Christsein im Alltag

Ansprache anlässlich des Reformationssonntages in der reformierten Kirchgemeinde Wasen im Emmental am 1. November 1998

Ihr Pfarrer hat mich noch im letzten Jahr gebeten, heute – am Reformations-sonntag 1998 – eine sogenannte Laienpredigt zu halten. Ich habe ihm damals einschränkend zugesagt, dass ich keine Predigt halte, sondern ihm höchstens für einen Vortrag zusagen könne. Ich lehne es nämlich aus theologischen Gründen ausdrücklich ab, eine Predigt zu halten. Dies, weil ich die Kirche und damit den Gottesdienst ernst nehme. Predigen sollen die Pfarrer, aber die Pfarrer sollen dann im Gottesdienst auch predigen und nicht Vorträge halten. Predigen heisst: Das Evangelium verkünden in Auslegung der Heiligen Schrift. Die Pfarrer – nicht ich – sind ausgebildet und eingesetzt zu diesem Amt der Predigt.

Vom Risiko der Laienpredigt

Erst einige Monate später hat mir ihr Gemeindepfarrer geschrieben: «  »Wir » – ich nehme an, dass damit die Mitglieder des Kirchgemeinderates gemeint sind – « teilen mit Ihnen die Auffassung, dass die Kirche den Auftrag zu predigen hat und nicht zu politisieren. So ist es dem Kirchgemeinderat ein Anliegen, dass auch am Reformationssonntag keine Ausnahme gemacht wird ».

Was steckt wohl hinter solchen Zeilen? Ich nehme an, dass im Kirchgemeinderat plötzlich einzelne Mitglieder die Angst gepackt hat, der Politiker Christoph Blocher sage ungeschminkt, was er denkt. Das könnte dem Kirchgemeinderat oder vielleicht sogar der Kirche zur Kritik gereichen. Vielleicht haben Sie auch gedacht, ein solcher Redner könnte dem eigenen « Christsein » schaden! Und das passt eigentlich ganz gut zum Thema, welches Sie mir gegeben haben, nämlich zum « Christsein im Alltag ».

Verdächtiger Vortragstitel

Ehrlich gesagt, dieses Thema bereitet mir Mühe. Die beiden Hauptwörter « Christsein » und « Alltag » scheinen nicht recht zusammen zu passen, sonst müsste man nicht darüber reden. An Sonn- und allgemeinen Feiertagen – an den Ruhetagen – ist « Christsein » anscheinend gut möglich, während im Alltag – am Tag der Arbeit, am Tag des Geldverdienens, am Tag des Geschäftemachens, am Tage, wo die Unvollkommenheit und Sündhaftigkeit des Menschen anscheinend offensichtlich ist, « Christsein » offenbar schwierig wird.

Zum « Alltag »

Lassen Sie mich beim sogenannten Alltag beginnen. Als Unternehmer und Politiker bin ich ein Schwerarbeiter, für den vor allem die Werktage zählen. Darum habe ich eigentlich nur für Dinge Verständnis, die für den Alltag brauchbar und praktisch sind. Irgendwelche « Sonntagsseiten » von Dingen und von Menschen sind mir darum unheimlich. Ich habe das ungute Gefühl von « Vortäuschung falscher Tatsachen », von « Scheinexistenz » – ja gar von Verlogenheit. Zwar freue ich mich über den Sonntag – über den Tag des Herrn – über den Ruhetag. Aber Sinn macht er für mich natürlich nur im Hinblick auf den Alltag, den Werktag.

Wenn nun von « Christsein im Alltag » gesprochen wird, dann möchte ich gleich unwillig herausfragen: Was soll den das? Gibt es vielleicht auch ein « Christsein » ausserhalb des Alltages? Alles aber, was ausserhalb des « Alltages » liegt, also nicht mit dem alltäglichen Leben zu tun hat, findet weder mein Interesse noch meine Sympathie. Denn alles, was wirklich lebt, ist alltäglich – und was nicht alltäglich ist, ist nicht wirklich lebendig. Wie sollte ich denn da « Christsein » auch nur interessant, geschweige denn sympathisch finden?

Christsein

Damit bin ich beim « Christsein »: Ich denke an die Bezeichnungen « christlich », « Christsein », « wir Christen », etc.

Innerlich stosse ich stets an, wenn ich höre « wir Christen ». Ich habe mich in der Bibel – die mich immer wieder ausserordentlich stark beschäftigt – schon mehrmals umgesehen und das Wort « Christ » gesucht. Ich habe es für den heutigen Vortrag erneut getan, und um ganz sicher zu sein, habe ich noch einen Theologen beigezogen, der sich mit der Auslegung der Bibel beschäftigt. – Und es hat sich bestätigt, das Wort « Christ » kommt im Neuen Testament nur dreimal vor. – In Apostel-Geschichte 11,26; 26,28 und 1. Petrus 4,16. In allen drei Stellen wird « Christen » eher wie eine Art Volksgruppenbezeichnung gebraucht. Als « Christ » bezeichnet sich selber niemand im Neuen Testament. « Wir Christen » oder « Ich der Christ » kommt nie vor!

