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02.09.2005

Städte – Sensoren gesellschaftlicher Entwicklung

Referat von Bundesrat Christoph Blocher anlässlich des Städtetag 2005 gehalten am Freitag, 2. September 2005 in Winterthur 02.09.2005, Wintherthur Wintherthur, 02.09.2005. Anlässlich des Städtetags 2005 referierte Bundesrat Christoph Blocher über die Bedeutung der Gemeinden. Er lobte den Lokalpatriotismus als Ausdruck eines Konkurrenzverhältnisses, der die Schweiz auszeichnet, da Konkurrenz zu besseren Leistungen und zu mehr Produktivität führe. Was hingegen die Rolle des Staates angeht, so plädierte der Justizminister für Zurückhaltung, da der Staat vor allem die freie Entfaltung der Bürgerinnen und Bürger nicht behindern solle. Es gilt das gesprochene Wort Sehr geehrte Damen und Herren Stadt- und Gemeindepräsidentinnen und -präsidenten Sehr geehrte Damen und Herren Dass ich hier zu Ihnen spreche, ist nicht selbstverständlich, denn ich verletze im Grunde genommen den Dienstweg. Direktkontakte zwischen dem Bund und den Gemeinden haben nämlich Ausnahmecharakter und werden namentlich von den Kantonen mit Recht misstrauisch beobachtet! Der Weg führt über die Kantone zu den Gemeinden, was Städte ja auch sind. Um diesen Weg etwas abzukürzen, schuf man den tripartiten Weg; d.h. Bund, Kantone, Gemeinden bereden eine Sache gemeinsam. I. Die Bedeutung der Gemeinden Kein geringerer als Gottfried Keller liess eines seiner berühmtesten Bücher, den „grünen Heinrich“, mit dem Satz beginnen: „Zu den schönsten vor allen in der Schweiz gehören diejenigen Städte, welche an einem See (…) liegen“. Winterthur tut das bekanntermassen nicht. Und die Winterthurer wollen das bekanntermassen auch nicht. Sie haben schliesslich in einer Volksabstimmung die Schaffung eines künstlichen Sees ausdrücklich abgelehnt. Aber Gottfried Keller war halt ein Stadt-Zürcher und stark von seiner Vaterstadt geprägt. Genauso wie ein Winterthurer, der seine Stadt inmitten der sieben Hügel – Lindberg, Wolfensberg, Beerenberg, Brühlberg, Ebnet, Eschenberg-Heiligberg und Hegiberg-Etzberg – bevorzugt. Ein Winterthurer hat mir einmal stolz erklärt: „Wir haben keinen See, dafür müssen wir auch nicht immer über das Bellevue, um auf die andere Seite zu gelangen.“ Jeder findet seine eigene Heimatstadt die Schönste. Wir alle kennen das Gefühl des Heimwehs, die „Schweizer Krankheit“, wie es noch zu Zeiten der Reisläuferei hiess. Als durch und durch föderalistischer Mensch schreibe ich der Gemeinde und ihrer Autonomie einen hohen Stellenwert zu. Schon deshalb, damit jeder seine eigene Heimatstadt die Schönste finden kann. Ob in einer Quartierstrasse ein Fahrverbot eingeführt wird, ob mit einem neuen Zonenplan eine Überbauung genehmigt wird oder nicht, ob ein neues Schulhaus geplant wird oder nicht: stets sind die Folgen konkret sichtbar in der Gemeinde. Wegen dieser Bürgernähe sind die Gemeinden auch, um es mit dem Motto des diesjährigen Städtetages zu sagen, „Sensoren der gesellschaftlichen Entwicklung“ – aber auch der Fehlentwicklungen, was im Motto Ihrer Tagung ausgeklammert wird... Der Lokalpatriotismus ist auch Ausdruck eines Konkurrenzverhältnisses – was unser Land ebenfalls auszeichnet. Denn Konkurrenz – dieser edle Wettkampf – spornt an zu besseren Leistungen, zu mehr Produktivität, dazu, sich selbst zu übertreffen. Konkurrenz führt so letztlich zu mehr Wohlstand, mehr Qualität für alle. Wie soll sich aber der Staat für die Verwurzelung der Menschen, für engagierte Bürger einsetzen? Und soll er das überhaupt? Es wird Sie nicht wundern, wenn ich auch in diesem Bereich für eine zurückhaltende Rolle des Staates plädiere: Nach meinem Freiheitsbegriff soll der Staat vor allem die freie Entfaltung der Bürgerinnen und Bürger nicht behindern. Das gehört zu den wichtigsten Rahmenbedingungen für den Schutz und die Entfaltung der Bürgerinnen und Bürger. Das dürfte für Städte und Gemeinden, die die Wünsche und Ansprüche der Bevölkerung am intensivsten und direkt – gleichsam von Angesicht zu Angesicht – erleben, am schwersten fallen. Es heisst nämlich oft zu Erfordertem und Gewünschtem Nein zu sagen. Nein sagen zu zahlreichen Forderungen und gut gemeinten Impulsen und Anregungen in den Gemeinden, insbesondere der Städte. Wie steht es aber mit den entscheidenden Impulsen für Veränderungen, für die Verbesserung der Rahmenbedingungen? Wie sind die Gebiets- und Kompetenzreformen zu bewerten? Letztere lassen sich besonders deutlich an der Geschichte Winterthurs verdeutlichen. II. Gebietsreformen Als die Stadt mit ihren ausgestreckten Armen die umliegenden Dörfer erreichte – das ehemals römische Oberwinterthur am Lindberg, das bäuerliche Seen, das industrialisierte Töss, das verstädterte Winzerdorf Veltheim am Gallispiz und das herrschaftliche Wülflingen am Zusammenfluss von Eulach und Töss – schlossen diese sich mit der Stadt zusammen. So wurde aus dem wirtschaftlich bereits weitgehend vereinheitlichten Siedlungsraum auch eine politische Einheit, das Steuergefälle zwischen den von Arbeitern und Bauern bewohnten Vororten und den gewerbe- und handeltreibenden Stadtbewohnern wurde beseitigt. Die Einwohnerzahl der Stadt verdoppelte sich 1922, im Jahr der Stadtvereinigung, mit einem Schlag von 26’000 auf rund 50’000. Nach dem 2. Weltkrieg stieg die Zahl noch einmal auf beinahe das Doppelte. In etwa vier Jahren soll die Hunderttausendergrenze erreicht sein – auch wenn man das schon vor 20 Jahren sagte. Winterthur ist jedenfalls eine der wenigen Schweizer Städte, die noch wachsen. Auch heute gibt es wieder viele Städte, die mit den umliegenden Dörfern zusammenwachsen. Rein verwaltungstechnisch betrachtet stimmt die Gliederung unseres Landes in 2900 Gemeinden mit den heutigen Lebensverhältnissen vielleicht nicht mehr immer überein. Was läge also näher, als die historisch gewachsenen Grenzen dem Lauf der Geschichte anzupassen? Doch Städte und Gemeinden sind nicht nur Verwaltungseinheiten. Es sind Lebensräume und Lebensgemeinschaften; also lebendige Gebilde und darum ist der Widerstand gegen Zusammenlegungen nicht einfach negativ zu sehen. Die Lebensfähigkeit von Gemeinden darf man nicht nur an den besseren Auslastungskosten der Gemeindeverwaltung messen. Dies haben sogar wirtschaftliche Unternehmen erkennen müssen. Ein Grossteil der „Gebietsbereinigungen“ (in der Wirtschaft als Fusionen und Akquisition bekannt) sind – obwohl sie kostenmässig durchaus Sinn machten – gescheitert. Nun weiss ich, was Sie denken: Nicht alle Gebietsbereinigungen