Je einsamer wir sind, desto gefährlicher leben wir

Streitgespräch mit Nationalrat Andreas Gross in der Weltwoche vom 26. Februar 1998

Die Schweiz soll sich sicherheitspolitisch öffnen. Dies fordert die Kommission für strategische Fragen unter Edouard Brunner. SVP-Nationalrat Christoph Blocher sagt nein dazu, SP-Nationalrat Andreas Gross ist dafür.


Interview: Martin Furrer und Martin A. Senn

Herr Blocher, sagt Ihnen der Termin 26. Februar 2008 etwas?

Christoph Blocher:
(lacht) Dann wird meine zehnjährige Schweigepflicht, die mir als Mitglied der Brunner-Kommission auferlegt worden ist, abgelaufen sein.

Andreas Gross: Die Schweigepflicht betrifft nur Interna. Über alle Themen des Brunner-Berichtes werden, ja müssen wir uns jederzeit äussern.

Herr Blocher, Sie haben als einziger nein gesagt zu sämtlichen Empfehlungen der Kommission. Warum haben Sie überhaupt mitdiskutiert?

Blocher: Man hat mich gebeten, mitzumachen, und ich habe meine Meinung eingebracht.

Vielleicht haben Sie mitgemacht, weil Abwesende bekanntlich immer unrecht haben? In dieser Logik könnte man jedenfalls argumentieren, die Schweiz müsse endlich EU-Mitglied werden, auch wenn sie in Detailfragen mit der EU nicht einverstanden ist.

Blocher: Die Brunner-Kommission diskutierte strategische Fragen. Durch die Teilnahme an der EU verliert der Bürger Rechte. Ich verliere keine Rechte, wenn ich an einer Studienkommissionssitzung teilnehme.

Und warum haben Sie, Herr Gross, trotz Ihrer fundamentalkritischen Haltung zur schweizerischen Sicherheitspolitik in der Kommission mitgearbeitet?

Gross:
Unsere Sicherheit dürfen wir nicht den Militärs überlassen. Ich habe mitgemacht, weil Kommissionspräsident Edouard Brunner zu den welthaltigsten Menschen in Bundesbern gehört. Er hat einen enorm breiten Horizont. Zweitens finde ich die Idee von Verteidigungsminister Adolf Ogi, die unterschiedlichsten Leute an einen Tisch zu bringen, spannend; seit 1945 war es hierzulande in einem offiziellen Gremium nicht mehr möglich, derart kontrovers über sicherheitspolitische Fragen zu diskutieren.

Ist Welthaltigkeit das Gegenteil von Christoph Blochers Grundhaltung?

Gross: Nein, Herr Blocher gehört für mich auch zu den welthaltigsten Menschen dieses Landes – allerdings bloss ökonomisch.

Neutralitätspolitisch fahren Sie, Herr Blocher, im Gegensatz zu Herrn Gross eine harte Linie. Kürzlich haben Sie sogar die Absicht des Bundesrates kritisiert, Atropinspritzen nach Israel zu liefern, weil das gegen die Neutralität verstosse.

Blocher: Es gibt in der Neutralität keine harte oder weiche Linie. Die Frage ist, ob die Schweiz dauernd neutral sein will oder nicht. Heute ist für mich klar: Bundesrat und Parlament wollen innerlich die Neutralität aufheben. Sie getrauen sich zwar nicht, dies zu sagen, aber sie denken es.

Von Aufhebung der Neutralität spricht doch im Ernst niemand. Man will sie nur flexibel handhaben.

Blocher: Das ist Tarnung. Neutralität wird in führenden Kreisen nie geschätzt, denn sie schränkt den Handlungsspielraum einer Regierung ein. Ein Neutraler ist im Kriegsfall nicht beliebt, weil er zwar kein Feind, aber auch kein Verbündeter ist. Die Neutralität ist eben eine anspruchsvolle Staatsmaxime.

Einspruch, Herr Blocher: Das Festhalten an der Neutralität glich in der Vergangenheit doch vielmehr dem krampfhaften Versuch, sich bei niemandem unbeliebt zu machen.

Blocher: Ach was. Nichts ist heute einfacher, als sich zum Beispiel beim Irak-Konflikt auch als Staat auf die Seite der Amerikaner zu stellen. Ich habe die Spritzen-Geschenkaktion nicht kritisiert, weil ich gegen Israel bin, sondern weil ich für eine konsequente Neutralitätspolitik eintrete.