Die Menschen, welche im Neuen Testament zu Worte kommen, halten sich offenbar in keiner Weise für « besonders gute Leute » – und diejenigen, welche ihre Worte hören und lesen, anscheinend auch nicht. Man hat offenbar erst später eine Besonderheit der « Christen » behauptet: Nämlich, dass sie sich für Gott, für Christus oder gar für den Heiligen Geist entschieden hätten und darum der Heiligen Dreieinigkeit, dem Seelenheil und überhaupt einem « rechten Leben » näher stünden als andere Leute. Diese Meinung scheint sich heute wieder zu verstärken. Ich kann allerdings im Neuen Testament nichts davon finden. Wenn dort von « Entscheidung » die Rede ist, dann ist immer eine grundlegende Entscheidung Gottes gemeint – und zwar eine, welche völlig unabhängig von jedem menschlichen Tun geschehen ist. Nicht wir haben Ihn anzunehmen, sondern Er hat uns angenommen. Er hat sich für uns Menschen – für alle Menschen – entschieden. Und damit auch für unser Land, für unser Volk, für die ganze Welt. Für alle ist Er gestorben und auferstanden. Und weil ich ja nun doch auf einer Kanzel stehe, darf ich auch ein Bibelwort zitieren, das in diesem Zusammenhang zu bedenken wäre. (Text lesen Epheser 1,3-5) Der Apostel Paulus spricht hier in Epheser 1

– von der « Erwählung vor Grundlegung der Welt »
– von der « Vorherbestimmung nach freiem Entschluss seines Willens » und
– von der « Begnadigung ». (Epheser 1,3-5)

Während das Wort « Christsein » meines Wissens in der Bibel überhaupt nie vorkommt, wird hingegen vielfach der Begriff « in Christus sein » gebraucht. Und ich meine, dies bedeute etwas ganz anderes als eine ethische Höherstellung des Menschen. « Christsein » ist etwas diametral anderes als « In Christus sein ». Oder können Sie sich als Vortragsthema vorstellen: « In Christus sein im Alltag? ». Unmöglich. « In Christus sein » ist so absolut, dass es keine Einschränkungen mehr erträgt.

« In Christus sein » anerkennt die Wirklichkeit des Menschen ohne jede moralische Wertung. Diese Wirklichkeit soll Martin Luther – am Reformationssonntag sei es auch für mich Politiker erlaubt, ihn zu zitieren – mit der lateinischen Bezeichnung « simul iustus – simul peccator » (d.h. zugleich gerecht gesprochen – zugleich ein Sünder) beschrieben haben. Oder wie es unser Vater zu Hause seinen vier kleinen Söhnen liebevoll aber auch etwas derber zugerufen hat: « Ihr Prachtskerle und zugleich Lumpengesellen ».

Damit ist die Mitte des Evangeliums ausgeleuchtet: Die Rechtfertigung des Sünders aus Gnaden allein, die allen Menschen, unabhängig von ihren Werken, längst zuteil geworden ist, zuteil wird und in alle Ewigkeit zuteil werden wird: « Somit kommt es nun nicht auf den an, der will, noch auf den, der läuft, sondern auf Gott, der sich erbarmt ». (Römer 9,16)

Konsequenzen

Liebe Gemeinde, diese Wirklichkeit, diese Erkenntnis hat weitreichende Konsequenzen: Sehen Sie: In dem Text aus Epheser 1, den ich erwähnt habe, tauchen drei Wörter auf, die mir sehr wichtig scheinen: die Wörter

– erwählt vor Grundlegung der Welt
– vorherbestimmt nach dem freien Entschluss seines Willens
– die Herrlichkeit seiner Gnade.

Ich bin der Meinung, dass unser privates Leben und gleicherweise auch das Leben eines ganzen Volkes grundsätzlich unter dem Gesichtspunkt dieser Erwählung zu sehen ist. In der Bibel ist die ganze Menschengeschichte von der Erwählung Gottes bestimmt – dass aber zu dieser Erwählung sofort auch immer das Gegenteil, die Verwerfung, gehört. Besonders beeindrucken mich – vielleicht, weil ich Politiker bin – die beiden politischen Gestalten Saul und David, der erste und der zweite König des Volkes Israel. Beide, Saul wie David, sind von Gott erwählt und von seinem Propheten gesalbt. Der eine – Saul – wird aber auch wieder von Gott verworfen. Weshalb er verworfen wird, ist für uns völlig unverständlich und ohne jeglichen ersichtlichen Grund. Verworfen wurde er, weil er – nachdem Samuel, der Prophet, sieben Tage lang nicht erschienen war – vom Feinde bedrängt das Opfer selbst darbrachte. Er wird willkürlich verworfen, durch Gottes Willkür. Beide, Saul und David, waren ohne Zweifel das, was wir alle – ohne Ausnahme! – sind: fehlbare, sündige Menschen, voller Schwächen und Mängel. Bei David, dem Auserwählten, sind diese Schwächen und diese Fehler besonders gut ersichtlich. Saul und David hatten beide ihre Zeiten des Glanzes und ihre Zeiten des Elends, Zeiten der Bewährung und Zeiten des Versagens. Wenn man ihre Geschichte genau liest, merkt man; in all den verschiedenen Zeiten hatten sie je eine besondere Sache darzustellen: einmal das eine, dass wir Menschen Sünder sind, Menschen, die mit Martin Luther sagen müssen: « Es ist doch unser Tun umsonst, auch in dem besten Leben » (Kirchengesangbuch, Lied No. 37,2) – aber auch das andere, das dem eben genannten Lied-Vers vorausgeht: « Bei Dir gilt nichts denn Gnad und Gunst, die Sünde zu vergeben ».