und Zusammen-legungen wurden mit edlen Gründen bekämpft. Sie denken: Viele Politiker würden sich eben scheuen, die Tatsachen zu nennen und daraus die Konsequenzen zu ziehen. Es sei unpopulär, über Gemeindefusionen und Gebietsreformen zu sprechen, weil dabei zwangsläufig Möglichkeiten zur Profilierung verloren gingen. Statt zwei gäbe es nur noch einen Gemeindepräsidenten. Nur noch einen Feuerwehrkommandanten. Das ist nicht ganz abwegig. Nur dürfte dies am Schluss nicht ausschlaggebend sein für die Bürger: Die Einwohner hängen an ihrer Gemeinde, in der sie verwurzelt sind. Vielleicht auch an ihrem – nur von ihnen gewählten – Gemeindepräsidenten. Deshalb sind auch politische Fusionen dornenreich und mit ungewissen Erfolgschancen behaftet. Die Bürgerinnen und Bürger wissen, dass sie in fusionierten Gebilden über grössere Fragen abzustimmen haben, dafür aber ihre Stimme mit viel mehr Menschen teilen müssen. III. Die Entdeckung der Agglomeration Die Politiker haben angesichts dieser Schwierigkeiten einen neuen Begriff zum politischen Programm erhoben: Die „Agglomeration“ oder – noch modischer – die „Metropolitanregion“. Meist erklären sie die Agglomerationen zu einem Problemgebiet. Dabei sind diese die dynamischsten Regionen unseres Landes. IV. Agglomeration als gemeinsamer Lebensraum? Etwas fraglich ist es, wenn Politiker die Agglomerationen als gemeinsamen Lebensraum beschwören. Hier scheint mir der Wunsch der Vater des Gedankens zu sein. Die Bewohner hätten eine gemeinsame Identität – glaubt man – oder sie seien daran, eine solche zu entwickeln – ist man überzeugt. Meines Erachtens ein zu idealistischer Ansatz! Die Unterschiede innerhalb der Agglomerationen sind nicht unerheblich. Im Zentrum der Agglomeration wohnen Leute, die das städtische Lebensgefühl suchen. Im äusseren Gürtel leben hingegen oft gerade diejenigen, die das städtische Lebensgefühl meiden. Mit dem Begriff der Agglomeration werden diese unterschiedlichen Bedürfnisse etwas beiseite gewischt. Man tut so, als bestünden zwischen Winterthur und Dättlikon (gehört zur Agglomeration Winterthur) intensive gemeinsame Bande und ein gemeinsames Lebensgefühl. Dabei gibt es bloss gewisse gemeinsame Interessen, vor allem im technischen und administrativen Bereich! Dies ist zu berücksichtigen bei der so genannten Agglomerationspolitik. Oft scheitert diese im Konkreten, weil man zu viele Gemeinschaftsgefühle hineinprojiziert. Häufig wird es dann problematisch, wenn neue Gremien auf Agglomerationsebene geschaffen werden, die letztlich demokratisch auf wackeligem Grund stehen. Da werden die Bürger misstrauisch. Wie oft hat man neue Institutionen und neue Planungsinstrumente propagiert und dann nachträglich gemerkt, dass sie nicht durch zu bringen sind! V. Der Ruf nach dem Bund Wohl gerade infolge dieser Problematik wird nach einer machtvollen und unterstützenden Rolle des Bundes gerufen. Mit dem Qualitätssiegel des Bundes soll den Agglomerationen eine höhere Sendungskraft verliehen werden. Mit Subventionen an den Agglomerationsverkehr zum Beispiel will man die Agglomerationsentwicklung indirekt beeinflussen. Aber kann eine Agglomerationspolitik, die am Schwanz, d.h. an den Bundesbeiträgen aufgezäumt wird, wirklich erfolgreich sein? Oder müssen die Impulse nicht primär von den Städten, Gemeinden und – subsidiär – von den Kantonen kommen? Die Antwort dürfte auf der Hand liegen. Vergessen wir nicht: Die beste Agglomerationspolitik ist jene, bei welcher wir nicht zusätzliche Gremien schaffen, sondern eine solche, bei welcher die Gemeinden und Städte in eigener Verantwortung zur Zusammenarbeit finden und dabei gelegentlich über ihren eigenen Schatten springen. Trotz aller Kompliziertheiten sind die demokratischen Grundsätze streng zu achten. Deshalb wünsche ich mir im Interesse der Gemeinden und Städte Gemeindepräsidenten und -präsidentinnen, die zur Zusammenarbeit bereit und fähig sind, hohen Respekt für die Aufnahme auch anderer Ansichten aufbringen und über viel demokratischen Respekt verfügen, um in Abstimmungen ihre Bevölkerung für ihre Projekte zu gewinnen. Ich bin überzeugt, dass in Urnengängen die Bevölkerung ebenfalls mitmacht, wenn man ihr die Vorteile der Zusammenarbeit möglichst anschaulich präsentiert: Bessere Verkehrsverbindungen, breiteres Ausbildungs- und Kulturangebot, geringere Ausgaben, geringere Steuern durch das Zusammenlegen von Dienstleistungen und anderes mehr, aber unter Berücksichtigung der Lebensgemeinschaften und der demokratischen Kompetenzen der Stimmbürger. VI. Die Rolle des Bundes in der Agglomerationspolitik Und der Bund? Meines Erachtens darf sich der Bund auf keinen Fall zum Spiritus Rector der Agglomerationspolitik aufschwingen, er darf diese Rolle getrost den Gemeinden, Städten und den Kantonen überlassen. Gerade in der Agglomerationspolitik soll das Ganze von unten kommen. Der Bund muss sich im Hintergrund halten, aber bei seiner Politik den Anliegen der Gemeinden Rechnung tragen. Dazu ist er verfassungsrechtlich auch aufgerufen. Den grössten Dienst kann der Bund den Städten und Gemeinden und damit den Agglomerationen leisten, wenn er eine möglichst berechenbare Politik verfolgt. Wenn er nichts verspricht, was er nicht halten kann, und das hält, was er verspricht. Wenn er dadurch seine Schulden wieder auf ein erträgliches Mass zurückschraubt und die Einnahmen und Ausgaben im Gleichgewicht hält. Dies kann der Bund nur, wenn er die Eigenverantwortung – gerade auch der Gemeinden – fördert, aber auch die Kompetenzen klar definiert. So wird die Abhängigkeit vom Bund und das Damoklesschwert stets neuer Sparrunden beseitigt. Wenn der Bund durch eine zurückhaltende Ausgabenpolitik den Einnahmenspielraum der Gemeinden und der Kantone tendenziell erhöht, gewinnen auch die Städte an Handlungsspielraum. Die Gemeinden, allenfalls mit den Kantonen, sind dann weitgehend in der Lage, ihre Agglomerationsangelegenheiten selbst zu regeln. VII. Autonomie der Städte Die Schweiz ist von unten her entstanden. Selbstverantwortliche Bürger, autonome Städte und Gemeinden bilden starke Kantone und schliesslich ein starkes Land. Die Schweiz ist im Boden der Gemeinden verwurzelt und bezieht aus ihnen ihre Kraft. Heute ist eine fatale Tendenz festzustellen: „Hilfe von oben“ zu holen, aber auch Hilfe von oben anzubieten. In der Regel ist das gleichzeitig auch die Bereitschaft, Kompetenzen und Selbstständigkeit nach oben zu verkaufen. Entwicklungen werden pathologisiert, statt als Chance begriffen. Helfen heisst meist zahlen. Und wer zahlt befiehlt. Die Städte und Gemeinden sind mehr als ein Teil von subventionisierbaren Agglomerationen mit schwammiger Ausprägung. Unsere Schweiz ist nichts ohne die Städte und Gemeinden. Aber nur wenn diese über eine möglichst hohe Autonomie verfügen und diese auch nützen. Auch wirtschaftlich! Nestlé hat ihren Sitz nicht im Bund, sondern in Vevey! Die Chemie ist in Basel, nicht im Bund. Rieter und die „Winterthur“ sind in Winterthur domiziliert. Von den Städten und Gemeinden gehen die wirtschaftlichen und kulturellen Impulse aus. Wer, wenn nicht sie, sollten sie geben? Wenn sie die Sensoren der gesellschaftlichen Entwicklung sind, dann kann man diese auch früher nutzen. VIII. Grabe, wo du stehst! In der Archäologie soll der Grundsatz gelten: „Grabe, wo du stehst!