Unsere Wirtschaft orientiert sich an Blochers Alleingang

Schweizer Unternehmer gehen trotz schleppendem Wirtschaftswachstum auf Distanz zu Europa. Damit werden wichtige Reformen versäumt: Die Schweiz gerät immer mehr ins Hintertreffen.

Interview mit « Cash » vom 29. November 2002

von Annetta Bundi, Jürg Wegelin

Der 6.  Dezember 1992 markiert nicht nur für die Schweiz, sondern auch im Leben von Christoph Blocher einen Wendepunkt. Sein erbitterter Kampf gegen den EWR wurde vom Volk zwar knapp unterstützt, doch das gedemütigte Establishment reagierte betupft: Wenige Monate nach der denkwürdigen Abstimmung musste der Zürcher Volkstribun seinen Sessel im Verwaltungsrat der damaligen Bankgesellschaft räumen.

Solche Strafaktionen sind heute nicht mehr denkbar. Denn die Wirtschaft
ist inzwischen auf den Kurs von Blocher eingeschwenkt. Von einer
«nationalen Katastrophe», wie sie der verstorbene Spitzendiplomat und
langjährige ABB-Kopräsident David de Pury in der Schweiz nach dem
EWR-Nein geortet hatte, mag niemand mehr sprechen. Im Gegenteil: Eine
Verhärtung der Fronten wird achselzuckend in Kauf genommen, wie das
Gerangel ums Bankgeheimnis zeigt. «Blocher hat sich auf der ganzen Linie
durchgesetzt», urteilt Peter Bodenmann, der ehemalige SPPräsident und
spitzzüngige Walliser Hotelier. «Politik und Wirtschaft haben sich aus der
EU-Diskussion verabschiedet. »

Blochers Taktik ist aufgegangen. Zehn Jahre nach der EWR-Abstimmung
mag sich am Europa-Thema niemand mehr die Finger verbrennen. Sein
Triumph entpuppt sich allerdings als Pyrrhussieg: Die Exportwirtschaft zum
Beispiel zahlt den vom Volkstribun gerne ins Feld geführten Zinsvorteil
gegenüber der EU mit einem auf hohem Niveau fluktuierenden
Frankenkurs. Und tiefe Kapitalkosten nützen dem Investor wenig, wenn
die Baupreise, wie fast alle anderen Preise (siehe Box), höher sind als bei
der ausländischen Konkurrenz.

Gravierender, als Blocher vorgibt, ist auch das Wachstumsdefizit der
Schweiz: Dieses besteht zwar bereits seit Mitte der Siebzigerjahre, hat seit
der Ablehnung des EWR-Vertrages 1992 aber stark zugenommen (siehe
Grafik). Die Länder der EU hingegen profitieren von der Integration in den
Binnenmarkt und vom Schwung der damit ausgelösten Reformen.
Österreich hat die Schweiz inzwischen nicht nur im Skifahren, sondern auch
beim Wirtschaftswachstum abgehängt.

Die Schweiz ist aus eigener Kraft nicht zu Reformen fähig

Kein Wunder, macht nun das Wort vom «verlorenen Jahrzehnt» die Runde.
Avenir Suisse, der Think Thank der Wirtschaft, spricht im Unterschied zur
Schönfärberei ihrer Auftraggeber in den Chefetagen gar von einer doppelt
verpassten Chance: «Weder erntet man die vollen Früchte des grossen,
dynamischen Binnenmarktes, noch wurde der heimische Boden mit den
notwendigen Reformen für das zukünftige Wachstum bestellt.»

Die Schweiz ist nicht fähig, ihre verkrusteten Strukturen aus eigener Kraft
aufzubrechen. «Wenn wir dem EWR beigetreten wären, wären uns die
unfruchtbaren Diskussionen über die Liberalisierung des Post- und
Strommarktes erspart geblieben», ärgert sich Silvio Borner. Der Basler
Ökonom sagt der Schweiz schwierige Zeiten voraus. Die EU stelle unser
Land Schlag auf Schlag vor vollendete Tatsachen: «Im Anpassungsprozess
werden wir der EU auch in Zukunft dauernd hinterherhinken.» Damit ist der
von Blocher propagierte Alleingang schleichend Realität geworden. Denn
für einen EU-Beitritt fehlen der Schweiz derzeit die Kraft und der Wille.
Gleiches gilt für die neuen bilateralen Verhandlungen, die zwar als
Pflichtübung weitergeführt, aber kaum je abgeschlossen werden dürften.

Die EU drängt auf immer grosszügigere Zugeständnisse. So erwartet sie
von der Schweiz, dass diese ihren Acquis und damit das geltende und
künftige EU-Recht übernimmt. Dieses Angebot ist für die Schweiz nicht
akzeptabel, und deshalb haben die Durchhalteparolen von Politik und
Wirtschaft bloss noch symbolischen Charakter. «Es gibt keinen anderen
Weg als den Bilateralismus», versucht Economiesuisse-Chef Ueli Forster
der Wirtschaft Mut zu machen. Doch er weiss, dass deren Anliegen mit
dem ersten Paket weit gehend erfüllt sind und der bilaterale Weg
«mühsam und Zeit raubend» ist.

Beliebte Shopping-Ausflüge ins Ausland

Derweil arrangiert sich die Schweizer Bevölkerung mit ihren Nachbarländern
auf eine bestechend simple Art: Tausende von Konsumenten shoppen im
grenznahen Ausland oder benutzen das verlängerte Wochenende in Paris
für den Einkauf von Medikamenten oder Fleisch. Damit folgen sie Borners
Beispiel. Der Ökonom pfeift auf das Schweizer Buchkartell und beschafft
sich seine Bücher bei Amazon im Internet. «Für meine Online-Einkäufe
führe ich ein Bankkonto in Grossbritannien.»

Solche Rezepte mögen dem einzelnen Bürger helfen. Doch taugt der
Alleingang auch für die Schweiz als ein stark exportorientiertes Land
mitten im europäischen Binnenmarkt? Blocher gibt sich selbstbewusst und
beruft sich auf die Welthandelsorganisation: «Die EU muss sich an die
WTO-Regeln halten.» Mit Zöllen und dergleichen könne sie die Schweiz
deshalb nicht unter Druck setzen. «Als zweitwichtigster Kunde der EU
könnten wir notfalls auch Retorsionsmassnahmen ergreifen.» Da könnte
sich der machtbewusste Volkstribun indes gewaltig täuschen. «Die WTO
setzt auf grosse Wirtschaftsräume und nicht auf Einzelkämpfertum», ist
Europarechts-Experte Thomas Cottier überzeugt.

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