Klare Schranken für die Sterbehilfe

Beitrag von Bundesrat Christoph Blocher in der Neuen Zürcher Zeitung vom 26. Mai 2007

26.05.2007, Beitrag von Bundesrat Christoph Blocher in der Neuen Zürcher Zeitung

Seit altersher beschäftigen sich die Menschen mit Fragen des Überganges vom Leben zum Tod und mit der Sterbehilfe. Dass sich die Schüler der Heilkunde mit dem Hippokratischen Eid verpflichteten, keine Tötung auf Verlangen und keine Beihilfe zur Selbsttötung durchzuführen, weist darauf hin, dass bereits in der Antike solche Anfragen an Ärzte gerichtet wurden und manche Ärzte solche Handlungen auch durchführten. In den letzten Jahren hat in der Schweiz insbesondere das Phänomen des so genannten Sterbetourismus die Diskussion um die Sterbehilfe neu entfacht. Der Bundesrat hat in seinem, Ende Mai 2006, veröffentlichten Bericht über Sterbehilfe und Palliativmedizin ausführlich dargelegt, dass das geltende Recht klare Schranken setzt und dass kein gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht. Fragen muss man sich allerdings, ob die Strafvollzugsbehörden in allen Kantonen ihrer Pflicht nachkommen. Ihnen obliegt es nämlich, bei jedem Todesfall abzuklären, ob es mit rechten Dingen zugegangen ist.

Am absoluten Tötungsverbot nicht rütteln
Der Schutz des menschlichen Lebens gehört zu den vornehmsten und primären Aufgaben des Staates. Bisher haben es sowohl der Bundesrat wie das Parlament entschieden abgelehnt, das unserer Rechtsordnung zugrunde liegende absolute Tötungsverbot zu lockern. Zwar waren die parlamentarischen Vorstösse zur Legalisierung der direkten aktiven Sterbehilfe restriktiv formuliert. Nur in extremen Ausnahmefällen sollten jene von einer Strafe befreit werden, die aus Mitleid einen unheilbar und schwer kranken, vor dem Tode stehenden Menschen, auf sein eindringliches Verlangen hin von einem unerträglichen und menschenunwürdigen Leiden befreien. Dass diese Vorstösse abgelehnt wurden ist auf den breiten Konsens zurückzuführen, dass selbst eine äussert restriktive Strafbefreiung der direkten aktiven Sterbehilfe ein Tabu brechen, Hemmschwellen senken und gefährliche Schleusen zur unfreiwilligen Sterbe-„Hilfe“ öffnen würde. Man erkannte bisher, dass wir die Geister, die wir gerufen haben, nicht mehr loswerden würden.

Gesetz oder eigene Verantwortung?
Die indirekte aktive und die passive Sterbehilfe dagegen gehören seit langem zum Schweizer Spitalalltag und sind in den standesrechtlichen Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften detailliert geregelt. Dennoch fordern parlamentarische Vorstösse, diese unter bestimmten Voraussetzungen straflosen Formen der Sterbehilfe auch ausdrücklich im Strafgesetzbuch zu regeln. Die Befürworter einer Regelung im Strafgesetzbuch sind sich allerdings uneinig, ob eine restriktivere oder liberalere Lösung anzustreben ist, und bezeichnenderweise schweigen sich die Vorstösse über den genauen Inhalt einer solchen Regelung aus.

Es wäre zwar durchaus möglich, im Strafgesetzbuch festzulegen, unter welchen allgemeinen Voraussetzungen etwa der Verzicht auf lebenserhaltende Massnahmen (passive Sterbehilfe) oder eine Schmerzbehandlung mit lebensverkürzenden Nebenwirkungen (indirekte aktive Sterbehilfe) straflos sind. Doch eine abstrakte, allgemeingültige Regelung könnte nicht alle möglichen Einzelfälle und heiklen Fragen erfassen und wäre deshalb nicht von praktischem Nutzen. Das Standesrecht auf der Grundlage des absoluten Tötungsverbotes eignet sich viel besser, um komplexe und vielfältige Fallkonstellationen detailliert und konkret zu regeln. Und letztlich muss der Arzt oder die Ärztin in eigener Verantwortung, je nach Gegebenheiten des Einzelfalls, entscheiden, welche Massnahmen unterlassen werden können und welche Therapie unerlässlich oder zulässig ist. Dieser Entscheid kann und darf ihm ein Gesetzesartikel nicht abnehmen, auch wenn dies viele Ärzte fordern.

