Als Unternehmer im Bundesrat – Eine erste Bilanz

Referat vor der Handelskammer Thurgau

01.04.2005, Thurgau

Es gilt das gesprochene Wort


I. Kein Zeitpunkt für Scherze

In der Schweiz belaufen sich die öffentlichen Schulden auf gut 250 Milliarden Franken. Und dies nicht etwa, weil die Einnahmen in den letzten 20 Jahre abgenommen hätten – nein! Die Steuern und Abgaben sind seit 1990 mehr gestiegen als in jedem anderen Industrieland der Welt. Aber die Ausgaben sind im gleichen Zeitraum noch stärker angewachsen – im Bund, den Kantonen und den Gemeinden. Auch wenn heute der 1. April ist: Angesichts solcher Zahlen kann einem Unternehmer das Scherzen in der Politik gründlich vergehen.

250 Milliarden Franken Schulden bilden das Fünffache der jährlichen Gesamtausgaben des Bundes. Kennen Sie ein Unternehmen, das sich in einer ähnlichen Situation befindet und nicht umgehend Sanierungsmassnahmen, Kostensenkungen und Effizienzsteigerungen einleiten würde? Sie werden mir keines nennen können, ausser solchen, die schon bankrott sind oder in absehbarer Frist bankrott sein werden. So lauten die Gesetze der Wirtschaft. Nur die Politik scheint sich um diese Regeln foutieren zu können. Sie werden sagen: Unternehmen gehen daran zu Grunde. Ich antworte Ihnen: Staaten auch!

Kürzlich kam mir das Postulat einer Politikerin in die Hände – zufällig das einer Politikerin aus dem Kanton Thurgau -, worin es um die Verschuldung von Jugendlichen ging. Es ist in der Tat besorgniserregend, dass bereits Minderjährige über ihre Verhältnisse leben und sich einen Lebensstil aneignen, den sie nicht selber finanzieren können. Aber noch bedenklicher ist, wenn erwachsene Politiker einen Staat installieren, der noch fahrlässiger über seine Verhältnisse lebt als ein unmündiger Teenager. Mir wäre es lieber, alle Politiker hätten die Problematik der Ausgabenfreudigkeit und Verschuldung von Bund, Kantonen und Gemeinden erkannt und gehandelt. Wie sollen Jugendliche ausgerechnet durch Politiker angeleitet werden, wirtschaftlich mit Geld umzugehen, wenn die gleichen Politiker jährlich Milliardendefizite abliefern und diese hingenommen werden wie eine fünfte Jahreszeit? Die Thurgauer Nationalrätin kritisiert den sorglosen Umgang mit Geld: „Den Jugendlichen wird es heute leicht gemacht, Schulden zu häufen.“ Doch ist immerhin der Jugendliche für seine Ausgaben selbst verantwortlich. Ich war es als Unternehmer auch. Als Politiker komme ich aber selbst nicht zur Kasse. Nein, es haftet niemand, und obendrein kann sich der Politiker mit dem Schuldengeld neue, dankbare Wählerschichten erschliessen und sich erst noch als „sozial“ und „solidarisch“ feiern lassen.

Aus diesem Widersinn müssen wir uns befreien. Es wird kein einfacher, kein populärer, aber ein unumgänglicher Weg sein.

II. Kostenbewusstsein stärken

Meine Damen und Herren, ich bin seit fünfzehn Monaten im Amt als Bundesrat. Leider kann man dem Bundesrat nicht den Vorwurf machen, er habe in diesen fünfzehn Monaten nichts anderes getan, als Ausgaben gesenkt und damit die Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Wirtschaft erhöht.

Wohl wird viel über Ausgabenreduktionen gesprochen, aber im Wesentlichen wurden bisherige Pläne nur auf dem Papier nach unten korrigiert. Der Bundesrat hat zwar die Sanierung des Haushaltes im Legislaturprogramm zur Hauptaufgabe erklärt. Doch eine eigentliche Reduktion von Ausgaben ist noch nicht greifbar. Hingegen wurden neue Steuern und Abgaben beschlossen und eingenommen.