Es wäre in Ihren Augen also konsequenter, Spritzen auch nach Bagdad zu schicken?

Blocher: Ja, das müsste man – und zwar ebenfalls gratis.

Herr Gross, halten Sie die Atropinspritzen-Lieferung auch für einen Verstoss gegen die Neutralität?

Gross: Ich teile die Meinung von Herrn Blocher, dass die Neutralität eine anspruchsvolle Sache ist. Neutralität muss man heute aber in einem solidarischeren Sinn verstehen, als dies während der Zeit des Kalten Krieges der Fall war. Was die Spritzen betrifft, sollten wir damit nicht nur die israelische Zivilbevölkerung beliefern, sondern auch die irakische.

Bringt mehr Engagement für Dritte nicht die Gefahr mit sich, in eine Auseinandersetzung hineingezogen zu werden, Herr Gross?

Gross: Wir sind schon lange ein Teil dieser Welt und ihrer Auseinandersetzungen. Der Bundesrat hat 1995 den Luft- und Landtransit für Nato-Truppen nach Bosnien gestattet. Wenn es heute darum gehen würde, den amerikanischen Alliierten für einen Einsatz im Irak den Überflug über die Schweiz zu gestatten, wäre ich nicht aus neutralistischen, sondern politischen Gründen dagegen. Ein Krieg gegen Saddam Hussein wäre eine einseitig amerikanische Mission.

Sie sind für eine Öffnung des schweizerischen Luftraumes für internationale Interventionstruppen und damit für die Relativierung der Neutralität, falls sich die Uno hinter Amerika stellt.

Gross: Ja, wenn die Uno als Weltgemeinschaft meint, ein Einsatz im Irak sei nötig, machte dies die Sache für die Schweiz aus neutralitätspolitischer Warte weniger problematisch.

Blocher: Schauen Sie, Herr Gross: Wer als Kleinstaat die Neutralität aufgibt, wird leicht in eine kriegerische Auseinandersetzung hineingezogen. Zudem braucht es doch auf dieser Welt neutrale Staaten, die mit verfeindeten Parteien reden können. Würde die offizielle Schweiz die Politik des Irak mitverurteilen, fiele sie als Vermittlerin im Konfliktfall ausser Betracht.

Gross: Friedrich Dürrenmatt hat einmal gesagt, die Schweiz müsste nur dann nicht in die Uno, wenn sie ihre Neutralität wirklich nützen würde. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Neutralität jedoch als Ruhekissen recht eigentlich missbraucht. Die Österreicher und Schweden hingegen begriffen ihre Neutralität als besondere Form der Zuwendung zur Welt. Bruno Kreisky und Olof Palme haben mit Neutralität immer auch Solidarität und Engagement verbunden. Ihre isolationistische Auslegung der Neutralität, Herr Blocher, wird für die Schweiz zunehmend zum Problem. Eine Erkenntnis der Brunner-Kommission lautet: Im Alleingang gibt es für die Schweiz keine Sicherheit mehr. Je einsamer wir sind, desto gefährlicher leben wir.

Und Sie, Herr Blocher, wollen ausgerechnet heute das Rad der Geschichte zurückdrehen, indem Sie eine Neutralität postulieren, die im Reduitdenken gründet?

Blocher: Im Gegenteil. Die Neutralität ist gerade bei künftigen Bedrohungen von besonderem Interesse. Ich erinnere an die Drohungen des Irak in den aktuellen Auseinandersetzungen. Das haben die Schweizer erkannt und darum für die Neutralität gestimmt.

Gross: Herr Blocher, woher wissen Sie so genau, wie das Volk heute stimmen würde?

Blocher: Bei der Abstimmung über den Uno-Beitritt 1986 ging es expressis verbis um die Neutralität. Das Volk hat sich klar für die Neutralität ausgesprochen.

Gross: Das war vor über zehn Jahren. Heute ist die Situation schon ganz anders.

Blocher: Ein Beitritt zur EU und ein Engagement bei den Uno-Blauhelmtruppen ist unvereinbar mit unserer Neutralität. Unsere Bürger wären die Leidtragenden, wenn wir die Neutralität aushöhlen würden. Die Neutralität flexibel handhaben heisst opportunistisch handeln. Das ist gefährlich: Neutralitätspolitik ist nur glaubwürdig, wenn sie konsequent angewendet wird.

