Schweiz zu legen.

Warum gerade 1291?

Staaten entstehen nicht in einem einzigen Moment. Staatengründungen sind Prozesse, die längere Zeit dauern. Nicht allein das Datum des Rütlibriefes von Anfang August 1291 wäre als Geburtsstunde möglich gewesen: Man hätte sich auch auf die Einigung der zerstrittenen Orte im Stanser Verkommnis von 1481 verständigen können. Oder die faktische Loslösung vom Römisch-Deutschen Reich nach dem Schwabenkrieg von 1499 oder der formelle Reichsaustritt anlässlich des Westfälischen Friedens von 1648. Manche sähen vielleicht lieber die Gründung des modernen Bundesstaates von 1848 als Geburtstagsjahr.

Vom Gehalt des Bundesbriefes

Und doch meine ich, die Rückbesinnung auf den Bundesbrief von 1291 sei zutiefst richtig und sinnvoll. Denn der wichtigste Gedanke dieses historischen Dokumentes ist, das Heft in Eigenverantwortung selbst in die Hand zu nehmen und keine Fremdbestimmung mehr zu dulden. Die Frage lautete damals ganz einfach: Wer soll über die inneren Verhältnisse der Länder am Vierwaldstättersee entscheiden? Die Antwort gegenüber dem angeblich ordnenden, harmonisierenden und vereinheitlichenden habsburgischen Verwaltungsstaat war ein lautes und deutliches Nein. Die drei «Länder» der Urschweiz entschieden sich für Eigenverantwortung, für Handlungsfreiheit und Selbstbestimmung. Der Rütlischwur und die Landsgemeinden bilden darüber hinaus den Ursprung einer ausgeprägten Volksherrschaft, unserer heute weltweit einzigartigen, viel beneideten direkten Demokratie.Diese ersten eidgenössischen Staatsmaximen haben unser Land im Laufe der 714 Jahre bis heute geprägt. Der kleine Bund von damals ist im Laufe der Jahrhunderte gewachsen, im Vergleich mit den meisten anderen Staaten aber klein geblieben. Er hat nicht zuletzt wegen seiner geringen Grösse seinen Bürgern ein Mass von Selbstbestimmung und damit Freiheit bieten können, das unvergleichbar ist.

Rückbesinnung auf die Freiheit

Die Schweiz hat in ihrer Geschichte Zeiten der inneren Zerrissenheit, der Krisen, Fremdeinmischung, Überheblichkeit und des Versagens immer wieder gemeistert, wenn sie sich auf die Werte von 1291 zurückbesonnen hat. Wäre es nicht auch gerade heute, und bei all den meist gut gemeinten, aber oft keineswegs guten Rezepten für die Zukunft, richtig, sich auf diese Grundweisheiten zu besinnen? Liegen nicht gerade in den uralten Wahrheiten des Bundesbriefes die Grundlagen für unsere Gegenwart und unsere Zukunft? Müssten diese Werte nicht auch heute wieder neu genutzt werden? Wie steht es Im Jahr 2005 mit der Freiheit, der Eigenverantwortung der Bürger, der Unabhängigkeit des Landes?Die Freiheit ist das höchste und wertvollste Gut – dafür stehen 714 Jahre Schweizer Geschichte. Diese Freiheit ist nicht ideologisch definiert oder historisch gebunden, sondern immer eine Antwort auf die jeweilige Zeitfrage. Sie muss immer wieder neu überlegt, gefordert und gelebt werden.

Wohlfahrt fördern

Gerade heute, wo die Angst um die Wohlfahrt im Mittelpunkt steht, sollten wir uns auf das Erfolgsrezept unseres Landes besinnen: Es gilt, die manchenorts erstickte Freiheit wieder zu beleben und mit neuem Leben zu erfüllen. Die Bürgerinnen und Bürger gehören in den Mittelpunkt, nicht die staatlichen Institutionen. Die Verantwortung des Einzelnen muss an die Stelle der staatlichen Vormundschaft treten. Statt grosszügiger Verschwendung auf Kosten der nachfolgenden Generationen und statt dauernder Erhöhung von Zwangsabgaben haben wir das Geld möglichst bei den Bürgern zu belassen. Die Wirtschaftsentwicklung verschiedener Länder zeigt es immer wieder: Die Bürger und Bürgerinnen nutzen das Geld sinnvoller als die umverteilende Bürokratie. Geben wir den Bürgern diese Freiheit, stutzen wir bürokratische Regeln und Zwangsabgaben zurück zugunsten der Eigenverantwortung des Einzelnen!

Angst vor der Kleinheit?

