«Herr Blocher, helfen Sie mit beim Bau von Europa»

Christoph Blocher und Daniel Cohn-Bendit im Streitgespräch über die Schweiz und ihre mögliche Rolle in der Europäischen Union

Streitgespräch mit Daniel Cohn-Bendit in der Weltwoche vom 8. Februar 2001

Das Interview wurde von Marc Comina und Jean-Claude Péclet für die Genfer Tageszeitung «Le Temps» geführt und auf Französisch am 28. Januar publiziert. Leicht gekürzter Abdruck mit freundlicher Genehmigung von «Le Temps».

Übersetzung: Jacqueline Meier

Daniel Cohn-Bendit, Sie stehen der Europäischen Union wegen ihres Demokratiedefizits kritisch gegenüber. In einem gemeinsam mit François Bayrou erfassten Aufruf schreiben Sie: « Das ist keine Demokratie. » Sie behaupten, dass die Bürger Europas nicht mitbestimmen könnten, dass die Distanz zu denen, die sie regieren, zu gross sei, und so weiter. Weshalb sollten die Schweizer ihr Privileg aufgeben und einem Gebilde beitreten, in dem diese Nähe fehlt?

Daniel Cohn-Bendit: Wenn die Schweiz der Europäischen Union beiträte, würde ihre politische Kultur deshalb nicht verschwinden, so wenig wie diejenige Frankreichs, Schwedens, Luxemburgs, Dänemarks und anderer verschwunden ist. Zudem handelt es sich beim Gebilde Europa um ein neues, sich im Bau befindendes politisches System. Der Text, auf den Sie anspielen, beruht auf der Tatsache, dass die EU verfassungsähnliche Verträge erstellt hat, die aber nicht den Charakter eines grundlegenden Konsenses aufweisen. Christoph Blocher hat Recht, wenn er die Werte aufzählt, auf denen die Schweiz aufgebaut ist: direkte Demokratie, Dialog zwischen den Minoritäten und so weiter. Genau dies wünsche ich mir für Europa. Im Kampf um eine Verfassung für Europa hätte die Schweiz einen positiven Beitrag zu leisten: Wie kann man dieses politische Gebilde Europa verbessern, damit die Bürger mehr Einfluss auf die Entscheidungen nehmen können, die ihren Alltag bestimmen?

Christoph Blocher: Sie sagen, das europäische Gebäude befinde sich im Bau. Während meines Studiums nach dem Krieg war auch ich ein überzeugter Befürworter einer Annäherung der Länder Europas, aber ich habe mich für eine Lösung eingesetzt, die die Identität der Staaten bewahrt. Es ist leider anders gekommen.

Cohn-Bendit: Wenn man eine politische Union wie diese schafft, muss man sich immer die Frage nach der Machtverteilung von unten nach oben oder von der Peripherie zum Zentrum stellen. Nichtsdestotrotz: Faszinierend am Erfolg Europas ist die Tatsache, dass es gelungen ist, eine der kriegerischsten Regionen der Welt in einen Hafen des Friedens zu verwandeln. Es hat mehrere Versuche gegeben, Europa zu vereinigen, aber das geschah immer unter der Führung eines Staates mit hegemonialem Anspruch. Nach der Niederlage Deutschlands 1945 und nach dem Zusammenbruch der Kolonialmächte in den fünfziger Jahren hat die EU zum ersten Mal die Voraussetzungen geschaffen, damit eine demokratische Allianz entstehen konnte.

Blocher: Das bestreite ich nicht. Aber ich frage mich, ob Europa nicht auch ohne die EU friedlich geworden wäre.Als Churchill nach 1945 zur Annäherung der Völker aufrief, meinte er bestimmt nicht die heutige Form einer Union, und dass Grossbritannien dazugehört, hätte er schon gar nicht gewollt. Er wollte, dass etwas unternommen wird, um den – um in Ihrer Terminologie zu bleiben – Vormachtgelüsten auf allen Seiten ein Ende zu setzen. In diesem Sinne haben Sie Recht: Genau das ist eingetreten. Aber wäre es ohne die EU anders gekommen? Diese Frage muss offen bleiben.

