Das Tessin und die EU: Selbstbestimmung, Steuerhoheit, Sicherheit

Referat von Bundesrat Christoph Blocher an der Informationsveranstaltung der SVP Tessin, 16. März 2007, Locarno

16.03.2007, Locarno

Locarno. An der Informationsverstaltung der SVP Tessin erinnerte Bundesrat Christoph Blocher an die hohen Nein-Quoten aus dem Tessin zu Abstimmungen über aussenpolitische Themen und drückte seinen Wunsch aus, die restliche Schweiz würde sich ein Beispiel nehmen an der Widerstandskraft und dem Unabhängigkeitswillen der Tessiner. Des Weiteren sprach er sich im Zusammenhang mit der Jugendkriminalität für eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen den Migrations-, Einbürgerungs- und Polizeibehörden aus.

Es gilt sowohl das mündliche wie das schriftliche Wort, der Redner behält sich vor, auch stark vom Manuskript abzuweichen.

1. Vorbild Indemini

Sie kennen wahrscheinlich alle die Gemeinde Indemini. Sie liegt gleich hier gegenüber von Locarno, auf der anderen Seite des Lago Maggiore. Allerdings steckt das kleine Dorf hinter einem Bergrücken, am oberen Ende des Valle Veddasca, unmittelbar an der Grenze zu Italien und ist somit von hier aus nicht zu sehen. Warum erwähne ich dieses Indemini? Es gibt eine interessante historische Begebenheit: Rein topographisch betrachtet, müsste Indemini eigentlich zu Italien gehören. Es liegt jenseits eines Passes in einem ansonsten italienischen Tal. Und tatsächlich wollte die Obrigkeit Indemini einmal „loswerden“, abtauschen mit der italienischen Gemeinde Campione, die ihrerseits ganz in der Schweiz liegt.

Diese Umtauschaktion scheint auf den ersten Blick ganz vernünftig zu sein. Aber wir haben es mit der Vernunft von Technokraten zu tun. Es ist die Vernunft, die mit Bleistift und Papier handelt, aber nichts versteht von der Geschichte und den Menschen. Die paar Hundert Einwohner von Indemini wehrten sich und konnten den Abtausch erfolgreich verhindern. Sie wehrten sich für den Verbleib im Tessin und feiern heute mit uns allen den Nationalfeiertag am ersten August. Was entnehmen wir dieser kleinen Episode? Erstens, es ist wichtig, dass die Menschen selber über ihr Schicksal bestimmen können. Zweitens, wenn sich die Tessiner entscheiden können, dann entscheiden sie sich immer für die Unabhängigkeit und damit für die neutrale, föderalistische, direktdemokratische Schweiz. Ich sehe das jedes Mal mit Stolz und Genugtuung.

2. Mit der SVP gestimmt

Bei aussenpolitischen Urnengängen stimmt der Kanton Tessin regelmässig gegen den Rest der lateinischen Schweiz, aber mit der SVP: EWR, Bilaterale Verträge, militärische Auslandseinsätze, UNO, EU-Beitritt, Schengen, Personenfreizügigkeit – jeweils mit traumhaften Nein-Quoten erledigt. Ich wünschte mir, die restliche Schweiz würde sich ein Beispiel nehmen an der Widerstandskraft und dem Unabhängigkeitswillen der Tessiner.

Trotzdem sollte man sich fragen: Warum legt das Tessin einen solchen Wert auf seine Unabhängigkeit? Auch hier vergessen unsere EU-geblendeten Technokraten die Geschichte. Dieser Kanton war lange genug ein Spielball fremder Mächte – und damit meine ich auch die alten Eidgenossen. Ausserdem befindet sich das Tessin, wenn man so will, in einer dreifachen Minderheit: Als italienischsprachiger Schweizer Kanton gegenüber einem übermächtigen Nachbarstaat Italien. Als lateinischsprachige Minderheit innerhalb eines mehrheitlich deutschsprachigen Landes. Und als italienischsprachige Minderheit innerhalb einer mehrheitlich französisch sprechenden Sprachfamilie.

3. Die Bedeutung des Föderalismus

Für eine solche dreifache Minderheit ist die Bedeutung des Föderalismus nicht bloss ein politisches Geplauder am Kaminfeuer. Für das Tessin ist der Föderalismus eine Existenzfrage. Es ist die weitgehende Selbstbestimmung der Kantone, die einen solchen Sonderfall wie das Tessin überhaupt möglich macht. Der föderalistische Aufbau der Schweiz, also von unten nach oben, von den Gemeinden über die Bezirke, Kantone zum Bund, schafft erst die Voraussetzung für ein gedeihliches Zusammenleben in der Schweiz. Der Föderalismus ist in seiner Anspruchslosigkeit eine geniale Einrichtung: Niemand muss sich für das Gleiche begeistern wie der andere. Wir müssen uns auch nicht gegenseitig lieben, sondern nur gegenseitig in Ruhe lassen.

