Testi
30.05.2006
27.05.2006
150 Jahre Oestlicher Cavallerie-Verein
Jubiläumsansprache von Bundesrat Christoph Blocher 27. Mai 2006, in Wil SG 27.05.2006, Wil SG Es gilt sowohl das mündliche wie das schriftliche Wort, der Redner behält sich vor, auch stark vom Manuskript abzuweichen. 1. Eine persönliche Erinnerung Lassen Sie mich mit einer persönlichen Erinnerung und einer persönlichen Bemerkung beginnen. Wie ja einige von Ihnen wissen, habe ich nach meiner obligatorischen Schulzeit eine Ausbildung zum Bauern absolviert. Sie ist bis heute (bis und mit Bundesrat) der einzige „ordentliche“ Beruf geblieben, den ich gelernt habe. Während meiner Ausbildung zum Landwirt schätzte ich ein Privileg besonders: Die Arbeit mit den Pferden und – in meiner spärlichen Freizeit – vor allem das Ausreiten, der Reitsport. Es war ein spezielles Vergnügen, diese Kraft des Pferdes einerseits in Arbeit oder dann in der Form der Fortbewegung umzusetzen. So entstand bei mir auch der verständliche Wunsch, im Militärdienst der Kavallerie beizutreten. Was sich als gar nicht so einfach erwies. Denn die Kavallerie war so konzipiert, dass der Dienstleistende ausserhalb der Militärzeit für das Pferd zu sorgen hatte. Das heisst, er hatte für Unterbringung, Pflege und Fütterung zu schauen. So war es wenig erstaunlich, dass vor allem Bauernsöhne der Kavallerie angehörten. Da ich zwar Bauer war, aber ohne eigenen Hof dastand, lehnte das Militär meinen Antrag ab. Trotz meines Versprechens, ich würde das Ross an einem geeigneten Ort platzieren – es blieb bei einem Nein. Sie sehen, ich bin knapp daran gescheitert, Kavallerist zu werden. Sonst würde ich heute hier vielleicht sogar als Mitglied Ihres Vereins sprechen. Trotz der Enttäuschung bin ich aber damals meiner Pferdeleidenschaft treu geblieben. Denn ich konnte ein Pferd ausreiten, das nicht mir, aber einem Studienkollegen gehörte. Dieser war zwar auch kein Bauernsohn, hatte aber einen reichen Vater, der ihm die Haltung ermöglichte. Der damalige Kollege war der spätere Filmemacher Markus Imhof. Die einen oder anderen unter Ihnen werden seinen Namen kennen. Imhof, der vor allem als Regisseur des Flüchtlingsdramas „Das Boot ist voll“ bekannt wurde, begann seine Karriere mit Dokumentarfilmen. Dazu gehörte auch sein Werk über die berittenen Truppen, das er nach dem Namen und der Nummer seines Pferdes „Ormenis 199+69“ nannte. Dieser Dokumentarfilm wurde zum regelrechten Skandal, weil er ein ziemlich kritisches Bild über die Kavallerie entwarf und darin die Frage aufgeworfen wurde, ob die Dragoner überhaupt noch zeitgemäss seien. Die Premiere fand 1970 statt, just als die Heeresleitung über die Abschaffung der Reitertruppen diskutierte. Pikanterweise wurde Imhof bei der Realisierung seines Films von den Kavallerieverbänden finanziell unterstützt, die entsprechend sauer auf das Endprodukt reagierten. Sie erwirkten sogar ein Aufführungsverbot. (Ich habe vor drei Jahren die Tellaufführung auf dem Rütli gesponsert. Ich kann Ihnen versichern, dass ich auch sauer geworden wäre, hätte in der Hohlen Gasse plötzlich Gessler den Tell erschossen, statt der Freiheitskämpfer Tell den Tyrannen.) 2. Eine persönliche Bemerkung Das ist die persönliche Erinnerung. Erlauben Sie mir jetzt noch eine persönliche Bemerkung. Ich habe die teilweise heftigen Auseinandersetzungen rund um den Dokumentarfilm Imhofs erwähnt. 1973 wurde die Kavallerie dann tatsächlich aufgelöst. Die Gründe dafür sind bekannt: Einerseits die Kosten und vor allem fehlte die Einsicht in den militärischen Nutzen von berittenen Truppen. Man hielt sie für eine überholte, eher folkloristische Ausprägung des Schweizer Wehrwillens. Der schnelle Fortschritt in der Waffentechnologie liess die Pferde als überflüssig erscheinen. Das mag auf den ersten Blick schon zutreffen. Natürlich macht es keinen Sinn zu Pferd Panzerbrigaden anzugreifen, wie das die polnische Armee noch im Zweiten Weltkrieg versuchte. Aber gerade die letzten Jahre zeigten, dass der Kleinkrieg mit teilweise – ich sage jetzt einmal – primitiven Waffen eine Wiedergeburt feiert. In den unwegsamen Gebieten Afghanistans oder Pakistans gehört das Pferd zur Ausrüstung von terroristischen und rebellischen Bewegungen. Denn es bildet einen Gegenentwurf zur hochgerüsteten Militärtechnologie. Der Kleinkrieger setzt auf seine Stärken: auf die Beweglichkeit, Unscheinbarkeit, Unabhängigkeit, auf lokale Kenntnisse – und der Kleinkrieger nützt die Schwächen des Gegners aus. Seine Militärtechnologie