20 Jahre nach dem Nein der Schweiz zum EWR (III)

Interview mit der Weltwoche vom 6. Dezember 2012

Herr Blocher, Bundesrat Didier Burkhalter lanciert gemäss Medienberichten eine europapolitische Offensive gegen Sie. Die NZZ schreibt: „Hier kämpft einer für etwas, woran er glaubt“. Was halten Sie davon?
Dass ein Bundesrat für etwas kämpft, woran er glaubt, scheint eine Ausnahme zu sein (lacht)! Burkhalters Pressecommunique steht unter dem Titel: „Fortsetzung der Gespräche zu den institutionellen Fragen mit der EU“. Was heisst das? Wo ist die Strategie?

Sie verzerren. Burkhalter spricht nur von „Reformen“.
Was für Reformen? Es ist alles so konzeptions- und strategielos. Gemäss Duden ist eine Strategie „ein genauer Plan zur Erreichung des eigenen Vorgehens, der dazu dient, ein (…) Ziel zu erreichen, und indem man diejenigen Faktoren, die in die eigene Aktion hineinspielen könnten, zum vornherein einzukalkulieren versucht“. Was ist das schweizerische Ziel des bilateralen Weges? Ich finde es nicht. Ist etwa der bilaterale Weg das Ziel? Ein Weg? Das mag für eine Freizeitgesellschaft noch angängig sein. Aber nicht für internationale Verhandlungen. Gemäss Burkhalter ist das strategische Ziel, einen Weg zu suchen, der für die EU akzeptabel ist.

Na und? Jeder Vertrag muss von der anderen Seite angenommen werden.
Das ist das Ende, nicht schon der Anfang. Was will die Schweiz und bis wohin kann man gehen? Wie ich aus Erfahrung weiss, ringt der Bundesrat vor Verhandlungen nie um diese Fragen. Ganz anders die andere Seite: Die EU weiss, was sie will. Nämlich, dass die Schweiz das künftige EU-Recht, das die EU allein setzt, akzeptiert und die EU-Gerichtsbarkeit akzeptiert und so die Schweiz schlussendlich in die EU zwingt. Nichts anderes als Kolonialverträge: Die EU bestimmt, die Schweiz akzeptiert. Letztlich will Bundesrat, Verwaltung und das Parlament in die EU. Doch zugeben würden sie es heute nicht mehr.

Der Bundesrat lügt die Leute an?
Wir reden von Politikern. Da sagt man nicht lügen, wenn sie ihre wahren Absichten verschleiern oder etwas anderes sagen, als sie denken. Während der letzten 20 Jahre tat Bundesrat und Parlament so, als würden sie bilaterale Verträge mit der EU abschliessen, um die Unabhängigkeit der Schweiz zu wahren. In der EU sagten die Diplomaten das Gegenteil. Die Schweiz komme dann schon in die EU, das Beitrittsgesuch liege ja schon in Brüssel!

Ist der bilaterale Weg so verheerend?
Es gibt ja nichts anderes. Wie wollen sie etwas regeln, ohne Vertrag? Was heute zum „bilateralen Königsweg“ hochgeschrieben wird, ist seit 700 Jahren für die Schweiz Alltag. Aber Verträge können nur freie, eigenständige Staaten schliessen. Dank des EWR-Neins 1992 kann dies die Schweiz noch. Wäre die Schweiz im EWR, wäre ein Vertrag weder möglich noch nötig.

Die EU sagt, der bilaterale Weg sei am Ende. Es brauche eins stärkere institutionelle Anbindung der Schweiz an die EU.
Auch das erklärte die EU vor 20 Jahren. Was haben wir seither gemacht? Eher zu viel als zu wenige solcher bilateraler Verträge. Leider wird der Bundesrat wieder nachgeben.

Chefunterhändler Michael Ambühl verneint. Der Bundesrat widerspricht Ihnen. Es geht nicht um einen neuen EWR, sondern darum, gegenüber der EU eine mehrheitlich mit Schweizern bestückte Behörde zu installieren, die in Konfliktfällen entscheiden kann, ob die Schweiz bestimmte EU-Regelungen übernehmen soll oder nicht. Wir behalten die Möglichkeit, nein zu sagen. Das war im EWR anders.
Das wird die EU nicht akzeptieren. Sie will letztlich die Gerichtsbarkeit. Aber bleiben wir bei der Rechtssetzung. In der Schweiz ist der Bürger die oberste Instanz bei der Rechtssetzung. Wenn die Schweiz das von der EU gesetzte künftige EU-Recht übernimmt, hat der Bürger nichts mehr zu sagen. Eine der grossen Errungenschaften der Schweiz – die direkte Demokratie – würde preisgegeben. Warum hat die Schweiz weniger Schulden als andere Länder? Weil das Volk die Politiker besser kontrolliert. Schuldenbremse, obligatorische Referenden in Gemeinden, Kanton und Bund für Steuern etc. Dieses Recht ginge weitgehend verloren.