“ Auf die Politik übertragen, heisst das: Wirke zunächst in deinem Umfeld, übernimm Verantwortung für Deinen Aufgabenbereich! Für die Gemeinden heisst dies: Verlieren Sie sich nicht in internationaler Betriebsamkeiten, an interkulturellen Konferenzen, wenn möglich über das Internet und an Welt-Gipfeln über irgendwelche utopische Visionen. Erfolgreich ist: Global denken, aber lokal zu handeln! Das gilt für die Wirtschaft und die Politik. Nur wer bei sich alle Hausaufgaben gemacht hat, kann – aber nur dann – in einem weiteren Kreis Verantwortung übernehmen. Auch dies wussten schon unsere Vorväter. Gottfried Keller schrieb im „grünen Heinrich“: „Wer die Welt will verbessern helfen, kehre erst vor seiner Tür.“ Das heisst aber auch: Seine Kräfte nicht verzetteln, sondern konzentrieren. IX. Subsidiarität und Freiheit Konzentration der Kräfte heisst auch, dass sich die Zusammenarbeit zwischen dem Bund, den 26 Kantonen und den 2900 Gemeinden auf das beschränkt, was tatsächlich alle 3 Ebenen zugleich betrifft. Sonst werden die Verantwortungen verwischt, und es wird Sand ins föderalistische Getriebe geworfen. Der Bund soll deshalb nicht direkt auf die Gemeinden durchgreifen. Das verlangt meines Erachtens die Verfassung zu Recht. Die Städte müssen in ihrem Kanton Mehrheiten finden und für ihre Anliegen überzeugen. Es dient allen Staatsebenen, wenn das Subsidiaritätsprinzip, das bewährte Urprinzip der Schweiz, strikt eingehalten wird. Der Städteartikel in der Bundesverfassung ist keine Grundlage für neue Bundeskompetenzen, keine Grundlagen zur Ausschüttung von Subventionen oder ein Mittel, um die Kantone auszuschalten! Schlusswort Nochmals: Denken Sie als Mitglieder der Gemeindeexekutiven daran: Wer zahlt, befiehlt. Bewahren Sie die Freiheit und den Handlungsspielraum Ihrer Stadt, machen Sie die Stadt konkurrenzfähig und prosperierend durch optimale Rahmenbedingungen. Am Anfang des Staates war die Stadt. Ohne Stadt ist kein Staat zu machen. Früher hiess es, Stadtluft macht frei. Also atmen Sie tief durch und nutzen Sie diese Freiheit zu Ihren Gunsten.

14.08.2005

Grussbotschaft von Bundesrat Christoph Blocher anlässlich des Marché-Concours

Saignelégier, 14.08.2005. Grussbotschaft von Bundesrat Christoph Blocher anlässlich des 102. «Marché-Concours National de Chevaux». Freundschaftlicher Wettkampf und gemütvolles Volksfest jenseits aller politischen Fragen. Im Mittelpunkt das Pferd - die Freiberger – «la race chevaline des Franches-Montagnes». 14.08.2005, Saignelégier Es gilt das gesprochene Wort Herr Regierungspräsident des Kantons Jura, Meine Damen und Herren Vertreter der Eidgenössischen Räte, Meine Damen und Herren Vertreter der Kantonsbehörden, Meine Damen und Herren, Es ist mir eine Ehre, Ihnen die Grussbotschaft des Bundesrates zu überbringen. Der Bundesrat möchte damit zeigen, dass auch für die Schweizer Regierung, der «Marché-Concours» ein Ereignis von nationaler Bedeutung ist! Ein sportlicher, kultureller und nationaler Anlass. Ganz im Zentrum dieser Begegnung steht das Pferd – speziell eine Pferderasse, die Freiberger – «la race chevaline des Franches-Montagnes» – eine Schweizer Zucht. Mir gefällt der Name «Francs-Montagnards», denn in ihm steckt das Wort Freiheit. Somit steht diese Landschaft hier oben genauso für den schweizerischen Drang nach Freiheit wie etwa die Bergwelt rund um das Rütli. Es ist der gemeinsame Wille nach Freiheit, der uns alle verbindet. Und insofern kann es sich bei den Freiberger Pferden nur um eine gute Rasse handeln. Es ist auch eine gute Rasse, das kann ich bestätigen. Während meiner landwirtschaftlichen Lehre habe ich mit Freiberger Pferden gearbeitet – gepflügt, geeggt, gesät, geerntet. So sind sie mir ans Herz gewachsen. Mit einem Guten Charakter: Verlässlich, ausgeglichen, kraftvoll, etwas eigensinnig. So wie ich es nicht nur an Pferden schätze. Der «Marché-Concours» ist nicht nur ein nationales, sondern ebensosehr ein jurassisches Fest. Wenn wir heute vom Jura sprechen, dann ist nicht nur ein spezifischer Kanton gemeint, sondern auch ein landschaftlich besonderes Gebiet mit einer langen Geschichte. Als Vorsteher des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements bin ich schliesslich mit dem Jura-Dossier betraut. Es ist für mich ein wichtiges Dossier und es ist mir ein Anliegen, dass der Dialog im Jura erfolgreich weitergeführt werden kann. 1994 wurde die «Assemblée interjurassienne» gegründet, die namentlich in den Bereichen Bildung, Wirtschaft, Verkehr und Kultur nach einer besseren Zusammenarbeit zwischen dem Berner Jura und dem Kanton Jura sucht. Zunehmend werden auch institutionelle Fragen behandelt. Mit dieser Arbeit schafft die Interjurassische Versammlung Vertrauen zwischen Parteien, die sich ehemals als Gegner gegenüberstanden und die nun als Partner zusammenarbeiten und einander näher kommen. Es gilt zu bedenken: In einem demokratischen Land, wie wir es sind, können Veränderungen nicht mit dem Brecheisen durchgeführt werden. Veränderungen sind nur möglich, wenn die beteiligten Parteien mit dem Herzen und dem Verstand ja dazu sagen. Ich kann Ihnen versichern, dass der Bundesrat eng und vorurteilsfrei mit den Regierungen der Kantone Jura und Bern zusammenarbeitet, um gemeinsam mit ihnen einen für das ganze Gebiet des Jura befriedigenden Weg zu finden. Jede Lösung, die Bestand haben will, kann nur auf der Basis des Rechtsstaates und der demokratischen Mitbestimmung der beiden Bevölkerungsteile gefunden werden. Heute aber steht der «Marché-Concours» als freundschaftlicher Wettkampf und als gemütvolles Volksfest jenseits aller politischen Fragen im Mittelpunkt. Ich danke Ihnen für Ihre Einladung und wünsche Ihnen mit «freundeidgenössischen» Grüssen alles Gute!