Wie sehe ich als ehemaliger Unternehmer den Staat als Aufgaben-Erfüller? Das Frappierendste ist das mangelnde Kostenbewusstsein auf allen Ebenen: beim Parlament, der Regierung, der Verwaltung! Als Unternehmer wusste ich: Kosten und Nutzen sind die wichtigen Entscheidungsfaktoren. Nicht so im Bund. Standardantworten – auf bisher kaum gestellte Fragen – finden Sie bis in die obersten Etagen hinauf, die zum Beispiel lauten: „Im Bund muss man weder mit Abschreibungen noch Zinsen rechnen. Und auch die Personalkosten muss man nicht rechnen, denn die Leute sind ja sowieso da!“ Gezielte Kostensenkungen können so gar nicht durchgeführt werden.

Für jeden Handwerker ist es eine Selbstverständlichkeit, dass er in seinem Betrieb Leistung und Effizienz steigert, die Qualität erhöht und gleichzeitig die Kosten tief hält. Sollen nur beim Staat andere Regeln gelten? Warum soll ein Staat denn nicht fähig sein, effizienter zu arbeiten? Warum soll ein Bundesbetrieb sein Angebot nicht verbessern können, ohne gleich an der Preisschraube drehen zu müssen? Kostensenkungen wären möglich. Aber der Wille fehlt!

Darum will man die Kosten nicht nur nicht senken, man will sie nicht einmal zur Kenntnis nehmen. Man will nicht wissen, was eine Dienstleistung kostet. So können wir auch keine Kostensenkungen erkennen und umsetzen. Als ehemaliger Unternehmer weiss ich, dass es in den goldenen Nachkriegsjahren Firmen mit einer ähnlich lausigen Kostenauffassung gab. Diese Firmen sind entweder bankrott gegangen oder – wenn sie Glück hatten – durch einen Dritten übernommen worden, der dann das notwendige Kostenbewusstsein hatte.

Im Grunde weiss jeder: Wir müssen die Bundesausgaben in Ordnung bringen. Aber wie gesagt, wir wollen nicht. Da liegt das Problem! Ich weiss: der Weg dazu ist schwierig, unangenehm und braucht vor allem Selbstdisziplin. Darum tut man es nicht. Wie schreibt doch die erwähnte Thurgauer Nationalrätin: „Den Jugendlichen wird es heute leicht gemacht, Schulden zu häufen.“ Noch leichter als den Jugendlichen wird es dem Staat gemacht!

III. Die „Noch-Schweiz“

Die Sprache verrät, dass wir im Grunde alle wissen, wie unheilvoll die Entwicklung läuft! Wer auf die – unbewusste – Ausdrucksweise achtet, merkt es: So sagen wir: Noch gehe es uns allen gut. Noch – so sagt man – gehören wir zu den reichsten Ländern der Erde. Noch seien die Steuersätze vergleichsweise tief. Noch werden staatliche Leistungen ausgebaut und mit scheinbar unbegrenzten Mitteln finanziert. Wir leben in der „Noch-Schweiz“.

Doch diese Noch-Schweiz ist ein trügerisches Gebilde. Dieser Wohlfahrtsstaat Schweiz ist eine Wunschgeburt, ein Versprechen von politischen Gauklern, die sich mit zukünftigen Schulden die Gunst der Gegenwart erkaufen. Eine solche Politik „sozial“ und „solidarisch“ zu nennen, ist der wahre Zynismus.

Der Zustand der Schweiz ist mit einem faktisch bankrotten Unternehmen zu vergleichen, das bloss seine Insolvenz noch nicht offen legen musste. Warum nicht? Man glaubt, durch dauernde Erhöhung der Steuern, Abgaben und Gebühren die Insolvenz abwenden zu können.