Faktisch sind wir doch längst im EWR. Wie viel Prozent unserer Gesetze übernehmen wir heute schon von der EU? 80 Prozent?
Nein. Natürlich regeln wir vieles gleich. Aber nur, wenn es der oberste Gesetzgeber – die Bürger – zulassen. Wir können es auch wieder ändern und abschaffen. Dagegen ist doch nichts einzuwenden. Wenn wir z. Bsp. die Autobahnen gleich anschreiben wie in der EU, ist das freiwillig und sinnvoll. Viele bilaterale Verträge sind aber fast ausschliesslich im Interesse der EU. Aus EU-Sicht entscheidend ist der Verkehrsvertrag. Er regelt die Durchfahrt durch die Alpen.

Ein Pfand für die Schweiz?
Natürlich. Wie wichtig das ist, sah ich 1989, als die Gotthardbahn verschüttet und während dreier Wochen blockiert war. Die norditalienische Industrie geriet in Versorgungsschwierigkeiten. Ich hätte nie gedacht, dass der Alpendurchgang noch heute von derart zentraler Bedeutung ist.

Nochmals: Wir sind doch heute schon faktisch im EWR und übernehmen EU-Recht.
Das nicht. Aber wir haben zweimal gesündigt. Erstens: Die Grenzöffnung durch Schengen/Dublin. Hier übernehmen wir automatisch das Recht. Das funktioniert nicht und bringt mehr Kriminalität. Wir haben die Visahoheit verloren und die Kontrolle über die Aussengrenzen, und haben statt – wie versprochen – halb so viel Asylsuchende bald das Dreifache.

Sie sassen im Bundesrat, waren aber dagegen…
Ja, das ist bekannt. In der bundesrätlichen Botschaft steht so viel bewusst Falsches. Statt der ausgewiesenen Kosten von 7 Mio CHF sind es jetzt 130 Mio CHF pro Jahr. Das konnte ich aus Gewissensgründen nicht vertreten.

Was ist die zweite Sünde?
Personenfreizügigkeit. Das müssen wir anpassen.

Das sind verantwortungslose Vereinfachungen. Wenn die Schweiz die Personenfreizügigkeit kündigt, stürzt das bilaterale Vertragswerk ein.
Nein. Nur wenn die EU das will. Aber das liegt nicht in ihrem Interesse. Glauben Sie doch nicht, dass die EU alle Verträge kündigt! Keiner ist so dumm, sich ins eigene Fleisch zu schneiden. Wird die EU das Verkehrsabkommen kündigen? Sie müsste den Verstand verlieren, das zu tun. Aber wenn sie es trotzdem macht, geht für die Schweiz keine Welt unter. Ende der Personenfreizügigkeit? Die Leute aus der EU kämen trotzdem, um bei uns zu arbeiten.

Kürzlich sagte Rolf Soiron, Verwaltungsratspräsident Holcim, es sei matchentscheidend für die Industrie, dass die Schweiz das neue Strommarktabkommen mit der EU abschliesse. Engere institutionelle Bindungen, wie sie der Bundesrat für diesen Modellvertrag vorsieht, seien zu akzeptieren.
Matchentscheidend? In welchem Match spielt er? Wie die Leute, die schon 1992 bei einem EWR-Nein den Untergang der Schweiz prophezeiten, malen sie wieder neue Schreckgespenste an die Wand. Es ist ja niemand gegen vertragliche Regelung der Energiezu- und -ausfuhr. Aber stellen wir doch nicht deswegen die ganze Schweiz und ihre Wohlfahrt auf den Kopf. Es ist himmeltraurig, wenn führende Schweizer Industrielle ihren Match nur noch dann zu gewinnen glauben, wenn sie vorher die Schweizer Demokratie abschaffen.