Gross: Ihr Problem ist, dass die Neutralität seit dreihundert Jahren flexibel gehandhabt wurde und die Schweiz sie im Zweiten Weltkrieg amoralisch angewandt hat und nachher nie dazu stand. Jetzt ist die Schweiz von der Vergangenheit eingeholt worden. Verheerend dabei ist, dass die Schweiz die Neutralität stets als Abwendung von der Welt verstand. Sicherheit lässt sich heute nur noch schaffen mit guten gegenseitigen Beziehungen. Ihr Neutralitätsverständnis, Herr Blocher, passt da ganz einfach nicht mehr in die heutige Welt.

Blocher: Ganz im Gegenteil. Schauen Sie aus dem Fenster und analysieren Sie die aktuellen bewaffneten Konflikte. Sie haben den Begriff der amoralischen Neutralität verwendet, Herr Gross. Die Kritiker verwechseln Moral und Moralismus. Die Schriftsteller, die der Schweiz heute vorwerfen, sie habe während des Zweiten Weltkriegs grosse Fehler begangen, sind Leute, die nicht aus der Verantwortung argumentieren, sondern vom Standpunkt der blütenreinen Weste. Die verantwortlichen Politiker hatten während des Zweiten Weltkriegs den Auftrag, für die Schweiz den Frieden zu sichern und den Krieg zu vermeiden…

Gross: …das Überleben, nicht den Frieden!

Blocher: Es ging nicht nur ums Überleben, es ging um mehr – um Freiheit, Unabhängigkeit und Demokratie. Und in dieser schwierigen Situation sind eben Fehler passiert, das ist nicht anders möglich. Die Schweiz hat ihre integrale Neutralität nur einmal aufgegeben, und zwar zur Zeit des Völkerbundes – mit gravierenden Konsequenzen. Wenn die Schweiz eine konsequente Neutralitätspolitik betreibt, wendet sie sich doch nicht von der Welt ab – im Gegenteil.

Gross: Ich sehe das anders. Moderne Neutralität lässt sich künftig nur praktizieren, wenn Neutralität zusammen mit anderen neutralen Staaten in einem militärisch allianzfreien, aber politisch und zivil sehr engagierten Bündnis gelebt wird. Die Österreicher, Schweden, Finnen und Irländer sind für eine solche Diskussion zu haben, die Schweiz muss davon noch überzeugt werden. Ihr rein nationales Neutralitätsverständnis wird nicht überleben, Herr Blocher!

Blocher: So einfach ist die Sache nicht, Herr Gross. Die von Ihnen erwähnten europäischen Neutralen sind Mitglieder der EU. Die EU aber fordert künftig von ihren Mitgliedstaaten eine gemeinsame Sicherheitspolitik. Das ist mit der Neutralität unvereinbar.

Gross: Die EU muss dann erst recht eine differenzierte Position einnehmen, denn Österreicher, Schweden, Finnen und Irländer werden sich nicht in ein Nato-Korsett drängen lassen. Ich bleibe dabei: Eine modern verstandene Neutralität wäre kein Hindernis für einen EU-Beitritt , nur eine neutralistische Mentalität wäre es.

Blocher: Wir werden sehen. Sicher ist, dass die Nato ohne Amerika eine ohnmächtige Organisation wäre. Die europäischen Armeen stecken alle in Krisen. Die neue Nato wird nicht mehr ein westeuropäisches Territorium verteidigen, sondern weltweit gemeinsame Interessen, und zwar unter Führung der Vereinigten Staaten. Die Partnerschaft für den Frieden ist der Versuch, Nato-Nichtmitglieder in dieses Bündnis einzubinden. Darum war ich strikte dagegen. Die Aussage, die Schweiz könne doch nicht einem Bündnis fernbleiben, das als Ziel den Frieden habe, ist naiv. Haben Mitglieder eines Militärbündnisses je erklärt, sie verfolgten andere Ziele als den Frieden?

Herr Gross, sind Sie als Pazifist für die Nato-Partnerschaft und die Bewaffnung von Blaumützen?

Gross: Eine heikle Frage.

Und?