01.08.2005

Für eine wirtschaftlich starke, freie und sichere Schweiz

Ansprache von Bundesrat Christoph Blocher zum Nationalfeiertag 2005 (Schafisheim, Unteriberg, St. Moritz und Winterthur) 01.08.2005, Schafisheim, Unteriberg, St. Moritz und Winterthur Es gilt das gesprochene Wort Heute feiern wir den 714. Geburtstag unserer Schweizerischen Eidgenossenschaft. Wir feiern ihn wie den Geburtstag von betagten Menschen! Dankbar und freudig schauen wir zurück auf das Gewesene, dankbar und freudig gedenken wir heute der mutigen Männer und Frauen, die 1291 die Kraft und Weitsicht hatten, den Freiheitsbrief schreiben zu lassen und damit den Grundstein für die heutige Schweiz zu legen. Warum gerade 1291? Staaten entstehen nicht in einem einzigen Moment. Staatengründungen sind Prozesse, die längere Zeit dauern. Nicht allein das Datum des Rütlibriefes von Anfang August 1291 wäre als Geburtsstunde möglich gewesen: Man hätte sich auch auf die Einigung der zerstrittenen Orte im Stanser Verkommnis von 1481 verständigen können. Oder die faktische Loslösung vom Römisch-Deutschen Reich nach dem Schwabenkrieg von 1499 oder der formelle Reichsaustritt anlässlich des Westfälischen Friedens von 1648. Manche sähen vielleicht lieber die Gründung des modernen Bundesstaates von 1848 als Geburtstagsjahr. Vom Gehalt des Bundesbriefes Und doch meine ich, die Rückbesinnung auf den Bundesbrief von 1291 sei zutiefst richtig und sinnvoll. Denn der wichtigste Gedanke dieses historischen Dokumentes ist, das Heft in Eigenverantwortung selbst in die Hand zu nehmen und keine Fremdbestimmung mehr zu dulden. Die Frage lautete damals ganz einfach: Wer soll über die inneren Verhältnisse der Länder am Vierwaldstättersee entscheiden? Die Antwort gegenüber dem angeblich ordnenden, harmonisierenden und vereinheitlichenden habsburgischen Verwaltungsstaat war ein lautes und deutliches Nein. Die drei «Länder» der Urschweiz entschieden sich für Eigenverantwortung, für Handlungsfreiheit und Selbstbestimmung. Der Rütlischwur und die Landsgemeinden bilden darüber hinaus den Ursprung einer ausgeprägten Volksherrschaft, unserer heute weltweit einzigartigen, viel beneideten direkten Demokratie.Diese ersten eidgenössischen Staatsmaximen haben unser Land im Laufe der 714 Jahre bis heute geprägt. Der kleine Bund von damals ist im Laufe der Jahrhunderte gewachsen, im Vergleich mit den meisten anderen Staaten aber klein geblieben. Er hat nicht zuletzt wegen seiner geringen Grösse seinen Bürgern ein Mass von Selbstbestimmung und damit Freiheit bieten können, das unvergleichbar ist. Rückbesinnung auf die Freiheit Die Schweiz hat in ihrer Geschichte Zeiten der inneren Zerrissenheit, der Krisen, Fremdeinmischung, Überheblichkeit und des Versagens immer wieder gemeistert, wenn sie sich auf die Werte von 1291 zurückbesonnen hat. Wäre es nicht auch gerade heute, und bei all den meist gut gemeinten, aber oft keineswegs guten Rezepten für die Zukunft, richtig, sich auf diese Grundweisheiten zu besinnen? Liegen nicht gerade in den uralten Wahrheiten des Bundesbriefes die Grundlagen für unsere Gegenwart und unsere Zukunft? Müssten diese Werte nicht auch heute wieder neu genutzt werden? Wie steht es Im Jahr 2005 mit der Freiheit, der Eigenverantwortung der Bürger, der Unabhängigkeit des Landes?Die Freiheit ist das höchste und wertvollste Gut - dafür stehen 714 Jahre Schweizer Geschichte. Diese Freiheit ist nicht ideologisch definiert oder historisch gebunden, sondern immer eine Antwort auf die jeweilige Zeitfrage. Sie muss immer wieder neu überlegt, gefordert und gelebt werden. Wohlfahrt fördern Gerade heute, wo die Angst um die Wohlfahrt im Mittelpunkt steht, sollten wir uns auf das Erfolgsrezept unseres Landes besinnen: Es gilt, die manchenorts erstickte Freiheit wieder zu beleben und mit neuem Leben zu erfüllen. Die Bürgerinnen und Bürger gehören in den Mittelpunkt, nicht die staatlichen Institutionen. Die Verantwortung des Einzelnen muss an die Stelle der staatlichen Vormundschaft treten. Statt grosszügiger Verschwendung auf Kosten der nachfolgenden Generationen und statt dauernder Erhöhung von Zwangsabgaben haben wir das Geld möglichst bei den Bürgern zu belassen. Die Wirtschaftsentwicklung verschiedener Länder zeigt es immer wieder: Die Bürger und Bürgerinnen nutzen das Geld sinnvoller als die umverteilende Bürokratie. Geben wir den Bürgern diese Freiheit, stutzen wir bürokratische Regeln und Zwangsabgaben zurück zugunsten der Eigenverantwortung des Einzelnen! Angst vor der Kleinheit? Viele Bürger unseres Kleinstaates haben heute Angst davor, als kleines Land nicht mehr bestehen zu können. Grösse sei angesagt, Harmonisierung und Zusammenarbeit. Das tönt schön und mag in manchem seine Berechtigung haben. Aber hat uns die Vergangenheit der Schweiz nicht anderes gelehrt? Die heutigen Zeiten sind schnelllebig geworden, die neuen Bedrohungen erweisen sich als schwer berechenbar und erfolgen überraschend. Der Terror umgeht die zentralistisch aufgebauten Sicherheitssysteme und schlägt dezentral zu. Gefordert ist heute vor allem Flexibilität, die Fähigkeit, mit dem Unerwarteten, Unerhörten, Neuartigen umzugehen und fertig zu werden. Auch in der Wirtschaft! Die Verwundbarkeit der modernen, eng vernetzten Gesellschaft ist zu erkennen und zu schützen. Mit schwerfälligen, zentralistischen Staatsorganisationen ist da wenig auszurichten. Sicherheit an Ort und Stelle, in den Gemeinden, Quartieren, die Selbstverantwortung der Nachbarschaft, in Zügen, in Bussen, auf der Strasse ist gefragt. Das Abschieben der Verantwortung an internationale Gremien und Funktionäre taugt im Ernstfall nicht.Aber auch an die anderen Stärken unseres Landes müssen wir denken.Ein Kleinstaat darf sich nicht in jede Streitigkeit ziehen und zur Parteinahme verleiten lassen. Eine bewaffnete Neutralität schützt unser Land nach wie vor besser als die Einbindung in fremde Bündnisse. Ein Bündnis mit jemandem ist immer auch ein Bündnis gegen andere. Es besteht die Gefahr, an der Seite eines stärkeren Partners unfreiwillig in Konflikte hineingezogen zu werden.Gerade die jüngsten Terroranschläge zeigen, dass die Abweichung von diesem Prinzip auch in Zeiten überstaatlicher Auseinandersetzungen einen besseren Schutz bietet als voreilige Parteinahme.Neutralität darf deshalb nicht heissen, sich aktivistisch überall einzumischen und Stellung zu beziehen.Natürlich soll es auch in der Sicherheitsfrage Austausch und Verträge mit anderen Staaten geben. Die Schweiz war nie isoliert im Sinne von losgelöst von ihrem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Umfeld. Es gab und gibt keinen Planeten Schweiz. Nur darf