Cohn-Bendit: Überhaupt nicht. Die grossen Europäer, die Väter und die Mütter der EU, haben dafür gesorgt, dass es zu einem Austausch zwischen den Ländern kam. Sie waren davon überzeugt, dass die Menschen im Alltag zusammenleben, Geschäfte machen, ihre Kultur austauschen sollten, kurz, dass sie sich im Alltag gegenseitig beeinflussen sollten. Nur so konnte neben ihrer nationalen Identität auch eine gemeinsame Identität und Kultur entstehen, die die Frage nach Krieg oder Frieden immer mehr in den Hintergrund treten liess.

Blocher: Es reicht nicht, dass sich Menschen verschiedener Nationalität treffen, damit ewiger Friede herrsche. Anfang der neunziger Jahre hat Jacques Delors, der einer der führenden Europäer war, eine Erklärung abgegeben, die mir die Augen geöffnet hat: Er sagte nämlich, dass die EU mit der direkten Demokratie, wie wir sie in der Schweiz kennen, nicht operieren könne und dass ein gewisses Mass an Zentralismus notwendig sei, da sonst die grossen Ziele der Union unerreichbar blieben. Da wurde mir klar, dass es sich hier um einen Franzosen handelt, der so dachte, um jemanden mit einem zentralistischen Denkmuster, dem Föderalismus nicht viel bedeutet.

Denken Sie, dass sich die EU in Richtung Föderalismus entwickeln kann?

Cohn-Bendit: Der Kampf um eine föderalistische Verfassung ist eröffnet. Im Moment findet die politische Diskussion statt. Es gibt unterschiedliche politische Kulturen, die es zusammenzubringen gilt, um zu einer grundsätzlichen Übereinstimmung zu gelangen. Es ist schwierig, den Ausgang dieses Prozesses vorauszusagen. Ich kann nur meine Position wiederholen: Ich kämpfe für ein föderalistisches Europa, und deshalb halte ich den Beitrag der Schweiz für wichtig. Ich persönlich könnte nur profitieren, wenn Christoph Blocher beim Bau Europas mitmachen würde.

Blocher: Wenn die Schweiz EU-Mitglied wäre, würden wir auf derselben Seite kämpfen. Damit hätte ich kein Problem. Aber ich möchte auf den Erfolg Europas zurückkommen, den Sie erwähnt haben, und einen Vergleich anstellen: Auch die Schweiz ist ein Erfolg! Auf politischer Ebene basiert er auf der Freiheit, auf dem umfassenden Stimmrecht, auf dem breiten Spielraum an Entfaltungsmöglichkeiten der Bürger. Unsere direkte Demokratie garantiert dem Bürger ein maximales Mitbestimmungsrecht. Das ist unsere Stärke. Sogar wenn die Regierung schwach war oder den falschen Weg einschlug oder gar Dummheiten machte, gab es immer Bewegungen aus dem Volk, die die Dinge wieder ins Lot brachten. Wunderschön haben das die Schweizer ja während des Zweiten Weltkrieges demonstriert.

Cohn-Bendit: Ohne mich auf eine Debatte über diese Zeit einlassen zu wollen, möchte ich doch festhalten, dass damals nicht alles zum Besten stand.

Blocher: Jedes Land hat Fehler gemacht, da sind die Schweizer nicht besser als andere. Aber als die Regierung zu wanken begann und sich dem Druck der Achsenmächte beugen wollte, hat das Volk reagiert. Der zweite Faktor ist die Wirtschaft. Wie erklärt man den wirtschaftlichen Aufschwung eines derart armen kleinen Landes? Der Grund ist unsere Verfassung, die wirtschaftliche Ordnung, die wir uns gegeben haben und die typisch ist für ein kleines Land – so konnten wir den Wohlstand für möglichst viele garantieren. Ein EU-Beitritt würde auf beiden Ebenen grosse Opfer verlangen.