Dass man dadurch die Grundlage der Wohlfahrt – vor allem die wirtschaftliche Tätigkeit – schwächt, verschweigt man vornehm. Noch wird der Lohn ausbezahlt; noch lächeln die Verantwortlichen und versichern, alles sei in bester Ordnung; noch werden rauschende Betriebsfeste gefeiert und gegenseitige Lobreden gehalten; noch ist der Schein gewahrt, die Strassen gefegt, der Zug fährt pünktlich und die öffentlichen Gärten blühen. Vordergründig leben wir in einem funktionierenden Staatswesen. Hintergründig ist das System morsch. Vordergründig wird den Menschen eingeredet, die Sozialstandards könnten erhalten, ja erweitert werden. Dabei tun sich unbezahlbare Milliardenlöcher auf: Bei den Pensionskassen, bei der AHV, im Gesundheitswesen, bei der Invalidenversicherung, im öffentlichen Verkehr.

Ich spreche nicht von ein paar fehlenden Milliarden, sondern von Dutzenden, ja Hunderten von Milliarden.

Wir leben in der Noch-Schweiz.

Noch gilt die Schweiz als liberaler Staat mit niedrigen Steuern. In Wahrheit aber hat kaum ein Industrieland eine stärker wachsende Steuer- und Staatsquote seit 1990 zu verzeichnen gehabt.

Noch haben wir eine vergleichsweise tiefe Arbeitslosigkeit – allerdings hat sich in letzter Zeit im Vergleich zu früher eine viel höhere Sockelarbeitslosigkeit von vier Prozent etabliert, die man heute einfach als gottgegeben hinnimmt.

Noch weisen wir eine der höchsten Beschäftigungsgrade aus (um die 70 Prozent), aber dieser Anteil sinkt kontinuierlich. Immer mehr Menschen, gerade auch junge, gehen den Weg in die Sozialleistung und Fürsorge oder werden von der IV berentet und sehen mit all den Zuschüssen wenig Veranlassung, an diesem Zustand etwas zu ändern.

Noch erfreuen wir uns an einem funktionierenden Sozialstaat. Doch dieser Sozialstaat entpuppt sich zunehmend als asoziales Konstrukt, weil er den Tüchtigen schröpft und auf Pump lebt.
Dieses sozialistische Prinzip züchtet eine Mentalität, die vornehmlich Ansprüche an die Gesellschaft stellt statt Ansprüche an sich selbst.

Noch gelten wir als Staat mit hoher Integrationsfähigkeit und Integrationsbereitschaft. Nur wird diese Bereitschaft ausgereizt, und der wachsende Unmut der Bevölkerung gegenüber einer grenzenlosen Einwanderung hat durchaus seine Gründe. Seit 1990 sind brutto weit mehr als eine Million Menschen in die Schweiz eingewandert (d.h. 1,2 Mio. Eingewanderte – gegenüber 800’000 Ausgewanderten im selben Zeitraum). Prozentual mehr als in klassischen Einwanderungsländern wie etwa Kanada oder Australien. Der Beschäftigungsgrad der Neueinwanderer ist gegenüber ihren Vorgängergenerationen dramatisch gesunken (allein die Zahl der Erwerbstätigen unter den Einwanderern hat sich seit 1990 von 53% auf 38% verringert.). Wir beobachten vermehrt eine Zuwanderung ins Sozialsystem statt in den Arbeitsmarkt – was eben auch eine Folge dieses ausgebauten Wohlfahrtsstaates ist: Eine freizügige Zuwanderung kann nur in einer freiheitlichen Marktwirtschaft funktionieren. Wenn aber Immigranten überproportional in der Arbeitslosigkeit, in der Invalidität, in sonderpädagogischen Angeboten, in der Fürsorge landen, strapaziert dieser Vorgang das Zusammenleben und die Bereitschaft, sich gegen aussen zu öffnen.

Wir leben in der Noch-Schweiz.

