Die grosse Katastrophe kommt bei der nächsten Wirtschaftsflaute

Interview in der «Berner Zeitung» vom 27. Mai 2011 mit Andrea Sommer

Herr Blocher, wo genau haben Sie ein Problem mit der Personenfreizügigkeit?
Mit diesem Vertrag hat die Schweiz die Ausländerpolitik aus der Hand gegeben. Sie muss die Handlungsfreiheit zurückgewinnen, um die uferlose Zuwanderung begrenzen zu können. Die Personenfreizügigkeit ist nur eine der Ursachen dafür. Weitere sind die offenen Grenzen seit dem Schengenabkommen und unser Asylwesen, das ausser Rand und Band ist, weil das Dublin-Abkommen  nicht funktioniert und die Behörden nicht ausschaffen.

Bleiben wir bei der Personenfreizügigkeit: Dadurch kommen hoch qualifizierte Arbeitskräfte ins Land, die die Wirtschaft braucht.
Eine gründliche Untersuchung ergibt das Gegenteil. Tatsache ist: In den letzten vier Jahren sind netto über 320’000 Leute ins Land gekommen. Mit der Personenfreizügigkeit kann, wer hier arbeitet, die Familie bis zur Grossmutter mitnehmen. Und wer während eines Jahres in einem EU-Land gearbeitet hat, kann in der Schweiz während fünf Jahren die vollen Sozialleistungen beziehen. Auch wenn er hier nur 30 Tage gearbeitet hat. Die grosse Katastrophe aber kommt bei der nächsten Wirtschaftsflaute. Bei unseren hohen Sozialleistungen gehen diese Leute nicht mehr heim. Über 3 % Arbeitslose schon heute – in dieser Hochkonjunktur – ist zuviel!. Mit der Personenfreizügigkeit werden wir in wirtschaftlich schlechteren Zeiten, die uns bevorstehen, sechs, sieben Prozent Arbeitslosigkeit bekommen.

Das Ausland beneidet uns um diese tiefe Quote.
Unter Blinden ist der Einäugige König.  Früher betrug die Arbeitslosenquote in der Schweiz bei Hochkonjunktur etwa 1,5 Prozent. Nur in Rezessionszeiten waren es drei oder vier Prozent.

Im Jahr 2000 war die SVP deutlich für die Bilateralen I und damit für die Personenfreizügigkeit.
Ich habe damals im Nationalrat vor der Schlussabstimmung erklärt, warum ich gegen die Personenfreizügigkeit bin. Die Partei war gespalten. Aber ich gebe zu: Auch ich hätte nicht gedacht, dass die Probleme so gross werden. Dies kam auch, weil europäische Länder so schlecht dastehen. Ohne Schuldzuweisung: Die Schweiz hat damals einen falschen Entscheid getroffen, den man heute korrigieren muss.

Auch heute ist sich die SVP nicht einig: Peter Spuhler erklärte vor einigen Tagen gegenüber NZZ Online, die Personenfreizügigkeit sei gut und wichtig für die Schweizer Wirtschaft.
Es stimmt, die Wirtschaft ist gespalten und das verstehe ich auch. Für die Manager ist die Personenfreizügigkeit vorteilhaft: Wenn  Schweizer Arbeitnehmer Vorrang haben, ist die Auswahl kleiner und die Unternehmer müssen eine Bewilligung für Ausländer einholen, was Umtriebe bringt. Aber unternehmerischer Eigennutz ist nicht immer gute Wirtschaftspolitik, denn kurzsichtig denkende Unternehmer vergessen die Belastung der Sozialwerke, vergessen die Probleme, die in der Rezession kommen, vergessen die Probleme bei Wohnraum, Verkehr, der Kriminalität, der Arbeitslosigkeit und die sozialpolitischen Spannungen, die durch die Zuwanderung entstehen.

Wirtschaftskreise finden es allerdings verantwortungslos, wenn Sie sagen, die Schweiz solle das Personenfreizügigkeitsabkommen und damit die Bilateralen I kündigen.
Wir streben Neuverhandlungen an – nicht die Kündigung. Aber wenn es nicht anders geht, muss man dies in Kauf nehmen. Es geht um Anpassung des einen Vertrages im Personenverkehr. Dafür spricht sich übrigens auch Peter Spuhler aus. Auch die EU wird es nicht auf eine Kündigung ankommen lassen – bei guten Verhandlungen.

Sie sagen das so locker: Dabei hätte das doch negative Konsequenzen für die Schweiz.
Nein. Zunächst: Die Schweiz kann die Arbeitskräfte auch ohne Personenfreizügigkeit rekrutieren. Nutzen die Schweizer die Personenfreizügigkeit in der EU? Tatsächlich arbeiten nach wie vor 30’000 Schweizer in Europa – so viele waren es schon vor Abschluss des Vertrags.

Und wenn die EU die anderen Abkommen der Bilateralen I kündigt?
Daran hat vor allem die EU kein Interesse. Das für die EU-Staaten wichtigste Abkommen  der Bilateralen I ist das Verkehrsabkommen. Würde dieses gekündigt, dann könnte die Schweiz im Alleingang die Durchfahrtspreise und die Regeln festlegen. Glauben Sie, dass Holland, Frankreich, Italien, Österreich und Deutschland diesen Verkehrsvertrag kündigen wollen? Die anderen fünf Abkommen, wie etwa jenes zur Forschung, sind nicht von Belang.

Immerhin gibt es noch jenes, das die technischen Handelshemmnisse zwischen Schweiz und EU abbaut.
Hier ist das Interesse der Schweiz und der EU gleichgelagert. Am Montag erklärte Bundesrat Johann Schneider Ammann vor der Volkswirtschaftlichen Gesellschaft in Zürich, dass die Schweiz nach den USA der zweitwichtigste Abnehmer der EU sei. Und wir kaufen der EU mehr ab, als wir ihr verkaufen. Wer legt denn dem wichtigsten Kunden Handelshemmnisse in den Weg? Zudem würden selbst bei einer Kündigung der Bilateralen I das Freihandelsabkommen von 1972 und die WTO-Regeln gelten. Nochmals: Wir wollen keine Abkommen kündigen, und die EU hat kein Interesse, es zu tun; aber täte sie es tatsächlich, dann wäre dies keine Katastrophe.

Arbeitgeberpräsident Rudolf Stämpfli sagt, ohne Personenfreizügigkeit seien Zehntausende Arbeitsplätze gefährdet.

Der gleiche Verband, der auch damals beim Nein zum EWR/EU drohte, bei einem Nein sei die Schweiz gefährdet! Wo soll etwas gefährdet sein? Nach wie vor soll gelten: Findet man die Arbeitskräfte nicht in der Schweiz, werden Ausländer bewilligt. Aber nicht mehr auf die exzessive Art und Weise wie heute, da müssen wir massvoller sein.

Was wäre die Alternative zu den Bilateralen?
Immer, wenn man ein Problem zwischen zwei Staaten hat, macht man einen bilateralen Vertrag. Das ist in der Schweiz seit 1291 so. Aber nicht alles, was ein bilateraler Vertrag beinhaltet, ist per se gut. Die EU braucht z.B. im Verkehr von der Schweiz ein Entgegenkommen – da ist die EU Bittsteller und nicht wir. Wir bauen für die EU eine Alpentransversale für 18 Milliarden und gleich viel garantieren wir sinnlos über den IWF für die überschuldeten EU-Staaten. Und da soll eine Neuverhandlung der Personenfreizügigkeit nicht möglich sein?!

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