Cohn-Bendit: Ich möchte mit dem Ende beginnen: Die Welt sieht sich mit Problemen konfrontiert, die kein Land allein lösen kann. Das Klima beispielsweise. Die Schweiz schlägt eine interessante, in gewisser Hinsicht vorbildliche Politik vor zur Reduktion des CO2-Ausstosses. Auch die Verlagerung des Verkehrs von der Strasse auf die Schiene ist vorbildlich. Aber die Klimakatastrophe kann nur verhindert werden, wenn auf globaler Ebene ein radikales Umdenken stattfindet. Welche umweltbewussten Kräfte können eine kritische Masse bilden, um diese Umkehr herbeizuführen? Ich setze meine grösste Hoffnung in eine entschiedene Haltung der EU, um die Vereinigten Staaten und die südostasiatischen Länder dazu zu bringen, stärker einschränkende Massnahmen in den internationalen Abkommen zu akzeptieren. Wenn die Schweiz EU-Mitglied wäre, würde die EU in diesem Sinne gestärkt. Allein kann die Schweiz in Rio oder Kioto nichts, absolut nichts erreichen, wie vorbildlich ihre Politik auch sein mag. Ihr Einfluss beträgt 0,01 Prozent. Und wenn es uns nicht gelingt, die gegenwärtige Entwicklung des Klimas umzukehren, wird auch der Schnee in den Alpen schmelzen, und zwar für immer. Es geht hier auch um die Identität der Schweizer.

Blocher: Es ist richtig, dass der Einfluss der Schweiz auf die Welt trotz ihrer klugen Politik gering ist. Für diese Art Probleme braucht es Koalitionen. Deswegen dürfen wir nicht aufgeben, denn wenn jeder sich hinter seinem Unvermögen versteckt, die Probleme allein zu lösen, unternimmt keiner mehr etwas. Ich möchte hinzufügen, dass wir zu den wenigen gehören, die ihren Verpflichtungen nachkommen.

Cohn-Bendit: Aber das bringt nichts. Sie müssen verstehen, dass wir angesichts der Globalisierung verpflichtet sind, Möglichkeiten zur Regulierung zu entwickeln. Der grösste aller Liberalen, Adam Smith, hat schon festgestellt, dass sich die Märkte nicht selbst regulieren. Sie folgen ihrer eigenen Logik, das ist eine Tatsache, die wir berücksichtigen müssen. Die Aufgabe der Politiker ist es, Gesetze einzubringen, damit möglichst viele Leute davon profitieren können. Die Welt funktioniert heute nach den Gesetzen der amerikanischen Wirtschaft, die faszinierende, aber auch abscheuliche Aspekte hat. Es ist für jede Demokratie auf diesem Planeten inakzeptabel, wenn eine Macht die anderen dominiert und ihr ihre Denkweise aufzwingt. Gegen eine solche Macht, die in der Lage ist, ihre Interessen aggressiv zu verteidigen, hätte eine lockere Allianz von Ländern, die sich von Fall zu Fall zu einem Zusammengehen entscheiden, keine Chance. Wollen wir ein Gleichgewicht herstellen in der Welt, brauchen wir eine politische Allianz, die, im Rahmen einer Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten, ein Gegengewicht darstellt.

Wie wichtig ist der Euro für die EU?

Cohn-Bendit: Ich bin überzeugter Anhänger des Euros. Weshalb? Weil ich es längst nicht mehr lustig finde, dass unsere Länder vom Dollar und der amerikanischen Wirtschaft abhängig sind. Ich bin absolut überzeugt, dass der Euro die dritte oder vierte grosse historische Errungenschaft der EU bedeutet. Wer aber eine gemeinsame Währung will, muss auch eine gemeinsame politische Verantwortung tragen. In dieser historischen Phase befinden wir uns jetzt.

Blocher: Ich halte den Euro für den grössten Fehler der EU. Weshalb? Es reicht nicht zu sagen, dass ihr alle nun dieselbe Währung habt. Heute macht jedes Land seine eigene Geldpolitik, die mehr von der Wirtschaft als von der Regierung bestimmt wird. Ich schätze die Währungsautonomie der Schweiz, denn diese ist das Instrument, mit dem wir die Inflation, die Konjunktur und damit den Wirtschaftslauf beeinflussen können. Wenn Sie auf einem heterogenen Gebiet wie Europa nur noch eine einzige Geldpolitik anwenden müssen, haben Sie eine für wohlhabende Gebiete zu schwache Währung und vice versa. Das bringt in beiden Fällen Beschäftigungsprobleme mit sich.

Cohn-Bendit: Ich will hier keinen neuen Marxismus predigen und behaupten, dass mit dem Euro alles bestens sein wird. Ich sage, dass der Euro ein erster Schritt in Richtung eines föderalistischen Europa ist.