Ich meine, dass die Bibel und damit die von ihr verkündigte Frohe Botschaft keinen Zweifel offen lässt, was schlussendlich das ewig Gültige bleibt. Das Heil eines Menschen und das Heil eines Volkes besteht immer nur darin, dass Gott uns seine Gnade als das Letzte und Entscheidende zukommen lässt. So ist sein eigener Sohn, Christus, selber zum Verworfenen geworden und hat alle Schuld der ganzen Welt auf sich genommen. Durch seine Auferstehung von den Toten ist er dann zum Erwählten geworden, und hat so alle Verworfenen in die Gnade Gottes eingehüllt – und zwar alle Menschen, alle Völker, alle Welt. Gleichgültig, welche Weltanschauung und Glaubenshaltung dahinter steht.

Wir leben alle von der gnädigen Haltung, die Gott uns allen gegenüber einnimmt. Und da hätten wir eigentlich alle dasselbe zu tun – und die weitaus überwiegende Mehrheit der Menschen tut es auch -: Mit grosser Dankbarkeit und gesundem Stolz auf das zu blicken, wozu wir an dem für uns vorherbestimmten Platz erwählt sind – und uns mit ebenso grosser Demut und Aufrichtigkeit darunter zu beugen, dass uns an diesem Platz auch unsere Verwerfung zugemutet wird.

Da haben Pharisäertum, Heuchelei und Moralismus nichts zu suchen. Und doch, wie oft treffen wir gerade in Wirtschaft und Politik – aber auch in der Kirche – auf Heuchler und Moralisten.

Sie erkennen diese daran, dass es ihnen letztlich nie um Verantwortung, nie um das Einstehen für andere geht. Nie geht es ihnen darum, für andere ein gutes, tragbares oder bestmögliches Ergebnis zu erzielen und durchzusetzen, sondern es geht ihnen lediglich um sich selbst: Um die eigene unbefleckte Weste, um das eigene Ansehen. Sobald ihr Ansehen befleckt zu werden droht, sobald sie den Kopf hinhalten müssen, schleichen sie sich aus der Verantwortung und sind nicht mehr da.

Wer Verantwortung trägt, hat aber einen Auftrag

Den Auftrag nämlich, in einer ganz bestimmten Sache, an einem ganz bestimmten Ort, zu einer ganz bestimmten Zeit etwas ganz Bestimmtes zu tun. Trotz oder mit der eigenen Unvollkommenheit muss es getan werden. Es ist bekannt, dass die Verantwortung am besten wahrgenommen und dass ein schwieriger Auftrag für die Gemeinschaft nur dann erfüllt werden kann, wenn man das eigene Ansehen und die eigene Person hintanstellt. Der wirklich Verantwortungsbewusste weiss, wie anspruchsvoll dies ist, und es ist ihm deshalb bewusst, dass er nicht überall, nicht in der ganzen Welt zum Rechten sehen kann. Aber er kann und muss es dort tun, wo er steht, wo er den Überblick hat und wo seine Kräfte ausreichen.

Ganz anders der Moralist: Er erklärt sich selbst überall und allezeit für alles und jedes zuständig. Er masst sich das Recht und sogar die Pflicht an, überall zum Rechten zu schauen. Das Ziel des Moralisten ist es ja nicht, dass zum Rechten geschaut wird – und also das Rechte auch geschieht -, sondern dass er selbst zeigen kann, dass er zum Rechten sehen will und makellos dasteht. Die Moralisten handeln nicht aus Liebe zu den Menschen und zur Sache, sondern nur im Bestreben, selbst « gut herauszukommen ».

Schluss

Meine Damen und Herren, « Christsein im Alltag? » – Nein, nein! Aber « in Christus sein alle Tage bis an das Ende der Welt! » – Ja.

Ohne träumerische Absetzung in eine « bessere Welt » – ohne die Moralisiererei – stattdessen in tapferer Erkenntnis der eigenen Beschränkung, der eigenen Fehlerhaftigkeit und Schuld – aber erst Recht in fröhlicher Anerkennung: « Dir sind Deine Sünden vergeben! » Daraus bricht dann eine ungeheure Lebens- und Tatkraft aus der « Rechtfertigung des Sünders aus Gnaden.

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