Noch wird die Schweiz von einem leistungswilligen, eigenverantwortlichen Bürgertum geprägt, das nicht bei jeder Schwierigkeit oder Anstrengung nach dem Staat ruft. Doch der schleichende Sozialismus hat unser Land etwas verspätet, aber um so gründlicher erfasst. Ein regelrechtes Umerziehungsprogramm hat dazu geführt, dass unternehmerische Qualitäten plötzlich als verdächtig erscheinen. Die vornehmste Pflicht eines Arbeitgebers, nämlich Gewinn zu machen, wird neuerdings moralisch in Frage gestellt. Für den Staat gilt es gar als völlig abwegig. Als Unternehmer habe ich stets alle meine Kraft darauf gerichtet, Gewinne zu erwirtschaften. Ich wusste: Nur so kann ich die Zukunft des Unternehmens gewährleisten. Soll denn das für unser Land nicht gelten? Ich wusste: Nur wer Erfolg hat, schafft neue Arbeitsplätze. Seit ich im Bundesrat bin, merke ich: Tüchtige Unternehmer, Handwerker, Gewerbler, deren Tun auf die Gewinnerziehlung ausgerichtet sind, sind die wahren „Sozialarbeiter“ in unserem Land:

Weil sie für gesundes, privatwirtschaftliches Wachstum und damit für allgemeinen Wohlstand sorgen.

Die Noch-Schweiz wird von einem Chor von konsensgläubigen Wirklichkeitsverdrängern besungen, während die Mahner noch abseits stehen und verteufelt werden. Wenn wir dieses Missverhältnis weiterhin akzeptieren, geraten wir endgültig in eine geistige und ökonomische Sackgasse. Das heisst: Senkung des Lebensstandards für die breite Bevölkerung. Das heisst Arbeitslosigkeit, Stillstand – eben Bankrott.

Das schweizerische Erfolgsmodell basiert auf einem massvollen Staat mit freier, prosperierender Wirtschaft. Es gibt keinen vernünftigen Grund, davon abzuweichen! Wir sind uns bloss in den letzten Jahren untreu geworden. Wir sollten uns wieder auf unser liberales Erbe besinnen: Auf Fleiss und Eigenverantwortung, Wettbewerb und offene Märkte, freie Preisbildung und stabile Geldpolitik, auf Privateigentum statt Umverteilung und mehr Freiheit und weniger Staat! Ich sagte Ihnen dies früher als Unternehmer und als Parlamentarier. Diese Überzeugung hat sich bei mir noch verstärkt, seit ich im Bundesrat bin.

IV. Vom Verantwortungs- zum Versorgungsstaat

Nennen wir die Probleme und scheuen wir uns nicht, ihnen auf den Grund zu gehen.

Galt die Schweiz früher als beispielhafter Staat mit hohem Selbstverantwortungsgrad, hat sie sich heute zum Versorgungsstaat gewandelt. Dieses Urteil mag Ihnen zu drastisch erscheinen. Doch je länger ich im Bundesrat bin, je mehr Unterlagen mir zur Verfügung stehen, umso ernster wird der Befund. Ich erlebe dies im Augenblick in meinem eigenen Departement – zum Beispiel in der Asylpolitik. Wie ist es soweit gekommen?

In den Nachkriegsjahren entwickelte sich unser Land von einem Verantwortungsstaat zu einem Wohlfahrtsstaat. Das starke Wirtschaftswachstum gaukelte unbeschränkte Möglichkeiten vor. Seit den 1970-er Jahren wurden vor allem in der Sozialpolitik Versicherungen auf- und ausgebaut mit immer neuen Leistungen, welche die späteren Kosten ins Unermessliche trieben. Denken Sie nur an die IV und an die Krankenversicherung. Die Folgen dieses rasanten Ausbaus zeigen sich erst heute in aller Konsequenz.

Wegen diesem unrealistischen, weit über der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit liegendem Ausbau ist heute der Wohlfahrtsstaat als Gesamtkonstrukt in Frage gestellt: Dies zeigt sich in der miserablen Finanzsituation von Bund und vieler Kantone. Die etatistische Grundstimmung – vor allem der 80-er und 90-er Jahre, die linke und bürgerliche Parteien erfasste – hat der Schweiz einen perfektionierten Dienstleistungsstaat beschert, der den Bürgern eine Totalversorgung zum Nulltarif vortäuscht. Dieser schleichende Verstaatlichungsprozess konnte nur über eine gewaltige Neuverschuldung finanziert werden: Betrug die Bruttoverschuldung des Bundes allein 1990 noch 38,5 Milliarden Franken, waren es 2003 bereits 123,7 Milliarden. Und wir steuern gegen 150 Milliarden – trotz einer Schuldenbremse, der alle Kantone und 85% der Bevölkerung bereits 2001 zugestimmt haben!