unser Land trotz aller internationaler Verflechtungen nie das Prinzip der Souveränität verlassen. Die Devise muss heissen: Zusam-menarbeit und Austausch mit aller Welt, aber keine politische Einbindung. Handlungsfreiheit und Selbstbestimmung haben Vorrang. Liberaler Nationalstaat als Erfolgsrezept So wie das Jahr 1291 für Freiheit und Selbstbestimmung steht, obsiegten 1848 sowohl der Liberalismus als auch der Nationalstaat. Beides, Freiheit und Unabhängigkeit, Eigenverantwortung und Selbstbestimmung standen auch zur Gründungszeit des Bundesstaates im Mittelpunkt.In den vergangenen Jahren wurde leider das Einstehen für Freiheit und Unabhängigkeit zunehmend vernachlässigt. Dies hat nicht nur das Selbstvertrauen der Bürger erschüttert, die Auswirkungen auf die Wirtschaft sind mindestens ebenso ernüchternd. Sie entwickelt sich schlecht: Nur der friedliche Wettbewerb unter Staaten, nicht der gleichmacherische Internationalismus schafft Wohlstand, Wachstum und Fortschritt. Wir haben es selber in der Hand: Ein überschuldeter Staatshaushalt, explodierende Sozial- und Gesundheitskosten, übermässig anwachsende Aufgaben, die anmassende Haltung der öffentlichen Hand mit den entsprechenden Ausgaben, zunehmende Regulierung und Bürokratisierung, Ansteigen der Arbeitslosenraten sind Ursachen und Folgen zugleich. Der in Anpassung an den Zeitgeist schleichend ausgebaute Sozial- und Umverteilungsstaat übersteigt nicht nur unsere finanziellen Möglichkeiten, er untergräbt - was schlimmer ist - zunehmend die Selbstverantwortung in unserem Land. Die Abkehr vom Sonderfall hat der Schweiz jeden-falls mehr geschadet als genützt. Was ist zu tun? Der Aufbruch zu den Werten des alten Bundesbriefes ist heute dringend nötig geworden. Freiheit, Selbstbestimmung, Selbstverantwortung: Diese Werte haben unser Land stark und wohlhabend gemacht. Besonders bei den heute wichtigen Fragen der Sicherheit und der Wirtschaft sind Handlungsfreiheit, eine hohe Flexibilität, Schnelligkeit, Dezentralisierung, aber auch Unvoreingenommenheit und Qualitätsbewusstsein gefragt. Das sind Fähigkeiten, die ein Kleinstaat schnell ausbauen und nutzen kann.Wer aber Sicherheit sucht und dafür die Freiheit opfert, hat weder das eine noch das andere verdient (Benjamin Franklin). Frei und unabhängig sein, kann man nicht ohne ein gewisses Mass an Risiko. Das gilt in der Terrorbekämpfung, in der Wirtschaft und im Staat. Schlusswort Ich bin überzeugt, dass ein Aufbruch zur alten Freiheit, zum eigenverantwortlichen Handeln des Bürgers, zur Unabhängigkeit des Landes im friedlichen Neben- und Miteinander aller Staaten das beste Modell für eine erfolgreiche Zukunft unseres Landes darstellt.

24.07.2005

Schweiz wohin? Aufbruch zur alten Freiheit!

Ansprache von Bundesrat Christoph Blocher anlässlich des 65. Jahrestages des Rütlirapportes vom 25. Juli 1940 gehalten an der Gedenkfeier am 24. Juli 2005 auf dem Rütli 24.07.2005, Rütli Es gilt das gesprochene Wort Meine Damen und Herren, Chers amis de la Suisse romande, Cari amici della Svizzera italiana, Wir sind heute auf dieser symbolträchtigen Wiese zusammengekommen um 60 Jahre nach Kriegsende des Rütli-Rapportes vom 25. Juli 1940 zu gedenken! I. Europa im Sommer 1940 Halten wir uns die Zeit vom Sommer 1940 vor Augen: Das nationalsozialistische Deutschland schien fast mühelos ganz Europa unter seine Gewalt zu bringen. Zunächst, 1938 noch ohne Waffen, die Tschechei und Österreich. Danach eroberten deutsche Panzerarmeen in schnellen Siegen Polen, Frankreich, Dänemark, Norwegen und die Benelux-Staaten. Dazu kam das schon länger faschistische Italien unter Mussolini. Die starke Armee Grossbritanniens musste sich vom europäischen Festland fluchtartig nach England zurückziehen, um nicht von den Achsenmächten zerrieben zu werden. Hitler überall siegreich - Stalin mit seinem Massenheer ihm ein Verbündeter! II. Und die Schweiz? Die Schweiz war im Sommer 1940 vollständig isoliert und von totalitären Staaten umschlossen. Unser Land verblieb als letzter Hort der Freiheit und Demokratie im kontinentalen Europa. Umgeben von Barbarei, Diktatur, Menschenverachtung und dem Ungeist des Nationalsozialismus. Wen wundert es, dass in dieser Schweiz nicht nur Freude und Dankbarkeit herrschte, sondern Verunsicherung, Sorge, Angst, Missmut und Verzweiflung. Bange Fragen beherrschten den Alltag: - «Wie sollen wir uns verteidigen?» - «Können wir uns überhaupt verteidigen?» - «Es hilft wohl alles nichts.» - «Die anderen sind zu mächtig.» - «Was will die kleine Schweiz?» Der Geist des Defätismus begann um sich zu greifen. Die Moral in der Schweiz drohte zusammen zu brechen. Und die Regierung? Was der Bundesrat in diesen Wochen verlautbarte, war alles andere als hilfreich und klang wenig entschlossen. Am 25. Juni 1940 verkündete Bundespräsident Pilet-Golaz «eine teilweise und stufenweise Demobilmachung». Statt Entschlossenheit also Preisgabe in Gefahr und Not? Sibyllinisch fügte der Bundespräsident hinzu: «Jeder von uns muss den alten Menschen ablegen.»1) Was wollte er damit sagen? Wer war mit diesem "alten Menschen" gemeint? Warum sollte er abgestreift werden, dieser «alte Mensch»? Wie sähe denn der «neue Mensch» aus? Angesichts des Rufs aus dem Norden nach einem erneuerten Menschen konnte Pilet-Golaz wohl nur in diesem Sinn verstanden werden: So wie eben Hitler das neue Europa unter deutscher Führung sah. Doch vielleicht wollte der Bundesrat ganz anderes sagen? Vielleicht glaubte Pilet-Golaz mit diesen Worten den Feind abzuhalten? Nur: Genau darin lag das Problem. In einer schwierigen Zeit verlangt das Volk nach einer klaren, unzweideutigen Position. Vom Bundesrat war diese offensichtlich nicht zu bekommen. III. Rütlirapport 25. Juli 1940 Nicht nur die Bevölkerung, sondern auch General Henri Guisan, der damalige Oberbefehlshaber der Armee, war besorgt wegen der sich ausbreitenden resignativen Stimmung im Land. Er wusste: Die dringendste Aufgabe bestand nun darin, wieder Ordnung in die Herzen und Köpfe zu bringen. Gezielt wählte Guisan deshalb für seine Ansprache - vordergründig an seine Soldaten, aber hauptsächlich an die verunsicherte Bürgerschaft gerichtet - diesen mythischen Ort aus: Die Wiege der Eidgenossenschaft musste es sein. Das Symbol der Freiheit und Unabhängigkeit - das Rütli. Hier, auf dieser kleinen Wiese, versammelte Guisan sein Offizierskorps. Es galt dem Land Sicherheit zu geben und auf einen möglichen Krieg vorzubereiten. Und das Rütli gab vor, welche Werte die Schweiz zu verteidigen hatte: Ihre Freiheit, ihre Unabhängigkeit und Demokratie. Später begründete General Guisan seine Wahl so: «Ich wollte selbst mit ihnen sprechen, Auge