Viele Bürger unseres Kleinstaates haben heute Angst davor, als kleines Land nicht mehr bestehen zu können. Grösse sei angesagt, Harmonisierung und Zusammenarbeit. Das tönt schön und mag in manchem seine Berechtigung haben. Aber hat uns die Vergangenheit der Schweiz nicht anderes gelehrt? Die heutigen Zeiten sind schnelllebig geworden, die neuen Bedrohungen erweisen sich als schwer berechenbar und erfolgen überraschend. Der Terror umgeht die zentralistisch aufgebauten Sicherheitssysteme und schlägt dezentral zu. Gefordert ist heute vor allem Flexibilität, die Fähigkeit, mit dem Unerwarteten, Unerhörten, Neuartigen umzugehen und fertig zu werden. Auch in der Wirtschaft! Die Verwundbarkeit der modernen, eng vernetzten Gesellschaft ist zu erkennen und zu schützen. Mit schwerfälligen, zentralistischen Staatsorganisationen ist da wenig auszurichten. Sicherheit an Ort und Stelle, in den Gemeinden, Quartieren, die Selbstverantwortung der Nachbarschaft, in Zügen, in Bussen, auf der Strasse ist gefragt. Das Abschieben der Verantwortung an internationale Gremien und Funktionäre taugt im Ernstfall nicht.Aber auch an die anderen Stärken unseres Landes müssen wir denken.Ein Kleinstaat darf sich nicht in jede Streitigkeit ziehen und zur Parteinahme verleiten lassen. Eine bewaffnete Neutralität schützt unser Land nach wie vor besser als die Einbindung in fremde Bündnisse. Ein Bündnis mit jemandem ist immer auch ein Bündnis gegen andere. Es besteht die Gefahr, an der Seite eines stärkeren Partners unfreiwillig in Konflikte hineingezogen zu werden.Gerade die jüngsten Terroranschläge zeigen, dass die Abweichung von diesem Prinzip auch in Zeiten überstaatlicher Auseinandersetzungen einen besseren Schutz bietet als voreilige Parteinahme.Neutralität darf deshalb nicht heissen, sich aktivistisch überall einzumischen und Stellung zu beziehen.Natürlich soll es auch in der Sicherheitsfrage Austausch und Verträge mit anderen Staaten geben. Die Schweiz war nie isoliert im Sinne von losgelöst von ihrem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Umfeld. Es gab und gibt keinen Planeten Schweiz. Nur darf unser Land trotz aller internationaler Verflechtungen nie das Prinzip der Souveränität verlassen. Die Devise muss heissen: Zusam-menarbeit und Austausch mit aller Welt, aber keine politische Einbindung. Handlungsfreiheit und Selbstbestimmung haben Vorrang.

Liberaler Nationalstaat als Erfolgsrezept

So wie das Jahr 1291 für Freiheit und Selbstbestimmung steht, obsiegten 1848 sowohl der Liberalismus als auch der Nationalstaat. Beides, Freiheit und Unabhängigkeit, Eigenverantwortung und Selbstbestimmung standen auch zur Gründungszeit des Bundesstaates im Mittelpunkt.In den vergangenen Jahren wurde leider das Einstehen für Freiheit und Unabhängigkeit zunehmend vernachlässigt. Dies hat nicht nur das Selbstvertrauen der Bürger erschüttert, die Auswirkungen auf die Wirtschaft sind mindestens ebenso ernüchternd. Sie entwickelt sich schlecht: Nur der friedliche Wettbewerb unter Staaten, nicht der gleichmacherische Internationalismus schafft Wohlstand, Wachstum und Fortschritt. Wir haben es selber in der Hand: Ein überschuldeter Staatshaushalt, explodierende Sozial- und Gesundheitskosten, übermässig anwachsende Aufgaben, die anmassende Haltung der öffentlichen Hand mit den entsprechenden Ausgaben, zunehmende Regulierung und Bürokratisierung, Ansteigen der Arbeitslosenraten sind Ursachen und Folgen zugleich. Der in Anpassung an den Zeitgeist schleichend ausgebaute Sozial- und Umverteilungsstaat übersteigt nicht nur unsere finanziellen Möglichkeiten, er untergräbt – was schlimmer ist – zunehmend die Selbstverantwortung in unserem Land. Die Abkehr vom Sonderfall hat der Schweiz jeden-falls mehr geschadet als genützt.

Was ist zu tun?

Der Aufbruch zu den Werten des alten Bundesbriefes ist heute dringend nötig geworden. Freiheit, Selbstbestimmung, Selbstverantwortung: Diese Werte haben unser Land stark und wohlhabend gemacht. Besonders bei den heute wichtigen Fragen der Sicherheit und der Wirtschaft sind Handlungsfreiheit, eine hohe Flexibilität, Schnelligkeit, Dezentralisierung, aber auch Unvoreingenommenheit und Qualitätsbewusstsein gefragt. Das sind Fähigkeiten, die ein Kleinstaat schnell ausbauen und nutzen kann.Wer aber Sicherheit sucht und dafür die Freiheit opfert, hat weder das eine noch das andere verdient (Benjamin Franklin). Frei und unabhängig sein, kann man nicht ohne ein gewisses Mass an Risiko. Das gilt in der Terrorbekämpfung, in der Wirtschaft und im Staat.

Schlusswort

Ich bin überzeugt, dass ein Aufbruch zur alten Freiheit, zum eigenverantwortlichen Handeln des Bürgers, zur Unabhängigkeit des Landes im friedlichen Neben- und Miteinander aller Staaten das beste Modell für eine erfolgreiche Zukunft unseres Landes darstellt.

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