Gross: Ja, ich war und bin fürs letztere. Übers erste lohnt es sich nicht mehr zu streiten.

Ebenfalls einverstanden, Herr Blocher?

Blocher: Keinesfalls. Aus diesem Grund habe ich ja auch 1994 die Blauhelm-Vorlage bekämpft.

Warum?

Blocher: Sie verstösst gegen die Neutralitätspolitik. Die Idee der Bewaffnung eigener Truppen im Ausland zum Selbstschutz ist romantisch: Es ist naiv zu meinen, in einem Land, in dem Krieg geführt wird, könne man Soldaten bloss zum Selbstschutz mit leichten Waffen ausrüsten. Wer mit der Waffe antritt, wird unweigerlich in die Auseinandersetzungen verwickelt werden.

Gross: Ich war 1997 als Wahlbeobachter in Albanien. Tagsüber hat mich ein österreichischer Grenadier beschützt, abends musste ich in französischen Schützenpanzern dislozieren, und schlafen durfte ich auf einem italienischen Kriegsschiff. Tatsächlich hat dort die Manifestation militärischer Macht die bewaffneten albanischen Banden davon abgehalten, die Wahlen zu stören…

Blocher: …weil Ihre Schutztruppe mehr Macht und die besseren Waffen hatte als die albanischen Clans! Interessant, dass auch ein Pazifist diese Beobachtung macht.

Gross: …ja, das ist eine traurige Erfahrung. Leider lässt man die Albaner heute wieder allein. In dieser Situation käme engagierten neutralen Staaten eine wichtige Aufgabe zu; sie hätten dafür zu sorgen, dass es gar nicht erst zum Brand kommt im Haus – dies im Gegensatz zur Nato, die erst ausrückt, wenn es schon brennt. Diese Art der Prävention wäre viel billiger als ein militärisches Engagement.

Vermehrtes aussenpolitisches Engagement der Schweiz führt zu stabileren Verhältnisse in der Welt und damit auch zu mehr innenpolitischer Sicherheit, Herr Blocher.

Blocher: Welche Selbstüberschätzung! Die Politiker erklären uns immer wieder aufs Neue, warum die Schweiz ihre Unabhängigkeit aufgeben soll. Einerseits will man uns weismachen, die Schweiz sei militärisch nicht mehr bedroht. Anderseits sollen wir plötzlich nicht mehr in der Lage sein, uns militärisch allein zu verteidigen. Gegen Mehranstrengungen in der Diplomatie, gegen Kooperationen und Solidarität mit Leidenden habe ich nichts einzuwenden. Aber ich bin gegen Integration. Ein Kleinstaat, der integriert wird, wird eingebunden. Die Nato ist kein Klub von selbstlosen Staaten, die eine gerechte Weltordnung im Kopf haben, Herr Gross. Da sind auch Eigeninteressen mit im Spiel.

Gross: Ich höre gerne, dass Herr Blocher nichts gegen internationale Kooperation hat. 1848 haben sich die Kantone ja auch in den Bundesstaat integriert, ohne ihre Souveränität zu verlieren…

Blocher: …Integration bedeutet aber auch, ein Stück eigene Souveränität preiszugeben…

Gross: …deshalb braucht es die europäische Integration, weil der Frieden heute von keinem Staat allein mehr gewährleistet werden kann.

Herr Gross, Sie haben ja gestimmt zum Brunner-Bericht – ganz ohne Vorbehalte?

Gross: Nein. Eigentlich sollten wir Strategien für die nächsten 25 Jahre entwickeln. Aber wir haben kaum gewagt, den Blick auch nur zehn Jahre nach vorne zu werfen.

Herr Blocher, wie stark soll sich die Schweiz künftig international engagieren?

Blocher: Auf jeden Fall nicht aufgrund utopischer Träume. Es lohnt sich, auf die bestehenden Stärken zu setzen, also den Ausbau des IKRK oder des zivilen Katastrophenhilfekorps.

Herr Gross, welches sind Ihre Erkenntnisse nach einjähriger Kommissionsarbeit?

Gross: Die Kommission blieb in ihren Schlussfolgerungen viel zu ängstlich. Doch wenn sich die Erkenntnis durchsetzt, dass ein politisch einsamer Staat wie die Schweiz ein unsicherer Staat ist, haben wir schon einiges bewirkt.

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