Sie unterstellen den damaligen EWR-Befürwortern, sie hätten nichts gelernt und wollten immer noch in die EU. Das stimmt nicht mehr. In der Schweiz wollen die wenigsten Politiker in die EU. Die haben doch auch etwas gelernt. Sie schämen sich inzwischen, dass sie damals für den EWR waren.
Auch die Classe politique liest Meinungsumfragen und sieht: 80% der Leute wollen nicht in die EU. Also passen sie ihre Überlegungen an. Aber im Bundesrat, in der Bundesverwaltung, im Parlament sind 80 % für den EU-Beitritt oder nehmen ihn zumindest in Kauf. Das ist auch verständlich. Sie müssen die Interessen sehen: Wer verliert eigentlich, wenn die Schweiz in die EU oder den EWR geht? Wer profitiert? Die Classe politique verliert nicht. Im Gegenteil: Politiker können auch in der EU mitreden. Dort sind alle für alles zuständig und niemand für etwas. Finanziell ist die EU ebenfalls hochinteressant für Politiker, weil sie für stattliche Bezahlung in vielen Gremien „herumschwimmen“ können, ohne dass das Volk dreinredet. Für die Schweizer Politiker, die Grossfirmen, Interessenverbände ist das Volk eine Belästigung. Sie werden stets gebremst, sich frei zu bedienen und Geld auszugeben. In der EU ist das anders. Woche für Woche eine Gipfelkonferenz. In den elitären Gremien fühlen sich Herr Soiron von Holcim, oder Herr Kielholz von der CS und Rückversicherung, der immer wieder sagte, die Schweiz müsse in die EU, wohl. Solche Leute haben direkten Zugang zu den EU-Gremien. Was aber ist mit dem Schweizer Handwerker? Diese  und die Frau oder der Mann auf der Strasse sind ausgeschlossen. Sie sind auf den Stimmzettel angewiesen.

Der Alleingang, den Sie propagieren, setzt voraus, dass man Widerstand leisten kann in der Art, wie Sie das vielleicht machen. Aber die Politiker und Beamten, Sie sagen es ja selber, haben ein anderes Ziel. Die Schweiz hat gar nicht das Personal, um Ihre Strategie umzusetzen.
Sie haben Recht. Sie können nicht den Vegetarier schicken, um für den Metzgermeisterverband möglichst viel heraus zu holen. Aber sollen wir die Schweiz aufgeben, nur weil die falschen Leute in Bern sitzen.

Alle entlassen?
Nein, aber Sie können die Köpfe in eine andere Richtung drehen, wenn sie die richtigen Aufträge erteilen. Doch trotzdem: Über den Volksentscheid wird man sich auch in Bern nicht ganz ungestraft hinwegsetzen können. Immerhin die Schweiz ist heute – dank dem Volksentscheid 1992 – nicht in der EU.

Ein kluger Bankier,  mit dem wir kürzlich gesprochen haben, hält es für unmöglich, dass die EU die Schweiz als Wohlstandsinsel in ihrer Mitte noch lange tolerieren wird. Der Anpassungsdruck werde zu gross.
Aus seiner Sicht hat er Recht. Die Banken machen ja nichts anderes als jeden Tag ein bisschen nachgeben. An solchen Stimmen sollte man sich derzeit nicht orientieren. Ihm ist zu sagen: Druck des Auslandes auf die Schweiz ist eine Konstante der Schweizer Geschichte! Aber Widerstand auch. Das heisst nicht, dass man nicht irgendwo ab und zu nachgibt. Aber man gibt doch nicht schon von Anfang an auf. Und nicht bei den Staatssäulen. Erinnern wir uns: In den 60er Jahren war Bundesrat Friedrich Traugott Wahlen – ehemals Generaldirektor des Welternährungsrates – eher dem Internationalen zugeneigt. Seiner Meinung nach hätte sich die Schweiz Europa politisch öffnen sollen. Aber er erklärte gegenüber ausländischen Forderungen sinngemäss: Wir als Regierung haben in der Schweiz zum EWG-Beitritt nichts zu sagen. In der Schweiz ist das Volk der Souverän, der Gesetzgeber. Und dieser will seine Souveränität nicht preisgeben. Er will auch in der Zukunft selbst bestimmen. Deshalb kann die Schweiz der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft nicht beitreten. Wo ist heute diese Sprache?

Sie haben als Milliardär, der von seinem Feldherrenhügel herab Widerstandsparolen ausgibt, leicht reden. Die Risiken des Alleingangs blenden Sie aus, Ihnen kann nichts mehr passieren.
Das Wichtigste in jeder Verhandlung ist, dass man dem anderen sagt, wo die Grenzen sind. Wir wollen die anderen nicht reizen, aber ihnen erklären, selbstständig und unabhängig bleiben zu wollen. Nach dem letzten Krieg haben alle Staaten feierlich erklärt – auch die europäischen: Es darf keine Kolonien mehr geben, weder indische noch afrikanische. Und das soll nur noch für afrikanische Staaten, nicht aber für die Schweiz gelten? Was wird der EU-Funktionär erwidern, wenn ich ihn anständig daran erinnere, dass auch die Schweiz keine Kolonie sein möchte? Und was den Milliardär angeht…

