Justizreform

Referat von Bundesrat Christoph Blocher am Kongress des Schweizerischen Anwaltsverbandes, 9. Juni 2007, in Luzern

09.06.2007, Luzern

Luzern. In seinem Referat am Kongress des Schweizerischen Anwaltsverbandes informierte Bundesrat Christoph Blocher über den bereits umgesetzten Teil der Justizreform und den Stand der Projekte, die sich noch im Entwurf befinden.

Es gilt sowohl das mündliche wie das schriftliche Wort, der Redner behält sich vor, auch stark vom Manuskript abzuweichen.

Sehr geehrte Damen und Herren

1. Ziele der Justizreform

Vor etwas mehr als sieben Jahren haben Volk und Stände mit der deutlichen Annahme der Verfassungsänderung vom 12. März 2000 den Startschuss gesetzt zu einer umfassenden Justizreform. Diese setzt sich zum Ziel, den Rechtsschutz zu verbessern, das Bundesgericht funktionsfähig zu erhalten und die Grundlagen für ein einheitlicheres schweizerisches Prozessrecht zu schaffen. Gestärkt werden soll die Justiz auf Kantons- wie auf Bundesebene.

2. Was umfasst die Justizreform?

Auf Verfassungsebene gibt es folgende Neuerungen:

* In Art. 29a BV wird mit der Rechtsweggarantie ein neues Grundrecht verankert. Dieses gewährt den Bürgerinnen und Bürgern bei praktisch allen Rechtsstreitigkeiten den Zugang zu einem unabhängigen Gericht.
* Die Stellung und die Zuständigkeiten des Bundesgerichts sowie der Zugang zum höchsten Gericht werden neu umschrieben (Art. 188-191 BV).
* Die Justizreform legt die verfassungsrechtlichen Grundlagen für das Bundesstrafgericht und das Bundesverwaltungsgericht (Art. 191a BV).
* Die Kantone werden verpflichtet, für die Beurteilung von Streitigkeiten aus allen Rechtsbereichen (Zivilrecht, Strafrecht, öffentliches Recht) Gerichte einzusetzen (Art. 191b BV).
* Der Bund erhält die Kompetenz, das Straf- und das Zivilverfahren einheitlich zu regeln (Art. 122 und 123 BV).

Diese verfassungsrechtlichen Vorgaben werden auf Gesetzesstufe in drei Teilen umgesetzt: durch

* die Totalrevision der Bundesrechtspflege, welche das Bundesgerichtsgesetz, das Verwaltungsgerichtsgesetz und das Strafgerichtsgesetz umfasst
* den Erlass einer Schweizerischen Strafprozessordnung
* und den Erlass einer Schweizerischen Zivilprozessordnung
* und den Erlass einer Jugendstrafprozessordnung

3. Was ist bereits gemacht?

Seit dem 1. Januar 2007 sind alle Verfassungsbestimmungen der Justizreform in Kraft. Ebenfalls seit dem 1. Januar 2007 ist die neue Bundesrechtspflege in Kraft. Mit der Rechtspflegereform sind Organisation und Verfahren des Bundesgerichts, seine Vorinstanzen sowie die Rechtsmittel, die an das oberste Gericht führen, umfassend neu geregelt worden. Diese Massnahmen bezwecken, das Bundesgericht zu entlasten, den Rechtsschutz zu verbessern sowie die Verfahren zu vereinfachen.

Damit ist ein wichtiger Teil der Justizreform auf Gesetzesstufe heute bereits umgesetzt:
Seit dem 1. Januar 2007 präsentiert sich das Bundesgericht in Lausanne mit einer strafferen Leitungsstruktur. Die neuen Einheitsbeschwerden und die subsidiäre Verfassungsbeschwerde sind an die Stelle des alten komplizierten Rechtsmittelsystems getreten. Direktprozesse vor Bundesgericht sind nur noch in wenigen Fällen möglich. Unser höchstes Gericht kann sich wieder auf seine eigentliche Funktion, die Gewährleistung der einheitlichen Rechtsanwendung und der Rechtsfortbildung, konzentrieren.

Auf den 1. Januar 2007 hat ferner das Bundesverwaltungsgericht – vorerst in Bern – seine Arbeit aufgenommen. Das neue Gericht hat die alten eidgenössischen Rekurs- und Schiedskommissionen abgelöst und die Aufgaben der Beschwerdedienste der Departemente sowie die meisten Rechtspflegeaufgaben des Bundesrates übernommen.

Die erste Bilanz des Bundesverwaltungsgerichts darf sich sehen lassen: Ende April 2007 hat das Gericht trotz Umstellung auf eine ungewohnte Informatik bereits 2000 Fälle erledigen können.

Bereits seit dem 1. April 2004 urteilt das Bundesstrafgericht in Bellinzona in Strafsachen, die der Bundesgerichtsbarkeit unterstehen. Es handelt sich dabei etwa um Straftaten von Bundesbeamten oder um Fälle von Wirtschaftskriminalität. Das Bundesstrafgericht hat ferner die Aufgaben der früheren Anklagekammer des Bundesgerichts übernommen. So beurteilt es namentlich Beschwerden gegen die Bundesanwaltschaft oder entscheidet über Zwangsmassnahmen in Strafverfahren des Bundes.

Die neuen Bundesgerichte gewähren als unmittelbare Vorinstanzen des Bundesgerichts umfassenden Rechtsschutz und entlasten dadurch unser höchstes Gericht. Ferner setzt der Bund durch die neuen Gerichte in seinem Zuständigkeitsbereich die allgemeine Rechtsweggarantie des Art. 29a BV um.