Der Föderalismus gehört zu den wichtigsten Rahmenbedingungen in der Schweiz und wird völlig zu Unrecht als „Kantönligeist“ verschrien. Gerade das Tessin beweist die Vorzüge dieses Systems. So wie es in einer Demokratie Alternativen geben muss, damit der Bürger nicht nur wählen, sondern auch auswählen kann, bietet der Föderalismus dem Bürger Vergleichsmöglichkeiten zwischen den Systemen. Auch über die Landesgrenzen hinaus. Der Mendrisiotto ist in den Mailänder Wirtschaftsraum integriert, aber eben politisch der Schweiz zugehörig. Das macht die erfolgreiche Mischung aus.

Auch das schweizerische Steuersystem ist föderalistisch gestaltet und baut auf den Wettbewerb unter den Gemeinden und Kantonen. Dies führt dazu, dass die Steuerbelastung über alles gesehen bescheidener ist als in anderen Ländern. Nur die Steuerautonomie und damit die direkte Vergleichbarkeit der Steuersätze schafft den nötigen Druck auf die Politik, die Belastungen für die Bürgerinnen und Bürger zu verbessern. Gerade der Kanton Tessin hat gezeigt, dass eine zielgerichtete Entlastungspolitik und eine offensive Strategie bei der Besteuerung von Unternehmen zum Erfolg führt. So gehört das Tessin heute zu den attraktivsten Standorten, was sich vor allem auch über die Grenze nach Norditalien herumgesprochen hat.

4. Verteidigung der Steuerautonomie

Wie gesagt: Die norditalienischen Produktionsbetriebe haben das Tessin als vorteilhaften Standort entdeckt. Eine viel tiefere Unternehmensbesteuerung (in Italien liegt diese bei über 40 Prozent, im Tessin unter 20 Prozent), niedrige Lohnnebenkosten, kaum Streiks, ein gutes Bildungsniveau, Mehrsprachigkeit, politische Stabilität, flexibler Arbeitsmarkt, Rechtssicherheit. Wir tun gut daran, diese Vorteile zu erhalten und auszubauen.

Nun hat auch die EU entdeckt, dass uns ihrerseits internationale Unternehmen als vorteilhaften Standort entdeckt haben. Vor wenigen Monaten sprach sich eine Mehrheit der Stimmbürger für die Bezahlung von einer Milliarde Franken (Ost-Milliarde) an die Europäische Union aus. Es war ein Entgegenkommen gegenüber der EU. Doch Geschenke haben kurze Beine. Den Dank erhält die Schweiz jetzt postwendend: Die Schweiz müsse ihr Steuersystem ändern, die Steuerhoheit der Kantone sei illegal, die Schweiz habe ihre Steuersätze namentlich für Unternehmen und Holdinggesellschaften anzuheben. So geht das nicht. Wir lassen uns nicht die Politik von Brüssel diktieren. Das ist einer – und nicht der unwesentlichste – der Gründe, warum wir nicht Mitglied der EU sind.

Rechtssicherheit und ein stabiles Steuerklima ziehen Unternehmen und Privatpersonen aus der ganzen Welt an. Auch ins Tessin. Die relativ guten Steuersätze haben wir vor allem zwei Umständen zu verdanken: Der Mitsprache durch die Bürger und dem Föderalismus. Beides ist in der EU nicht oder nur mangelhaft ausgebildet.

Auch die demokratischen Mitwirkungsrechte sind so ausgebaut, dass in der Schweiz der Stimmbürger auf allen Ebenen über die Steuerbelastung mitentscheiden kann. Dies erfordert von den staatlichen Instanzen eine saubere und transparente Buchhaltung. Und vor allem können die Bürger Nein sagen, wo es nötig ist: Nein zu neuen Steuern. Nein zur verheerenden Umverteilung. Nein zur Bestrafung des Tüchtigen durch immer neue und höhere Abgaben. Dass wir in der Schweiz eine Mehrwertsteuer von 7,6 Prozent haben und in jedem EU-Land einen Mindestsatz von 15 Prozent, liegt an den Mitsprachemöglichkeiten des Volkes und ist kein Verdienst der Politiker.