Es ist auffallend, wie die fortschreitende Steuer-, Gebühren- und Abgabenlast, die in den Wahljahren 1999 und 2003 wenigstens noch für heftige Auseinandersetzungen gesorgt hat, heute ruhig entgegen genommen wird. Es ist erstaunlich, mit welchem Gleichmut solche Entwicklungen ertragen werden.

– Die jährlichen Milliardendefizite, die unvermindert andauern? Sie werden akzeptiert, als wären sie ein Naturgesetz.
– Nachtragskredite, Kostenüberschreitungen und Planungsabweichungen sind längst zum courant normale geworden.
– Die Rekordzunahme von IV-Rentnern provoziert höchstens ein Schulterzucken.
– Die Milliarden-Kosten unserer Beziehungen zum Ausland werden unter den Begriffen von „Öffnung“, „Gerechtigkeit“ und „internationale Solidarität“ weitgehend der Diskussion entzogen.
– Das Ausgabenwachstum der nächsten Jahre wird in weiten Teilen geleugnet. Man verbreitet die Mär, der Staat spare Geld, die Ausgaben würden gesenkt, der Gürtel werde enger geschnallt. Andere sprechen von „kaputt sparen“ und „den Staat aushungern“. Doch ich frage Sie ernsthaft: Wo werden in diesem Staate eigentlich die Ausgaben gegenüber den Vorjahren gesenkt? Irgendjemand hat das Gerücht in die Welt gesetzt, im Bund würden die Ausgaben gesenkt. Und alle plappern es nach. Und alle schreiben es einander ab. Wenden wir uns der ungeschminkten Wahrheit zu: In den nächsten Jahren ist ein Ausgabenwachstum von 10 Prozent geplant. Trotz aller Entlastungsprogramme! Die Staatsausgaben wurden und werden nicht gesenkt.
– Aber man kann sich natürlich von allen Anstrengungen fernhalten, indem man vorsorglich über die Folgen einer Massnahme lamentiert, die es gar nicht gibt. Dass interessierte politische Kreise dies tun, gehört zum Tagesgeschäft und ist nicht weiter schlimm. Aber wenn diese Realitätsverweigerung auf den Bundesrat und auf die Mehrheit der bürgerlichen Parlamentariern übergreift – und das ist so – führt dies zu Fehlentscheiden und ins Elend.

Woher kommt diese Gleichgültigkeit, diese Realitätsverweigerung? Das Zurkenntnisnehmen von Problemen ist lästig und undankbar, denn es zwingt zum Handeln. Verdrängen ist bequemer. Die Gründe des Verdrängungsprozesses könnten aber auch tiefere Ursachen haben als nur die Bequemlichkeit. Könnte es etwa sein, dass immer mehr Menschen den Versuchungen des Wohlfahrtsstaates erliegen? Und dies bis weit in die gehobenen Berufschichten, bis weit in die Chefetagen von Politik und Wirtschaft hinein? Sind wir schon so weit, dass die Menschen lieber schauen, wie sie sich vom Staat beziehungsweise der Allgemeinheit aushalten lassen können, statt in Eigenverantwortung für sich und die Nächsten das Leben zu verbessern und selber für Güter und Dienstleistungen zu sorgen?

Es ist ausserordentlich gefährlich, wenn Erfolg und Leistung durch höhere Steuern und Abgaben bestraft, dafür Misserfolg und Bequemlichkeit durch Sozialleistungen belohnt werden.

V. Sozialstaat und Verschuldung

Meine Damen und Herren, Staatshaushalt und Wirtschaftswachstum stehen in engem Zusammenhang. Wer die bestehenden Probleme in der Tiefe angehen will, muss auch in die Tiefe schauen und die Sache beim Namen nennen. Tun wir dies an zwei, drei schon länger verdrängten Gebieten!