Liberale Regelung der Suizidhilfe
Die Bundesverfassung schützt nicht nur das Recht auf Leben, sondern auch das Recht auf persönliche Freiheit. Die individuelle Selbstbestimmung schliesst das Recht ein, auch über die Beendigung des eigenen Lebens frei zu entscheiden und unter Umständen den Freitod zu wählen. Indem der Staat die Beihilfe zum Suizid ohne selbstsüchtige Beweggründe zulässt, hilft er dem Einzelnen in dieser Situation seinen Willen frei zu bilden und danach zu handeln. Gerade diese Straflosigkeit der uneigennützigen Beihilfe zum Suizid erleichtert es, konsequent und ohne Abstriche am absoluten Tötungsverbot festzuhalten.

Die liberale Regelung der Suizidhilfe, die seit Inkrafttreten des schweizerischen Strafgesetzbuches gilt, ist eine Ausnahme im Vergleich mit den umliegenden Ländern. Aber gerade sie hat zur Entstehung von Suizidhilfeorganisationen geführt und ist eine Hauptursache für das Aufkommen des sog. Sterbetourismus. Die Schweiz ist allerdings kein Sonderfall: In Holland und Belgien ist die Suizidhilfe unter bestimmten Bedingungen ebenfalls legal. Bisher wurde in der Schweiz von keiner Seite eine Revision der geltenden Gesetzesbestimmung gefordert, um diese liberale Regelung aufzuheben. Es besteht vielmehr ein breiter Konsens, dass diese bewährte Regelung, die sowohl das menschliche Leben schützt als auch den Willen der sterbewilligen Person respektiert, nicht angetastet werden soll.

Missbräuche bei der Suizidhilfe unterbinden
In rund 20% aller Suizidfälle wird heute in der Schweiz der Suizid mit Hilfe einer Suizidhilfeorganisation begangen. In höchstens 7% der Suizidfälle handelt es sich um Personen mit Wohnsitz im Ausland. Auch, wenn man in Anbetracht dessen nicht von einem Boom des Sterbetourismus sprechen kann, sind mit der Zunahme der organisierten Suizidbeihilfe zweifellos Missbrauchsgefahren verbunden, die dazu führen können, dass die Grenze vom legalen zum strafbaren Verhalten überschritten wird. Und selbst wenn keine strafbaren Handlungen begangen werden, zieht namentlich der Sterbetourismus eine Reihe unerwünschter Folgen nach sich: So stellt der Betrieb von Suizidhospizen weit über deren unmittelbare Nachbarschaft hinaus eine Störung und Belastung dar. Ferner drohen die schnelle „Abwicklung“ und andere stossende Begleiterscheinungen des Sterbetourismus dem Ruf der Schweiz zu schaden und er bewirkt einen beträchtlichen Arbeitsaufwand und entsprechende Kosten für die betroffenen Behörden.
Mögliche Missbräuche im Rahmen der Suizidhilfe sind durch eine konsequente Anwendung des Straf- und Gesundheitsrechts zu unterbinden, was auch möglich ist. Zuständig dafür sind die Kantone und Gemeinden. Wenn zum Beispiel die Grenzen von der uneigennützigen – und damit straflosen Beihilfe zur Selbsttötung – zur Fremdtötung überschritten werden oder bei der Verschreibung des todbringenden Betäubungsmittels Natrium-Pentobarbital (NAP) der Sterbewunsch nicht sorgfältig und fachkundig abgeklärt wird, sind die Behörden und nicht der Gesetzgeber gefordert. Es ist unerlässlich, dass auch nach jeder Selbsttötung die Strafverfolgungsbehörden sorgfältig und umfassend die Todesart abklären, da bei einem aussergewöhnlichen Todesfall eine strafbare Handlung von Dritten grundsätzlich nie ausgeschlossen werden kann. Diese Behörden haben einen Augenschein vor Ort zu nehmen, Einvernahmen durchzuführen und eine Untersuchung der Leiche durch einen sachverständigen Arzt anzuordnen, um den Sachverhalt abzuklären. Ebenso müssen die Gesundheitsbehörden konsequent gegen Sorgfaltspflichtverletzungen von Ärzten vorgehen und ihnen allenfalls die Bewilligung zur Berufsausübung entziehen. Diese konsequent eingeführte Praxis, die die Handlungsmöglichkeiten konsequent nutzt, verfehlt seine Wirkung nicht. So ist. z.B. der Sterbetourismus im Kanton Aargau dadurch praktisch zusammengebrochen. Die Kontroll- und Interventionsmöglichkeiten, die das geltende Recht bietet und zu nutzen gebietet, werden jedoch nicht immer voll ausgeschöpft.