4. Was ist noch „unterwegs?“

In parlamentarischer Beratung befinden sich der Entwurf für eine Schweizerische Strafprozessordnung (StPO) und der Entwurf für eine Schweizerische Zivilprozessordnung (ZPO) und der Jugendstrafprozessordnung (JStPO). Ferner steht den Kantonen noch viel Arbeit bei der Umsetzung der Vorgaben der Justizreform bevor.

Weit fortgeschritten sind die Arbeiten zur StPO: Der Nationalrat berät die Vorlage als Zweitrat in der laufenden Sommersession. Ziel ist, dies noch in dieser Legislatur abzuschliessen und auf den 1.1.2010 in Kraft zu setzen.

Eine Vereinheitlichung des Strafprozessrechts ist aus folgendem Grund geboten: Moderne Formen der Kriminalität halten sich nicht an Staats- oder Kantonsgrenzen. Oft sind deshalb Behörden mehrerer Staaten oder Kantone mit der Aufklärung eines Deliktes beschäftigt. Demgegenüber bestehen in der Schweiz 29 verschiedene Strafprozessordnungen, nämlich 26 kantonale und 3 eidgenössische. Diese Rechtszersplitterung führt zu komplizierten, langen und teuren Verfahren.

Die StPO wird die 26 kantonalen Prozessgesetze und den Bundesstrafprozess (BStP) ersetzen. Bewusst ausgeklammert wurden der Verwaltungsstrafprozess und der Militärstrafprozess, da es sich dabei um besondere Verfahrensarten handelt. Parallel zur StPO entsteht ferner eine schweizerische Jugendstrafprozessordnung. Die einheitliche Verfahrensordnung soll namentlich die Effizienz bei der Verbrechensbekämpfung steigern.

Die StPO knüpft so weit als möglich an Bewährtes an. Die kantonalen Strafprozessordnungen weisen indessen teilweise erhebliche Unterschiede auf. Der Bundesgesetzgeber hat sich deshalb oft für die eine oder andere Variante entscheiden müssen. Das gilt in erster Linie für die Frage des Strafverfolgungsmodells.

Der Entwurf zur StPO basiert auf dem so genannten Staatsanwaltsmodell II: Die Staatsanwaltschaft leitet die Untersuchung, ordnet Zwangsmassnahmen an, erlässt Strafbefehle oder erhebt Anklage und sie vertritt die Anklage auch vor Gericht. Diese Machtfülle der Staatsanwaltschaft steht für Effizienz der Strafverfolgung, birgt aber die Gefahr des Machtmissbrauchs.
Um die Macht der Staatsanwaltschaft zu kontrollieren und zu beschränken haben Kantone und Bund Zwangsmassnahmengerichte einzuführen. Diese entscheiden etwa über die Untersuchungshaft. Im Übrigen hat der Angeschuldigte umfassende Informations-, Verteidigungs- und Mitwirkungsrechte.

Auf gutem Weg ist auch die Vereinheitlichung des Zivilprozessrechts. Die Rechtskommission des Ständerats hat die Beratungen abgeschlossen. Der Ständerat behandelt die Vorlage in der laufenden Sommersession.

Die Schweiz ist das letzte Land in Europa, dessen Zivilprozessrecht noch nicht vereinheitlicht ist. Jeder Kanton hat seine eigene Zivilprozessordnung. Die kantonalen Ordnungen haben sich zwar im Laufe der Zeit immer mehr angenähert. Trotz dieser Annäherung haben die verbliebenen Unterschiede gewichtige Nachteile: Prozessieren ausserhalb des eigenen Kantons ist immer mit erheblichen Zusatzrisiken und Kosten verbunden, denn prozessrechtlich ist man dort eigentlich schon im Ausland. Zudem wird der Zugang zur Justiz verteuert und erschwert – zum Nachteil der einzelnen Bürgerinnen und Bürger, zum Nachteil aber auch unserer Wirtschaft.

Die zukünftige ZPO ersetzt die 26 verschiedenen kantonalen Prozessordnungen durch eine grundsätzlich abschliessende Kodifikation. Die Kantone bleiben indessen weiterhin zuständig für die Organisation der Gerichte, deren sachliche Zuständigkeit und die Kostentarife.

5. Sind die Ziele erreicht?

Folgende Ziele wurden bisher erreicht:

* Die rechtlichen Grundlagen für die Verbesserung des Rechtsschutzes sowie die Optimierung des Justizsystems auf kantonaler und auf Bundesebene wurden in Kraft gesetzt (Rechtsweggarantie, BGG, VGG, SGG).
* Es wurden zwei neue erstinstanzliche Bundesgerichte ins Leben gerufen und mit der nötigen Infrastruktur versehen. Das Bundesgericht ist neu organisiert worden.
* Der Bund verfügt über die Kompetenz zur Vereinheitlichung des Straf- und Zivilprozessrechts. Die bundesrätlichen Entwürfe sind auf breite Zustimmung gestossen. Die parlamentarische Beratung ist auf gutem Wege.

Für folgende Fragen ist eine Beurteilung noch verfrüht: Werden die gesetzlichen Massnahmen die gewünschten Wirkungen zeitigen? Wird sich der Rechtsschutz tatsächlich verbessern? Funktioniert das Justizsystem auf Bundesebene effizienter? Können die Kantone die Vorgaben der Justizreform rechtzeitig und mit vernünftigem Aufwand bewältigen?

Erst eine umfassende Evaluation der Wirkungen der Justizreform wird hier verlässliche Antworten bringen können.

6. Schluss

Eine gut funktionierende Justiz ist von unschätzbarem Wert. Sie schafft bei den Bürgerinnen und Bürgern, aber auch bei der Wirtschaft Vertrauen. Die Justizreform will hier einen Beitrag für gute rechtliche Rahmenbedingungen leisten.

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