..auf seinem Feldherrenhügel....
– ich wohne nicht einmal zu oberst (lacht)! Hinter diesen Milliarden stehen doch Exportunternehmen mit dem Standort Schweiz. Unternehmer müssen reich sein. Es gibt nichts Traurigeres als arme Unternehmer! Wir wissen was exportieren heisst, was die Stärken und Schwächen des schweizerischen Wirtschaftsplatzes sind. Zum Beispiel die EMS-Chemie im Bündnerland. 2/3 der Produkte verkaufte man schon 1992 in die EU. Da muss mir doch keiner, der noch nie einen Bleistift verkauft hat, erzählen, dass man diesem Bürokratenverein beitreten müsse, um den Export zu stärken. Wir arbeiten doch schon lange auch viel mit China zusammen, aber es würde mir nie in den Sinn kommen zu fordern, die Schweiz müsse China beitreten oder einen chinesischen EWR abschliessen. Mit Amerika? Sicher nicht.

Die NZZ schreibt in ihrem aktuellen Leitartikel: „20 weitere Jahre der leeren Polemik kann sich die Schweiz gegenüber Europa nicht mehr leisten.“
Wahrscheinlich gilt bei der NZZ jede andere Meinung bereits als Polemik. Wir haben doch 20 wunderbare Jahre hinter uns. Die Schweizer haben gearbeitet und ihre Wohlfahrt gesichert. Die Schweiz blieb unabhängig, ist gegen den Willen der ganzen Classe politique nicht in der EU, hat eine Schuldenbremse beschlossen, obwohl diese von der ganzen Linken bekämpft wurde. Wir haben einen Sinn für Wettbewerb entwickelt. Viel Eigenverantwortung. Die Nationalbank hatte in den 90er Jahren den Mut, obwohl die Wirtschaft schwächelte, eine Anti-Inflationspolitik durchzusetzen. Und heute? Steht die Schweizer Wirtschaft besser da als die EU. Grosse Teile des hochgelobten EU-Wachstums der 90iger Jahre beruhten auf faulen Krediten – z. Bsp. in Spanien, Griechenland, Portugal, etc. Heute stehen diese Staaten vor einem Totalschaden und verursachen eine wirtschaftliche Misere. Das sieht die NZZ nicht. Sie sieht nur, dass einer mal gesagt hat, die EU sei eine intellektuelle Fehlkonstruktion. Das ist ja furchtbar polemisch (lacht).

Der frühere SP-Präsident Peter Bodenmann bezeichnete Sie in der letzten Weltwoche als „Märchenonkel“.
Herr Bodenmann kennt den tieferen Sinn von Märchen nicht. Er meint, ein Märchen sei eine falsche Geschichte. Märchen aber formulieren eine tiefere Wahrheit. Märchen sind mehr als die Wahrheit. Insofern hat es mich gefreut, dass er mich als Märchenonkel beschrieb.

Was hat Sie an der Diskussion zu 20 Jahren EWR überrascht?
Erstens: Dass die politische Elite lange nicht zugeben wollte, dass der Entscheid richtig war, und jetzt 20 Jahre als Ziel den EU-Beitritt anstrebte. Diese Auseinandersetzung wird mit dem nächsten Vertrag wieder kommen. Zweitens: Ich war überrascht, dass die Bevölkerung heute noch stärker gegen den EWR ist als 1992. Es fängt an zu tagen. Den Kampf zu führen, fällt heute leichter, denn die Leute haben auch Augen und Ohren, um die EU zu beurteilen.

Nennen wir zum Abschluss ein paar Namen, und Sie sagen uns ganz knapp, was Ihnen dazu einfällt. Michael Ambühl?
Ein Stürmi.

Ueli Maurer?
Ein sorgfältiger VBS-Chef.

Didier Burkhalter?
Weiss nicht, was er will.

Adolf Ogi?
….hat vergessen, dass er damals für den EU-Beitritt war.

Franz Blankart?
Er kommt wieder aus seiner Höhle. Er war ein guter internationaler Verhandler. Gäbe man ihm einen klaren Auftrag und liesse man ihn dann machen, müsste der Bundesrat nicht mehr selber verhandeln, was ein Vorteil für die Schweiz wäre.

Eveline Widmer-Schlumpf?
…ist, glaube ich, Bundesrätin.

Ihr grösster Gegner?
….ich finde ihn nicht mehr. Das ist ein Problem (lacht).§

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