in Auge, als Soldat zu Soldaten. Ich hätte das ja in irgendeinem Lokal oder auf irgendeine andere Weise tun können, bei Morgarten vielleicht oder bei Sempach - doch nein, es musste hier geschehen, auf der Rütliwiese, an der Wiege unserer Unabhängigkeit, auf dem Boden, der jedem so vieles vor dem geistigen Auge heraufbeschwören musste.»2) Die damalige Armeeführung stellte für alle erkennbar fest: Die Schweiz hat ihre Identität und ihren Wohlstand auf dem Fundament der Unabhängigkeit und Freiheit errichtet. Doch jede Generation ist aufgefordert, sich diesen Wohlstand neu zu verdienen und die alte Freiheit mit neuem Leben zu erfüllen. Um diese Entschlossenheit rang Guisan vor fünfundsechzig Jahren. Und um die gleiche Entschlossenheit zur unabhängigen Schweiz muss jede Generation neu kämpfen. IV. Die Rede des Generals Guisan hielt damals keine militärische Rede; vielmehr eine politische. Das hatte jetzt Vorrang, was der oberste Armeechef instinktsicher erkannte. Ob der General damals frei gesprochen hat oder nach einem Manuskript, darüber gehen die Meinungen auseinander. Es waren sich nicht einmal mehr alle Teilnehmer darin einig, ob Guisan seine Rede auf Deutsch oder Französisch gehalten hat. Notizen aus seinem Umfeld belegen aber die Dringlichkeit zur geistigen Landesverteidigung aufzurufen: «Der Mut zum Durchhalten ist bei uns schon nicht mehr 100% vorhanden. Zum Teil sind die Kader schuld. Dann die Schwätzer! Und die Politiker! Der erste Kampf, der heute geführt werden muss, ist der Kampf gegen das 'Es nützt nichts'.»3) Ja, die Kader, die Eliten, die Schwätzer, die Politiker: Ihnen musste der Widerstandswille erst wieder eingeimpft werden. Nicht den einfachen Bürgern. Nicht den vielen hunderttausend Schweizer Soldaten, die ihren Dienst taten, um das Land und seine Freiheit zu verteidigen. V. Die Wirkung der Rede Die Symbolkraft des Rütli und dieses Rapports übertrug sich auf das ganze Land. Der 25. Juli 1940 gab die Richtung vor: Die Besinnung auf das historische Erbe. Die Unabhängigkeit des Landes wurde über alle kleinmütigen Bedenken und Versuchungen gestellt. Sich verteidigen, nicht zögern. Es war von grösster Bedeutung für das Land zu spüren, dass die entscheidenden Leute vorangingen und die grundsätzliche Richtung vorgaben. Einzelne, vor allem jüngere Offiziere, zeigten sich enttäuscht vom 25. Juli. Sie erwarteten eine verbindliche, weit detailliertere militärische Strategie. Doch was Guisan den anwesenden Militärs hielt, war eine politische Rede mit drei Hauptgedanken: - Bekenntnis zur unabhängigen und demokratischen Schweiz. - Konzentration der militärischen Kräfte im Réduit im Gebirge. - Und drittens der Aufruf zur geistigen Landesverteidigung. VI. Das Réduit Es ist kein Zufall, dass der Sommer 1940, - die Zeit der höchsten Not, - auch die Geburt einer neuen militärischen Strategie mit sich brachte. Nämlich der Rückzug der Armee ins Réduit, d.h. ins befestigte Gebirge. Aus dem klaren Bekenntnis zur unabhängigen Schweiz und ihren Werten erwuchs in fast natürlicher Logik diese neue militärische Ausrichtung. Erst das unzweifelhafte Ja zur bewaffneten Neutralität gab die Kraft sich auf die eigenen Stärken zu besinnen. Die Armee tat das, was jede Führungskraft - sei es in Politik, Wirtschaft oder Militär - zu jeder Zeit und in jeder Lage wissen sollte: sich auf die eigene Stärke zu besinnen! Natürlich war jedem klar, dass die kleine Schweiz der militärischen Übermacht letztlich hätte unterliegen müssen. Gleichwohl konzentrierte man sich auf die territoriale Besonderheit der Schweiz, um sich so teuer wie möglich zu verkaufen. Der Grundgedanke der neuen Strategie war: Die Achsenmächte hatten letztlich das grösste Interesse an einem funktionierenden Nord-Süd-Durchgang. Der Gotthard stellte das eigentliche Objekt der Begierde dar. Ihn wollte die Schweiz verteidigen oder notfalls zerstören. Neben der Neutralität und einer pragmatischen Handelspolitik gehörte diese Strategie sicher zu den wichtigsten Entscheidungen aus der damaligen Zeit. Ob nun das Réduit gut oder schlecht war; ob es richtig war, das Mittelland und mit ihm ein Gros der Bevölkerung preiszugeben; ob sich die Achsenmächte tatsächlich durch den demonstrativen Wehrwillen abschrecken liessen - solche Fragen sind unnötig! Die gewählte Strategie hatte Erfolg. Das ist entscheidend. Ob es vielleicht eine bessere gegeben hätte, bleibt Spekulation. Die militärische Beurteilung jedenfalls war bestechend: Ohne das Filetstück Gotthard ist die Schweiz ihren Gegnern nichts wert. Fakt ist: Hitler hat die Schweiz nicht angegriffen. VII. Das Ende des zweiten Weltkrieges So dürfen wir heute auf dem Rütli dankbar an den 25. Juli 1940 erinnern, der unsere Freiheit und Demokratie geschützt hat. Wir denken mit Hochachtung an all jene, die damals unerschütterlich für die Eigenständigkeit unseres Landes eingetreten sind. Im Wissen darum, dass menschliche Kraft beschränkt ist, danken wir Gott, dass er unser Land unversehrt diesen Krieg hat überstehen lassen. An diesem Gedenktag danken wir aber auch all jenen, die sich mit Mut, Kraft und Entschlossenheit für die Freiheit in Europa eingesetzt haben.Besonders wollen wir der vielen Soldaten gedenken, die auf den Schlachtfeldern Europas für die Freiheit gestorben sind und all jener, die Opfer dieses mörderischen Krieges geworden sind. Wie ist das Verhalten der Schweiz im 2. Weltkrieg zu beurteilen? Sie hat das grosse Ziel - kein Krieg und gleichzeitig ihren demokratischen, freiheitlichen Rechtsstaat zu bewahren - ganz auf sich selber gestellt erreicht. Natürlich hat sie auch Fehler begangen, aber sie schaffte es, den Krieg als neutraler, demokratischer Staat zu überstehen. An diesem Hauptziel ist die Schweiz zu messen. Diesen Verdienst sollten wir ungeschmälert anerkennen. Lassen wir hier den englischen Kriegspremier Winston S. Churchill zu Wort kommen. Er brachte bereits 1944 mehr historisches Verständnis für die schwierige Lage der Schweiz auf als heute viele führende Schweizer.Am 13. Dezember 1944 - also fünf Monate vor Kriegsende - hielt Churchill fest: «Vor allen Neutralen hat die Schweiz das grösste Anrecht auf bevorzugte Behandlung. Sie war der einzige internationale Faktor, der uns mit den uns schrecklich Entfremdeten noch verband. Was bedeutet es schon, ob sie in der Lage war, uns die gewünschten Handelsvorteile zu gewähren, oder dass sie, um sich am Leben zu erhalten, den Deutschen zuviel gewährt hat? Sie war ein demokratischer Staat, der von seinen Bergen aus seine Freiheit verteidigt hat, und trotz ihrer (ethnischen) Zugehörigkeit hat die Schweiz gesinnungsmässig grösstenteils unsere Partei