Blocher: Um die Union wieder ins Gleichgewicht zu bringen, werden Sie ein Finanzausgleichssystem einführen müssen. Wollen Sie das?

Cohn-Bendit: Ja, das will ich!

Blocher: Dann sind Sie nur auf dem Papier ein Föderalist.

Cohn-Bendit: Ich bin für den Föderalismus und gegen den Egoismus. Ich bin nicht für einen Föderalismus der Wohlhabenden gegen die Armen. Ich will, dass die reichen Regionen Verantwortung übernehmen für die benachteiligten.

Blocher: Um Ihr Ziel zu erreichen, wird der Euro nicht genügen. Sie müssen die einheitliche Währung mit weiteren Massnahmen begleiten.

War die Intervention der EU in Österreich richtig?

Cohn-Bendit: Ja, sie war eine notwendige Katastrophe. Die einzige Konsequenz war, dass die anderen vierzehn Länder keine bilateralen Kontakte mehr mit ihm hatten. Einfach gesagt heisst das, dass in dieser Zeit weder Jörg Haider noch Wolfgang Schüssel im Elysée beziehungsweise im Berliner Kanzleramt zum Dinner geladen waren. Sonst nichts. Darin liegt die Macht der Europäischen Union: Österreich hat weiterhin teilgenommen am Leben innerhalb der Organisation. Zur Katastrophe: Das Beispiel Österreich hat uns gleichzeitig auf ein Problem hingewiesen, dessen Tragweite erst im Hinblick auf die EU-Osterweiterung ersichtlich wird: Was geschieht, wenn ein Mitglied den demokratischen Konsens verletzt, auf dem die Union basiert? Es ist uns bewusst geworden, dass die europäischen Verträge für solche Fälle keinen Spielraum offen lassen. Stellen Sie sich die Situation vor, dass ein Land der EU beitritt und am nächsten Tag beschliesst, einen Teil seiner Bevölkerung auszuschliessen. Es ist klar, dass die EU in diesem Fall einschreiten können muss.

Blocher: Für den Bürger eines kleinen demokratischen Landes wie der Schweiz ist das, was da geschehen ist, unhaltbar. Es hat gezeigt, dass die schönen Werte, die die EU verteidigt, nur eine Fassade waren. Was ist geschehen? Ein Land hat gewählt, es kamen zwei Parteien an die Macht, die den anderen Staaten nicht gepasst haben – unter ihnen solche, die in ihre eigene Regierung Faschisten und Kommunisten aufgenommen haben, also Leute, die moralisch verantwortlich sind für die schlimmsten Verbrechen an der Menschheit. Darüber hat sich niemand aufgeregt. Aber dem kleinen Österreich hat man mit Boykott gedroht, Belgien hat seinen Bürgern empfohlen, nicht mehr in Tirol Ski fahren zu gehen. Entschuldigen Sie, aber eine solche Haltung ist nicht mehr weit von derjenigen entfernt, wo empfohlen wird: « Kauft nicht bei Juden! »

Christoph Blocher, wo steht die EU in fünf Jahren?

Blocher: In fünf Jahren wird die EU nicht viel anders aussehen als heute. Die Verhandlungen für die Osterweiterung werden im Gange sein, aber die neuen Mitglieder werden noch nicht zugelassen sein. Längerfristig gesehen, in zwanzig Jahren etwa, hat sich die EU möglicherweise, aber nicht sicher in einen viel lockereren Zusammenschluss von Staaten verwandelt, dem in diesem Fall die Schweiz wahrscheinlich angehören würde.

Cohn-Bendit: In fünf Jahren werden Polen, Ungarn und die Tschechische Republik wahrscheinlich EU-Mitglieder sein. In zwanzig Jahren werden wir eine föderalistische EU mit einer Verfassung haben. Es wird etwas Neues sein, mit den Vereinigten Staaten von Amerika nicht vergleichbar, etwas zwischen einem Staat und einem Bündnis. In fünf Jahren wird die Debatte um den EU-Beitritt in der Schweiz in vollem Gange sein. In zwanzig Jahren wird die Schweiz Vollmitglied der EU sein, und Christoph Blocher wird vielleicht sagen: « Es ist ja gar nicht so schlimm, wie ich dachte. »

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