Es muss in diesem Zusammenhang ausgesprochen werden, dass die Hauptgründe für den rasanten Anstieg der Sozialausgabenquote vor allem im Ausbau der Invaliden- und Krankenversicherung, das heisst in der Zunahme von Invalidenrentenbezüger und im neuen Krankenversicherungsgesetz zu suchen sind. In den letzten Wochen wurden die neuesten Zahlen zum Gesundheitswesen publik:

1950 – kurz nach Einführung der AHV – betrugen die Sozialausgaben in der Schweiz noch 1,5 Milliarden Franken. Bis 1990 – vor der Einführung des neuen Krankenversicherungsgesetzes – erhöhten sich die Ausgaben auf 63,2 Milliarden Franken. Darauf erfolgte der Dammbruch: Zwölf Jahre später, 2002, haben sich die Kosten auf gut 123 Milliarden Franken verdoppelt. Gemessen am volkwirtschaftlichen Ertrag (Bruttoinlandprodukt) hat sich die Sozialausgabenquote von 19,3 (1990) auf 28,8 (2002) erhöht. Wachstumsraten, die weit über jenen der Wirtschaft mitsamt der Teuerung liegen. Wer angesichts dieser Zahlen von „Sozialabbau“ spricht, hat jeden Bezug zur Realität verloren.

Von den Sozialversicherungen drückt zurzeit vor allem die IV auf die Bundesfinanzen. Hier ist erfreulich, dass nun endlich auch weitere Kreise und sogar die Medien offener über die IV-Probleme sprechen. Ein guter Anfang. Vorneweg die Fakten: Waren 1990 noch rund 160’000 Personen IV-Bezüger, sind es 2003 schon über 280’000. Nicht nur in absoluten Zahlen haben die IV-Rentner rasant zugenommen, sondern auch proportional zur arbeitenden Bevölkerung.

Seit 1990 hat sich ihr Anteil an der aktiven Bevölkerung um über 50 Prozent erhöht. Jeder 5. Mann im 64. Lebensjahr bezieht eine IV-Rente. Diese alarmierende Entwicklung schlägt sich auch auf der Ausgabenseite nieder: 1990 bezahlten die Schweizerinnen und Schweizer für die Invalidenversicherung noch ca. 4 Milliarden – heute sind es bereits rund 11 Milliarden Franken pro Jahr.

Die Zusammensetzung der Invaliden zeigt, dass immer mehr psychische Ursachen eine IV-Rente nach sich ziehen (40 Prozent aller Neurentner). Eine Vielzahl neuer Krankheitsbilder dienen als kaum überprüfbarer Einstieg zur Invalidität. Ich will Ihnen nur ein paar Beispiele nennen: Soziale Phobie, Internet-Sucht, erhöhter Cholesterinspiegel, Übergewicht, Menopause, Weichteilrheumatismus, Reizdarmsyndrom, Schlafstörungen, Verstopfungen, Burnout-Syndrom, Hyperaktivität, starkes Schwitzen, Entwurzelungssyndrom, psychosoziale Depression, Tinnitus (Pfeifen im Ohr) oder Vitaminmangel. Bei dieser Fülle ist jeder Bürger ein potenzieller Neurentner. Sicher kann sich jeder von Ihnen auf eines dieser Symptome berufen.

Ebenfalls sehr hoch sind die Anteile jener IV-Bezüger, die über Kopf- und Rückenschmerzen oder ein Schleudertrauma klagen. Auffällig ist auch, dass im öffentlichen Sektor besonders viele Beschäftigte vorzeitig für arbeitsunfähig erklärt werden. Also zieht das Argument nicht, hauptsächlich die Privatwirtschaft würde ihre schwächeren Arbeitnehmer einfach in die IV abschieben. Ebenso unzutreffend ist die Aussage, der Arbeitsmarkt würde immer härter, was die Beschäftigten eben auch in die Invalidität treibe. Wie erklärt sich dann der hohe IV-Anteil von ehemaligen Staatsangestellten, die nun wirklich nicht dem rauen Klima der Privatwirtschaft ausgesetzt waren und sind?