ergriffen.»4) VIII. Angst vor dem Rütlirapport 2005? Es ist schon erstaunlich: Kaum wurde bekannt, dass diese Gedenkfeier auf dem Rütli stattfindet, machte sich eine eigenartige Angst in den Feuilletons breit. Eine nicht geringe Zahl Politiker, Historiker und Journalisten kritisierte schon präventiv den Anlass und seine möglichen Motive. Es steckt wohl die Angst dahinter, ein historisches Ereignis, bei dem der Wille zur Unabhängigkeit, Selbständigkeit, Freiheit, Demokratie und bewaffneten Neutralität im Mittelpunkt stehen, könnte seine Wirkung entfalten. Und das kann man jetzt nicht brauchen. Vielleicht hätte man dieses Jubiläum von nationaler Bedeutung lieber unter den Tisch gewischt um es zu vergessen. Ich frage Sie: Wie kann man das tun oder gar von «Vereinnahmung» der Geschichte sprechen, wenn wir an diesem Tag die Grundwerte unseres Landes - Freiheit, Unabhängigkeit und Neutralität - ins Zentrum der Betrachtungen stellen? Gewiss, man kann Verständnis für die Befürchtungen dieser um den heutigen Anlass «Besorgten» aufbringen, denn die Beschäftigung mit der Vergangenheit schärft immer auch die Sicht auf die Gegenwart. Es ist unseren Kritikern nicht entgangen, dass zahlreiche Bürger beunruhigt, ja verzweifelt sind über die allgemeine Orientierungslosigkeit der Politik. Auch in der Einladung der Organisatoren und in deren Inseraten kommt diese Verunsicherung zum Ausdruck. Vielleicht gehen Sie alle, die Sie heute hierher gekommen sind, enttäuscht wieder nach Hause, weil Sie keine aktuellen, praktischen Antworten bekommen haben - sei es auf die Frage nach der Unabhängigkeit, zur Verteidigung, zum Zweck und Auftrag unserer Armee. Es mag vielen gleich ergehen wie den jüngeren Offizieren nach dem Rütlirapport von 1940, die sich beklagt hatten, statt einer militär-strategischen Rede nur eine politische Rede vorgesetzt bekommen zu haben. Freilich gilt auch heute: Es hat keinen Wert, über militär- und sachpolitische Einzelfragen zu streiten, bevor man nicht weiss, was man zu verteidigen hat, und wofür man den grundsätzlich einstehen will. Nein, meine Damen und Herren, wie damals beim Rütlirapport ist auch heute die Frage «Was haben wir zu verteidigen?» ins Zentrum zu stellen. Wenn nicht jeder Bürger und Soldat auf diese simple Frage eine überzeugende Antwort in eigenen Worten geben kann, dann ist etwas faul in einem Staat. Und darum gilt auch in der heutigen Zeit des strategischen Umbruchs als bewährte Orientierung unsere Unabhängigkeit, unsere Eigenverantwortung, unsere direkte Demokratie, unsere Freiheit und die Neutralität als Überlebensstrategie eines Kleinstaates. Der Kleine am Rockzipfel des Grossen mag sich einen Sicherheitsgewinn erhoffen. Er täuscht sich. Der Grosse zerrt ihn mit in seine eigenen Abenteuer. Der Drang in die kollektive Sicherheit ist meist Ausdruck von Schwäche, die stets zu fehlendem Realitätsbezug neigt. Der Publizist William Pfaff sagte es plakativ: «Kollektive Sicherheit ist die Ausrede, um die Individuelle Verantwortung für die Sicherheit nicht übernehmen zu müssen.» Aber auch die Neutralität - die Überlebensmaxime des Kleinstaates Schweiz - muss dringend aufrecht erhalten werden. Neutralität schützt uns vor Kriegsbegeisterung, vor Manipulation über die Medien, vor eilfertigem Nachgeben unter Druck. Sie erlaubt uns unparteiische Hilfe, wo sie wirklich gebraucht wird. Sie errichtet, zusammen mit dem Milizsystem, eine hohe Schwelle für den Einsatz der Schweizer Armee. Aber sie ist nicht gratis. Sie braucht standfeste, selbstbewusste Politiker, Diplomaten und Soldaten, die nicht auf fremden Applaus angewiesen sind. Weit realer als die Hoffnung, der Starke gewähre dem Schwachen im Ernstfall uneingeschränkte Hilfe, ist jedoch die Gefahr, an der Seite eines grösseren Partners unfreiwillig in einen Konflikt hineingezogen zu werden. Denn ein Bündnis kann auch in einer Art Geiselhaft enden. Gerade die jüngsten, bis nach Europa hineingetragenen Terroranschläge zeigen, dass die Neutralität auch in Zeiten überstaatlicher Auseinandersetzungen einen besseren Schutz bietet als voreilige Parteinahme. Neutralität darf deshalb nicht heissen, sich aktivistisch überall einzumischen und Stellung zu beziehen. Sie ist vielmehr Garant für den wichtigsten aussenpolitischen Trumpf im internationalen Kräftespiel: die Berechenbarkeit. Sie sehen, so viel anders fällt die Antwort heute nicht aus als damals im Sommer 1940. Wenn nun ein Historiker5) der Zweitweltkriegs-Schweiz vorwirft, man könne nicht sagen, die Schweiz habe sich erfolgreich verteidigt, weil die Schweiz nicht angegriffen worden sei, so hat dieser Autor vom Sinn der bewaffneten Neutralität nichts begriffen. Die dauernd bewaffnete Neutralität steht gerade dafür, den Angriff, den Einfall einer fremden Armee zu verhindern. Der Eintrittspreis (Blutzoll, Zerstörung der Nord-Süd-Achse, Zusammenbruch aller Handelsbeziehungen) sollte damals abschreckend hoch sein. Diese Zusammenhänge hat man übrigens zu meiner Zeit jedem Rekruten beigebracht. Darin liegt die Bedeutung der dauernd bewaffneten Neutralität: Man nennt ihre abschreckende Wirkung im Fachjargon dissuasiv. Gerade der Umstand, dass die Schweiz nicht angegriffen wurde, ist Indiz für den Erfolg dieser Strategie. IX. Schlusswort Darum sei allen Besorgten, allen Zweiflern und Schwätzern, allen Kleinmütigen und Grosssprechern, allen Schwachen und Starken zugerufen: Angesichts der grössten Bedrohung bekannte sich die Schweiz 1940 uneingeschränkt zu ihrer Selbständigkeit und Neutralität. Das Bekenntnis zur alten Freiheit legte erst den Weg und den Mut frei zu einer zukunftsträchtigen Strategie und letztlich zur Rettung des Landes. Warum soll das heute - in unvergleichlich besserer Zeit - nicht auch möglich sein? Also dürfen wir gemeinsam diese eine Botschaft in unsere Schweiz tragen: Besinnen wir uns auf die Kraft der alten Freiheit! Es war 1291 so. Es war 1648 beim Westfälischen Frieden so. Es war 1848 bei der Bundesstaatsgründung so. Es war vor 65 Jahren am 25. Juli so. Warum sollte der Schweiz auf einmal am 24. Juli 2005, an diesem prächtigen Sonntag, die Kraft dazu fehlen? Darum ein selbstbewusstes Ja zur unabhängigen Schweiz und ihrer 700jährigen Freiheit. Aus diesem grundsätzlichen Ja ergeben sich dann Antworten auf die angesprochenen besorgten Fragen vieler Bürger von alleine! 1) Hans Rudolf Kurz, Dokumente des Aktivdienstes, Frauenfeld: Huber, 1965, S. 74-76. 2) Zit. in: Willi Gautschi, Henri Guisan, Zürich: NZZ, 1989, S. 267. 3) Gautschi, S. 278. 4) Winston Churchill, zit. in: Neue Zürcher Zeitung, 18./19. Januar 1997. 5) Thomas Maissen, Varianten des Patrotismus, in: Neue Zürcher Zeitung, 19.07.2005.