Ein Aufsichtsgesetz?
Statt die Gesetze zu vollziehen, wird in der Öffentlichkeit immer wieder der Erlass eines Bundesgesetzes über die Zulassung und Beaufsichtigung von Suizidhilfeorganisationen gefordert. Doch neue Gesetze schützen nicht vor der Passivität der Behörden, sondern beschönigen diese. Auch die Schaffung eines Aufsichtsgesetzes hat der Bundesrat abgelehnt, denn es bietet keine taugliche und brauchbare Lösung, um Missbräuche zu verhindern. Die Gefahr ist sehr gross, dass dadurch lediglich von der eigentlichen Aufgabe abgewichen wird, die geltenden Gesetze konsequent anzuwenden. Noch schlimmer: Ein Aufsichtsgesetz könnte die verantwortlichen Behörden dazu verleiten, die Fälle nicht mit der notwendigen Konsequenz und Gründlichkeit abzuklären, da sogenannt staatlich qualifizierte und beaufsichtigte Organisationen über jeglichen Zweifel und Verdacht erhaben zu sein scheinen. Statt Fremdtötung zu verhindern, würde ein solches Gesetz diese in der Praxis fördern!

Es ist ausserordentlich gefährlich, dass der Staat durch ein Aufsichtsgesetz gleichsam nach aussen diese Organisationen und deren Tätigkeit legitimieren oder ihnen gar ein Gütesiegel verleihen würde.

Ob ein Aufsichtsgesetz tatsächlich einen besseren Einblick in die Finanzen einzelner Organisationen ermöglicht, um allfällige selbstsüchtige Beweggründe leichter nachweisen zu können, ist fraglich. Die nicht unentgeltlich tätigen Suizidhilfeorganisationen sind nämlich zur Eintragung ins Handelsregister verpflichtet und können im Unterlassungsfall von Amtes wegen zwangsweise eingetragen werden. Damit sind sie auch verpflichtet, ihre Geschäftsbücher ordnungsgemäss zu führen und aufzubewahren. Im Falle eines Zweifels an der Rechtmässigkeit einer Suizidbegleitung können sich also die Strafverfolgungsbehörden einen Einblick in die Art und den Umfang der Geschäfte verschaffen, was Behörden häufig unterlassen.

Kein rechtsfreier Raum
Sterbehilfe ereignet sich in der Schweiz nicht in einem rechtsfreien Raum. Die Regeln sind heute in der Bundesverfassung, im Bundesrecht und im kantonalen Recht, in Gemeindebeschlüssen sowie im Standesrecht gegeben. Hinsichtlich der Strafbarkeit der direkten aktiven Sterbehilfe besteht keine Rechtsunsicherheit. Sie ist verboten. Unvermeidliche Grenzzonen (z.B. im Grenzbereich zwischen Schmerztherapie und gezielter Lebensverkürzung) lassen sich nicht durch gesetzliche Regelungen aus der Welt schaffen. Jede Regelung würde dazu führen, dass Töten in Ausnahmefällen grundsätzlich erlaubt wäre. Töten muss aber grundsätzlich verboten bleiben.
Erstrebenswert ist hingegen ein Ausbau des Angebots der Palliativmedizin. Denn eine umfassende Unterstützung und Betreuung todkranker Patienten ermöglicht es diesen Menschen, in Würde zu leben und zu sterben. Die Palliativmedizin trägt damit dazu bei, den Sterbewunsch und die Nachfrage nach Suizidhilfe abzuschwächen.

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