Gedenkfeier 50 Jahre Ungarn-Aufstand: Sorge tragen zur Freiheit

Festrede von Bundesrat Christoph Blocher im alten Börsensaal in Zürich
Zürich. An der Gedenkfeier erinnerte Bundesrat Christoph Blocher an die Opfer des Ungarn-Aufstands und daran, mit wieviel Sympathie und Solidarität die 14’000 ungarischen Flüchtlinge in der Schweiz empfangen worden seien. Er lobte die gute Integration der Flüchtlinge und mahnte die Schweizer, zur gemeinsam errungenen Freiheit Sorge zu tragen.

22.10.2006, Zürich

Sehr geehrte Damen und Herren

Sorge tragen zur Freiheit

Der Ruf nach Freiheit
Als im Oktober 1956 Zehntausende Menschen in Budapest auf die Strasse gingen, äusserte sich ihr Protest in einem eindrücklichen Akt: Die Demonstranten holten das Stalin-Denkmal von seinem Sockel. Mit dem symbolischen Sturz des Diktators wollten die Ungarn auch ganz konkret das Ende der sozialistischen Knechtschaft herbeiführen. Der Ruf nach Freiheit und demokratischen Reformen erfüllte das Land.

Es gibt geschichtliche Momente, die sich im Gedächtnis regelrecht einbrennen. Als sich die Ungarn 1956 erhoben, blickte die westliche Welt mit Sorge und grosser Anteilnahme über den Eisernen Vorhang. Für jeden Schweizer wurde augenfällig demonstriert, was es heisst, in einem freiheitlichen Land leben zu dürfen – oder eben nicht. Der Aufstand der Ungarn war auch für die so ganz anders geartete Schweiz ein tief empfundener Kampf für die Freiheit und Demokratie. In diesem Sinn liess sich damals auch der Schweizerische Bundesrat verlauten:
„Mit Bestürzung hat der Bundesrat die Ereignisse, die sich in Ungarn abspielen, zur Kenntnis genommen. Der Bundesrat weiss sich einig mit dem Schweizervolk, wenn er seinem Schmerz Ausdruck gibt darüber, dass die Unabhängigkeit, Freiheit und das Selbstbestimmungsrecht des mit der Schweiz befreundeten ungarischen Volkes unterdrückt werden.“

Drei Schweigeminuten

Einen Monat später, am 20. November 1956, stand die ganze Schweiz im eigentlichen Wortsinne still. Das galt auch für den sechzehnjährigen Christoph Blocher, der gerade mit dem Fahrrad durch das Zürcher Weinland in die landwirtschaftliche Fortbildungsschule unterwegs war. Die Bevölkerung gedachte mit drei Schweigeminuten der Opfer der brutalen Niederschlagung des Ungarnaufstandes. Ich höre heute noch, wie die Kirchglocken durch die stille Winterlandschaft klangen. Die Schweiz, alle Autos, alles was unterwegs war, stand still. Uns Jungen rollten die Tränen über die Wangen!

Es kam vieles zusammen in diesem Herbst 1956. Unruhen in Polen, die Suez-Krise im Nahen Osten, Chruschtschows Raketendrohungen gegen Frankreich und Grossbritannien und dann die sowjetischen Truppen in Budapest. Im Schatten dieser Ereignisse ergriffen über 200’000 Ungarn die Flucht und fanden eine erste Aufnahme in Österreich. Von dort aus verteilten sich die Menschen im restlichen Europa. Rund 12’000 kamen in die Schweiz und fast alle Zeitzeugen bestätigen: Ihnen brandete eine uneingeschränkte Welle der Solidarität und Sympathie entgegen.
Unbürokratische Hilfe

Der Bundesrat stellte damals für die Aufnahme der ungarischen Flüchtlinge keine Bedingungen, wie dies die Schweiz im Zeichen kollektiver Not stets getan hat. Die Aufnahme erfolgte rasch, unbürokratisch und ohne Prüfung individueller Fluchtgründe. Die Menschen wurden allesamt als politische Flüchtlinge oder als vorläufig Aufgenommene mit sofortiger Arbeitsbewilligung anerkannt. Die Behörden durften dabei auf die Unterstützung der Bevölkerung zählen.

Von Sympathie getragen

In unserem Gedenken sollten wir einen Umstand nicht vergessen: Bei der Aufnahme der Ungarn handelte es sich nicht einfach um einen von den Behörden verordneten Bürokratieakt. Nein, die Schweizer Bevölkerung fühlte sich mit dem bedrängten Kleinstaat auf ganz besondere Weise verbunden: Wohltätigkeitskonzerte, Kerzenaktionen, Spendenaufrufe erfolgten. Die Zürcher Tageszeitungen erstellten während sechs Monaten ein Gratis-Mitteilungsblatt auf Ungarisch, den „Hirado“ (Anzeiger). Die Flüchtlinge wurden in den Bahnhöfen von Schweizer Bürgern empfangen, die keineswegs dorthin bestellt waren.