05.07.2005

Ein Nein am 25. September wäre negativ

Justizminister Blocher plädierte gestern mit den Bundesräten Deiss und Calmy-Rey für die erweiterte Personenfreizügigkeit. Sonst werde die Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland schnell vorangehen, sagt Blocher. 05.07.2005, Berner Zeitung (Markus Brotschi) Warum sind Sie für die Personenfreizügigkeit mit den neuen EU-Ländern? Bundesrat Christoph Blocher: Es ist ein Wagnis, und die ganze Sache ist so gestaltet, dass man das Wagnis eingehen kann. Wir haben zahlreiche Schutzmassnahmen, um zu verhindern, dass die Arbeitslosigkeit steigt. Wir haben zunächst noch Kontingente, den Vorrang von Schweizer Arbeitskräften gegenüber den neuen EU-Ländern bis 2011 sowie das neue Ausländergesetz mit Restriktionen gegenüber Leuten von ausserhalb der EU. Sind die Schweizerinnen und Schweizer so wagemutig, dass sie am 25. September ja stimmen? Das wird man sehen. Die Weltwirtschaft ist in einer schwierigen Situation. Der Konkurrenzdruck ist enorm. Zum Beispiel sind die Löhne in Tschechien im industriellen Bereich tiefer als in Schanghai. Die Schweizer haben Angst, dass sie ihre Stelle verlieren könnten. Das muss man ernst nehmen. Euphorisch stehen Sie nicht hinter der Vorlage. Wer euphorisch hinter dieser Abstimmungsvorlage steht, macht einen Fehler. Er sagt etwas, das ohnehin niemand glauben kann. Wenn wir die Personenfreizügigkeit nicht vorsichtig handhaben werden wir in eine Situation geraten wie damals, als wir die volle Freizügigkeit mit allen Ländern der Welt hatten. Das war vor der so genannten Schwarzenbach-Initiative. Damals hat der Bundesrat eine vorsichtigere Ausländerpolitik beschlossen, und die war im grossen Ganzen auch erfolgreich. Dies wollen wir in Zukunft gegenüber den aussereuropäischen Ländern auch tun. Es wäre für Sie keine Katastrophe, wenn am 25. September ein Nein heraus käme? Eine Katastrophe ist es nicht. Wenn es das wäre, dürfte man gar nicht abstimmen. Man müsste bei einem Nein einen neuen Weg suchen. Das wäre schwierig. Ich bezweifle eine bessere Lösung als die Vorliegende. Ein Nein wäre also keine Katastrophe, aber schlimm? Es wäre negativ. Werden Sie sich im Abstimmungskampf engagieren? Ich bleibe meiner Auffassung treu, die ich schon vor meiner Wahl in den Bundesrat hatte. Der Bundesrat hat keine Kampagnen zu führen, ich werde mich auch in keine Kampagnen einspannen lassen. Aber ich werde, dort wo ich auftrete, die Situation darlegen und sagen, warum man es wagen sollte. Aber ich gehe an keine Podiumsgespräche und lasse mich nicht in Abstimmungskomitees einspannen. Ist es für Sie schwierig, dass Ihre eigene Partei gespalten ist? Nein, es ist eine natürliche Folge: Bei einem Wagnis gibt es Leute, die nein sagen und solche, die es wagen wollen. Das muss man ertragen können. Ich bin jetzt Bundesrat. Schlimm wäre es, wenn die Partei einzelnen Mitgliedern einen Maulkorb erteilen würde. Ich habe mich eigentlich gefreut, dass meine Partei das offen darlegt und beiden Seiten die Möglichkeit gibt, ihre Position offen zu vertreten. Sie treten am Rütlirapport auf. Werden Sie dort zur Personenfreizügigkeit reden? Warum auch? Der Rütlirapport erinnert an denselben vor 65 Jahren, ist ein festlicher Akt. Damals war beschlossen worden, die Verteidigung der Schweiz auf ihre stärkste Stelle zu konzentrieren. Es war erfolgreich, die Schweiz blieb selbständig, frei und demokratisch - ohne Krieg! Das ist denkwürdig. Welche Branchen werden am stärksten von der Personenfreizügigkeit profitieren? Die Wirtschaft erhält ein grosses Reservoir von Leuten, aus denen sie auslesen kann. Das dürfte sich für alle Gebiete bezahlt machen. Die Frage ist natürlich, ob das dann nicht zu mehr Arbeitslosigkeit führt. Das Arbeitsangebot in der Schweiz ist ja beschränkt. Wenn die Schweiz ein gutes Wirtschaftswachstum sowie gute Rahmenbedingungen hat etwa beim Steuerniveau, und die neuen EU-Länder so ein starkes Wirtschaftswachstum wie heute beibehalten - dann wird in den neuen EU-Ländern das Lohnniveau steigen und die Arbeitslosigkeit sinken. Wie gross wird der Lohndruck durch Arbeitskräfte aus den neuen EU-Ländern in der Schweiz werden? Der Lohndruck wird dort, wo die flankierenden Massnahmen wirken, beschränkt sein. Es gibt ein gewisses Niveau, das nicht unterschritten werden kann. In anderen Berufsgattungen wird die Personenfreizügigkeit eher eine dämpfende Wirkung auf die Lohnsteigerung haben. Aber wenn wir die Personenfreizügigkeit nicht einführen, dann wird die Verlagerung von Arbeitsplätzen aus der Schweiz schnell vorangehen. Diese Entwicklung zeigt sich in Deutschland jetzt ganz enorm. Viele Firmen wandern ab in Billiglohnländer. In welchen Bereichen wird es Lohndruck geben? Jene, die über dem Lohndurchschnitt liegen, wird es mehr treffen als jene, die unter dem Durchschnitt liegen. Im Bereich der Banken, Versicherungen, der Chemie, qualifizierten Berufen, da wird das Angebot an Arbeitskräften relativ gross sein, denn in den neuen EU-Ländern gibt es gut ausgebildete Leute. Wie schätzen Sie die Wirkung der flankierenden Massnahmen ein? Das wird man sehen. Die können wirkungsvoll sein. Sie dürfen aber auch nicht zu starr sein, sonst haben wir einen regulierten Arbeitsmarkt und damit einen grossen Vorteil der Schweizer Wirtschaft Preis gegeben. Wollen Unternehmer immer die günstigsten Arbeitskräfte einstellen? Nein, die besten. Natürlich, wenn man die besten zu besseren Preisen bekommt, wird man nicht nein sagen. Aber die Qualität ist das wichtigere Kriterium als der Preis. Sonst könnten wir unqualifizierte Arbeitskräfte holen. Das wäre sicher billiger, aber sie wären vom Ausbildungsstand nicht einsetzbar. Ist Ihr vorsichtiges Ja auch das Ja des Unternehmers Christoph Blocher? Ich habe jetzt nur als Bundesrat zu sprechen. Aber ich bin Exportunternehmer gewesen und habe auch ausländische Arbeitskräfte eingestellt. Wir haben diese auch immer bekommen. Nur in der Überhitzungsphase von 1989/90 reichten die Kontingente nicht mehr aus. Was sagen Sie Ihrem Parteikollegen Hans Fehr, der die Ängste vor Überfremdung schürt? Ich muss ihm gar nichts sagen. Es hat doch jeder in diesem Land die Freiheit zu sagen, was er denkt. Steht der Bundesrat diesmal - nicht wie bei Schengen/Dublin - einstimmig hinter der Vorlage? Wir geben keine Stimmenverhältnisse bekannt. Werden Sie in den nächsten Monaten doch noch bei den Gegnern auftreten und verklausuliert ein paar Statements gegen die Vorlage von sich geben? Nein, das habe ich auch sonst noch nie gemacht und mache es auch in Zukunft nicht.