Ein EU-Beitritt bedeutete das Ende der genannten schweizerischen Vorzüge: Verlust der Steuerhoheit, Verlust der Volksrechte, Verlust der Mitbestimmung, Verlust der Überschaubarkeit, Verlust der Neutralität, Verlust des Föderalismus – aber dafür hohe Tributzahlungen an die Bürokraten und Technokraten.

5. Anstieg der Kriminalität

Die Schweiz hat ihre Grenzen geöffnet, teilweise öffnen müssen. Nicht nur Waren und Dienstleistungen profitieren davon – was uns allen nützt – auch die Kriminellen „schätzen“ die neue Mobilität. Darunter haben wir alle zu leiden, besonders aber Grenzkantone wie das Tessin.

Denn machen wir uns nichts vor: Die Kriminalität ist weitgehend importiert. Wir haben eine hohe Gewaltrate von Kriminaltouristen, von niedergelassenen Ausländern und neuerdings auch von eingebürgerten Jugendlichen. Die Medien und gewisse politische Kreise haben jahrelang das Thema Ausländerkriminalität unterdrückt. Wer immer auf das Problem hinwies, wurde umgehend als „fremdenfeindlich“ abgetan. Doch mit Verdrängen lösen wir keine der gestellten Aufgaben.

In meinem Departement haben wir uns besonders der Frage nach der stark gestiegenen Jugendkriminalität angenommen. Die Projektgruppe kam zu folgenden Schlüssen:

1. Das Ausmass der Jugendgewalt hat erschreckend zugenommen.
2. Viele der jugendlichen Täter sind schlecht integrierte Ausländer, namentlich aus dem Balkan.
3. Es herrscht allgemeine Hilflosigkeit gegenüber dieser Entwicklung. Alle fühlen sich zuständig – also ist niemand wirklich zuständig. Alle halten die anderen für schuldig – also trägt keiner Verantwortung.
4. Nach wie vor versuchen gewisse Medien und politische Kreise das Thema Gewalt von jungen Ausländern zu leugnen, zu vertuschen oder zu verharmlosen.

Was haben wir zu tun?

* Mehr Polizeipräsenz. Notfalls auch an den Schulen.
* Schnellere und effizientere Verfahren. Jugendliche Kriminelle müssen umgehend die Konsequenzen ihres Handelns spüren.
* Die Eltern von jugendlichen Delinquenten müssen in die Pflicht genommen werden. Bei Ausländern oder Eingebürgerten sollte dies bis zum Entzug der Staatsbürgerschaft und zur Ausschaffung gehen.
* Die Integration von jugendlichen Ausländern muss verbessert werden. Denn oft ist die erhöhte Gewaltbereitschaft nur Ausdruck der Integrationsprobleme und den damit verbundenen Minderwertigkeitsgefühlen.

Um diese Ziele zu erreichen, braucht es auch eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen den Behörden. Das gilt zunächst einmal für die Migrations-, Einbürgerungs- und Polizeibehörden. Gefordert ist aber auch ein gesellschaftlicher Wandel: Wir müssen wieder Tugenden wie Fleiss, Ordnung, Disziplin in den Mittelpunkt der Erziehung stellen.

6. Hohe Zuwanderung

In der Schweiz wandern jedes Jahr rund 100’000 Menschen ein. Das ist viel und zunächst einmal ein positives Zeichen. Denn die Menschen wandern in die Schweiz ein, weil sie sich hier ein besseres Leben erhoffen. Solange sich diese Zuwanderer integrieren und durch ihre Tüchtigkeit zum allgemeinen Wohlstand beitragen, ist dagegen nichts einzuwenden. Wir haben aber die Tendenz, dass viele Ausländer ohne grosse Umwege in unser Sozialsystem einwandern. Das zeigt der überdurchschnittliche Anteil von Ausländern, die von der Fürsorge oder von Arbeitslosengeldern leben oder eine IV-Rente beziehen. Diese Entwicklung müssen wir stoppen, denn sie gefährdet die Finanzierung unserer Sozialwerke.

Die massive Zuwanderung hat aber auch Konsequenzen auf dem Arbeitsmarkt. Darum sieht das neue Ausländerrecht, das 2008 in Kraft tritt, vor, dass Arbeitsbewilligungen aus Nicht-EU-Staaten nur sehr restriktiv an dringend benötigte Spezialisten erteilt werden.