Die Ungarn-Sympathie ging sogar soweit, dass sich die Schweiz aus Protest gegen die sowjetische Vorgehensweise zum Boykott der Olympischen Spiele, die vom 22. November bis zum 8. Dezember 1956 stattfinden sollten, entschied.

Man muss sich heute, 50 Jahre nach dem Aufstand und 17 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer und der Öffnung des Eisernen Vorhanges, wieder in Erinnerung rufen, was es heisst, in einer freien Demokratie zu leben. Den Schweizer Bürgerinnen und Bürgern im Jahr 1956 musste diese Wertschätzung nicht speziell beigebracht werden. So schrieb mir angesichts des 40. Jahrestages im Jahre 1996 ein ungarischer Freund: „In einem kleinen Land kämpften wir – damals junge Menschen – gegen Tyrannen. Und wir kämpften für all das, was den Schweizern höchstes Gut war: Unabhängigkeit, Neutralität und Freiheit!“

Vorbildliche Integration

Die Eingliederung der Ungarn geschah deshalb so vorzüglich, weil die Verfolgten sich ohne Einschränkung auf ihr neues Heimatland einliessen und der Wunsch gross war, sich in dieser neuen, freiheitlichen Gesellschaftsordnung zu bewähren.

Wir können der jetzt erschienen Gedenkschrift „Flucht in die Schweiz“ entnehmen, dass sich laut einer Umfrage 98,6 Prozent der Befragten als gut bis sehr gut in der Schweiz integriert sieht. Das ist eine Erfolgsgeschichte – nicht nur für unser Land – sondern vor allem für jeden einzelnen der ehemaligen Flüchtlinge.

Auch schwierige Momente

Wir wollen aber trotz der geglückten Integration nicht vergessen: Jeder Flüchtling brachte sein persönliches Schicksal mit: Den Verlust der Heimat. Die Trennung von der Familie und Freunden. Ein abrupter Schnitt von der ungarischen Kultur und Sprache. Auch die Eingliederung selbst forderte die Betroffenen.

Jeder Integrationsprozess ist für die Beteiligten mit Schwierigkeiten, Erwartungen und Enttäuschungen verbunden. So war es auch bei den Ungarn, die durch ihre Flucht aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen wurden. Dabei sind (wie im Bericht des Eidgenössichen Justiz- und Polizeidepartements vom 7. März 1957 über die Aufnahme der ungarischen Flüchtlinge ausgeführt wird) „zwei Welten“ aufeinander gestossen:

Die Flüchtlinge mussten sich nach den Erfahrungen in einer Diktatur an die Verhältnisse in der Schweiz anpassen, eine Arbeitsstelle suchen, eine Wohnung finden, die Landessprachen erlernen, sich an das für sie neue politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Umfeld in der Schweiz gewöhnen. Kurz: Jede Freiheit ist eine Chance, aber auch die Pflicht, ein Leben in Eigenverantwortung zu führen.

Frei und neutral

Wie bei Volksaufständen üblich, hatten die Aufständischen in Ungarn keine Zeit für ein detailliertes politisches Programm. Ein solches wäre wahrscheinlich auch nicht zustande gekommen. Nur eines verband die Widerstandskämpfer: Die Einigkeit in der Ablehnung des Terrors, der Bevormundung, der täglichen Propagandalügen, der servilen Anbetung der sowjetischen Macht. Beweggrund des Aufstandes war die schwer gekränkte nationale Würde. Im Willen zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit, der Freiheit und Neutralität waren sich Linke wie Rechte einig!

Die geflüchteten Ungarn erhielten damals die Möglichkeit, ein Land auszuwählen, in dem sie sich niederlassen wollten. Abgesehen von persönlichen Motiven nannten jene Befragten, die sich für die Schweiz entschieden, folgende Gründe:

* Die schweizerische Demokratie
* Die schweizerische Neutralität
* Die Bildungs- und Berufsmöglichkeiten

Man könnte die Auswahl der Schweiz also auch als eine Art Auszeichnung verstehen. Darum verbindet sich der Gedenktag zum Ungarnaufstand von 1956 mit einem Auftrag für die Gegenwart: Tragen wir Sorge zu unserer Demokratie, zu unserer Neutralität und zu unserer liberalen Wirtschaftsordnung. Oder in einem Satz: Tragen wir Sorge zu unserer gemeinsam errungenen Freiheit.

Die Ungarn in der Schweiz haben erlebt, was passiert, wenn man diese hohen Güter preisgibt. Die Ungarn haben damals zwar äusserlich eine Niederlage einstecken müssen. Doch die verlorene Schlacht bereitete den späteren Sieg vor. Sie mussten allerdings noch 30 Jahre bis zur Befreiung warten!
Der heutige Gedenktag sei auch uns allen ein Mahnmal!

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