Meine Damen und Herren, das sind unangenehme Dinge, über die man aber sprechen muss. Gefragt ist endlich der schonungslose Blick in die Realität! Leider gibt es gerade auch in der Politik zahlreiche Interessenvertreter, die von diesen Problemen, dem umfangreichen Sozialbetrieb, profitieren und alles daran setzen, dass die Steuermilliarden weiter in ihre Gärten fliessen – und dort versickern.

VI. Wo steht die Wirtschaft?

Die Politik kam in den letzten Jahren in der Finanz- und Wirtschaftspolitik nicht voran. Aber wo steht die Wirtschaft? In einer direkten Demokratie ist die Stimme der Wirtschaft in Fragen der Finanz- und Wirtschaftspolitik entscheidend. Aber wo ist diese Stimme? Kein Bundesrat fühlt sich von der Wirtschaft bedrängt, endlich vorwärts zu machen. Und von den Wirtschaftsverbänden erst recht nicht.

Eine gute Ordnungspolitik – die wichtigste Grundlage für einen funktionierenden Wirtschaftsstandort – scheint geradezu vergessen gegangen zu sein. Im Gegenteil: Das Verhalten der verantwortlichen Verbände steht im krassen Widerspruch zur Klage ihrer Mitglieder. Natürlich gibt es schöne, wortreiche, bunt illustrierte Broschüren aus der Wirtschaft, die eine massvolle Ausgaben- und Steuerpolitik predigen. Sobald es aber konkret wird, lösen sich diese schönen Worte in Luft auf.

Es scheint mir auch, dass die Wirtschaft nach der verlorenen Abstimmung betreffend Steuerpaket und AHV den Mut verloren hat, sich für ihre Anliegen einzusetzen.

Die Schweiz braucht keine Wirtschaft, die sich am liebsten mit Parlament, Bundesrat und Medien zu sicheren Mehrheiten für neue finanzpolitische Abenteuer und kostspieligen aussenpolitischen Aktivismus verbandelt. Ihr Urauftrag heisst, für eine gute Wirtschaftspolitik zu sorgen.

Ich meine, es sei dringend, dass die Unternehmen nicht nur über die schludrige Ordnungspolitik klagen, die zu hohen Steuern und immer neuen Abgaben führt, sondern endlich eine glaubwürdige Finanz- und Wirtschaftspolitik betreiben, und zwar im Konkreten und auch im Kleinen.
Sie müssten den Bundesräten und Parlamentariern immer wieder zeigen, was eine gute Wirtschaftspolitik ist. Sie müssten als Wirtschaftsvertreter Ihre Nöte ins Bundeshaus tragen. Wir arbeiten im Bundeshaus in einer geschützten Werkstatt. Den täglichen Kampf ums Überleben, der tägliche Konkurrenzkampf der Industrie und der Wirtschaft kennen wir nur aus den Statistiken, Berichten und Medien. Und diese sind meist noch geschönt. Sie stehen näher am Puls.

Auch müssten Sie als Wirtschaftsvertreter die Parteien beraten, ich meine sogar, Sie müssten sie in der Wirtschaftspolitik führen. Sie werden vielleicht als Rufer in der Wüste angesehen. Aber ohne diese Rufer in der Wüste wird die Schweiz bald eine Wüste ohne Rufer sein! Die Parteien brauchen nicht „Freunde aus der Wirtschaft“, die ihre Sonderwünsche in der Politik durchbringen wollen. Parteien, Regierungen und Parlamente brauchen Warner und Stimmen für die Gesamtwirtschaft zum Wohle des Landes und des Volkes.

VII. Schlusswort

Meine Damen und Herren, ist die Schweiz diesen grossen Herausforderungen gewachsen? Ich kann die Frage leider nicht mit Ja beantworten. Voraussetzung ist die schonungslose Offenlegung der Probleme und der Wille, diese Aufgaben anzugehen.

Daran gilt es zu arbeiten. Helfen Sie mit. Damit diese Missstände nicht weiter unter den Tisch gekehrt werden.

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