Die Menschen stimmen mit den Füssen ab. Im letzten Jahr sind so viele Deutsche in unser Land gekommen wie noch nie (rund 24’000). Gleichzeitig ist die Zahl der Grenzgänger massiv gestiegen. Was für die Deutschschweizer die Deutschen sind, sind für das Tessin die Italiener. Was uns diese Entwicklung auch sagt: Offensichtlich zieht es viele Menschen aus der EU in die Schweiz, die ja nicht Mitglied der Union ist. Erinnern Sie sich noch, welche Horrorszenarien man an die Wald malte, falls die Schweiz weiter den Alleingang beschreiten würde? Die EU-Befürworter haben der Schweiz den ökonomischen Untergang prophezeit. Diese Vorhersagen haben sich alle als gigantische Fehlprognosen erwiesen. Der Schweiz geht es heute so gut, gerade weil sie eigenständig geblieben ist und eine Politik betreiben kann, die auf einen Kleinstaat ausgerichtet ist.

7. Auf Schweizer Qualität setzen

Trotzdem haben selbstverständlich auch wir mit Schwierigkeiten fertig zu werden. Ich habe die Bereiche Kriminalität, Zuwanderung und Arbeitsmarktsituation angesprochen. Gleichwohl müssen wir auf unsere Stärken setzen: Auf einen schlanken Staat, die Eigenverantwortung der Bürger, niedrige Steuern, auf die Mitbestimmung der Bürger, Verlässlichkeit und Sicherheit.

Sehen Sie, man darf die Sicherheit, und dazu zähle ich auch die Rechtssicherheit, nicht unterschätzen. Man mäkelt oft am schweizerischen System herum und die direkte Demokratie wird als lähmend beschrieben. Ich stimme diesem Befund nicht zu. Die direkte Demokratie hat zu einer einmaligen Rechtsstabilität geführt. Denn Fehlentscheide der Politik können durch den Souverän umgehend korrigiert werden und keiner muss befürchten, dass mit einer Wahl der ganze Staat umgekrempelt wird.

Italien hat seit 1945 rund 60 Regierungen kommen und gehen sehen. Die Medien waren sicher dankbar für die Abwechslung. Aber letztlich ist doch Kontinuität vorzuziehen. Gerade auch für Unternehmer, die investieren wollen oder für den Mittelstand, der mit seinem Eigentum etwas anfangen will. Ein kleines Beispiel: Die neue italienische Regierung hat die Erbschaftssteuer wieder eingeführt. In der Schweiz hätte diese Steuer durch den Souverän abgesegnet werden müssen – unabhängig vom Ausgang der Parlamentswahlen. Aber ich will nicht davon reden. Die eine Regierung führt die Erbschaftssteuer ein, die nächste schafft sie wieder ab und so weiter. Hier fehlt die Berechenbarkeit. Ist es verwunderlich, wenn dann gerade vermögende Bürger das Land verlassen? Ist es unsere Schuld, wenn sie in der Schweiz „Zuflucht“ suchen? Nein. Wir müssen uns nicht für unsere Politik entschuldigen, zumal sie durch die direkte Demokratie, also durch den unmittelbaren Volkswillen, legitimiert ist.

8. Unabhängigkeit und direkte Demokratie

Ich habe in der Einleitung von den widerspenstigen Tessinern gesprochen, die sich ihre Unabhängigkeit bewahrt haben und damit auch die Unabhängigkeit der ganzen Schweiz. Wenn wir daran denken, was unser Land und unsere Wirtschaft erfolgreich macht, dann sollten wir immer wieder an das Fundament dieses Erfolgs denken: Unser unabhängiger, föderalistischer, neutraler Kleinstaat, der auf dieser Basis Gesetze und Rahmenbedingungen schaffen kann, die diesem Kleinstaat am besten dienen.

Ein entscheidender Verdienst kommt dabei der direkten Demokratie zu. Machen wir uns nichts vor: Ohne direkte Demokratie würde die Schweiz heute der EU angehören und hätte damit ihre entscheidenden Vorteile (Handlungsfreiheit, unabhängige Währungspolitik, niedriges Zinsniveau, tiefere Steuern, Neutralität usf.) eingebüsst. Auch unsere Steuergesetze und – vor allem – unsere Steuersätze sähen ohne direkte Demokratie ganz anders aus!

Wer über wenig natürliche Ressourcen verfügt, ist auf den Handel angewiesen. Die Schweiz war von jeher vernetzt mit anderen Ländern und Regionen. Wir haben seit jeher Handel getrieben, importiert, exportiert; aber – und das ist entscheidend – wir haben uns dafür nie institutionell einbinden lassen. Darum lautet die schweizerische Devise, die unseren Erfolg begründet: Handelsfreiheit setzt politische Handlungsfreiheit voraus. Wir sind ein weltoffenes Land – wobei die Welt über die Europäische Union hinausgeht. Weltoffenheit heisst aber nicht Vereinbarungen einzugehen, die unsere Souveränität einschränken!

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