ist sicher sehr effizient – solange sie funktioniert. Die enge Vernetzung macht sie aber auch angreifbar. Darum sollte man schon in der Planung vermeiden, verwundbare Zentren zu schaffen, von denen die ganze Verteidigung abhängig ist. Dezentralisierung, Verantwortung von unten, höchste Flexibilität heissen die zeitgemässen Antworten. Sie merken, dass die zeitgemässen Antworten gar nicht so viel anders sind als in den Jahren der Gründung Ihres Verbandes. Es gibt eben Grundsätze, die Bestand haben. Nun, ich will an diesem Festtag nicht über mögliche Kriege und Bedrohungen sprechen. Ich will Ihnen ja auch nicht vorsätzlich die gute Laune verderben. Und doch gilt es festzuhalten, dass ihr Verband ohne seine militärische Vergangenheit in der heutigen Form undenkbar wäre. Das werden wir bei der historischen Würdigung noch sehen. Wir sind alle dankbar, dass Sie Ihre Arbeit in den letzten Jahren anders ausrichten konnten: Der Ostschweizer Kavallerieverband nimmt eine zentrale Funktion ein, wenn es um die Förderung und Ausbildung im Reitsport geht. Sie stellen kompetente Instruktoren. Sie bilden Vereinstrainer und Fachpersonal aus. Sie veranstalten Wettkämpfe und jährliche Wettbewerbe. Sie stellen ein breites Angebot von Kursen für Interessierte zusammen. Das ist viel Arbeit und viel Engagement. Was beides nicht selbstverständlich ist. Auch dafür gebührt Ihnen Dank und Anerkennung. 3. Aus Eigeninitiative entstanden Mit rund 20'000 aktiven Pferdesportfreunden stellt der Verband Ostschweizerischer Kavallerie- und Reitvereine die grösste Sektion in der Schweiz. Gegründet wurde der OKV vor 150 Jahren. Damals galt sein Hauptziel der Etablierung von Reitertruppen in der Schweizer Armee. Ausserdem wollte er deren Ausbildung fördern, auch ausserhalb der Dienstzeit. Man hatte festgestellt, dass die Reiterei je nach Gegend sehr unterschiedlich ausgerüstet war und da die Tiere meist nur für die Feldarbeit eingesetzt wurden, mussten zahlreiche Pferde für ungeeignet erklärt werden. Manche waren nicht einmal zugeritten. Man erkannte also die allgemeinen Missstände in der Reiterei. Es zeugt vom typisch schweizerischen Selbstverständnis, dass man sich umgehend zu organisieren begann und die Verbesserung der Zustände selber in die Hand nahm. Eigeninitiative hiess das Gebot der Stunde. Mit den zahlreichen Reitvereinen sollte das Niveau und damit auch die Wehrfähigkeit der Kavalleristen gefördert werden. Ich habe es bereits erwähnt, einen Dragoner oder eben „Eidgenoss“ konnte sich nicht jeder „leisten“. Nur unterschied sich die Schweizer Milizarmee dabei von anderen, ausländischen Truppen. Während etwa im habsburgischen Österreich oder in der preussischen Armee vor allem Adelige in der Kavallerie dienten, prägten bei uns die Bauernsöhne die Reitertruppen. Allerdings waren die Reittruppen immer so etwas wie ein Stiefkind in der Bewaffnung. Das hatte durchaus historische Gründe. Schliesslich waren es die alten Eidgenossen, die mit ihren wendigen Fussheeren und ihren Langspiessen das Kriegswesen im Spätmittelalter revolutionierten. Mit ihrer neuen Taktik und Bewaffnung knackten sie die schwerfälligen Reiterheere der Adeligen und bereiteten ihnen blutige Niederlagen. Ausserdem verbanden die alten Schweizer die Reiter nicht zu Unrecht mit den ihnen verhassten Rittern. Erst als die berittenen Einheiten der Tagsatzungsarmee unter General Dufour im Sonderbundskrieg 1847 zu überzeugen vermochten, fand hier ein Umdenken statt. 4. Hohe Kosten In der Schweiz gibt es bekanntlich erst seit 1848 eine gemeinsame Armee. Früher war die Ausrüstung, Ausbildung und das Stellen von Kontingenten Sache der Kantone. Davon erzählen auch die vielen Zeughäuser in den Städten und auf der Landschaft. In der neuen Bundesverfassung wurde nun festgehalten: Artikel 18: Jeder Schweizer ist wehrpflichtig. Artikel 19: Das Bundesheer, welches aus den Kontingenten der Kantone gebildet wird, besteht: a) aus dem Bundesauszug, wozu jeder Kanton auf 100 Seelen schweizerischer Bevölkerung 3 Mann zu stellen hat… Artikel 20: Um in dem Bundesheere die erforderliche Gleichmässigkeit und Dienstfähigkeit zu erzielen, werden folgende Grundsätze festgesetzt: 1. Ein Bundesgesetz bestimmt die allgemeine Organisation des Bundesheeres. 2. Der Bund übernimmt: a) den Unterricht der Genietruppen, der Artillerie und der Kavallerie, wobei jedoch den Kantonen, welche die Waffengattungen zu stellen haben, die Lieferung der Pferde obliegt. Wenn hier von „Lieferung der Pferde“ gesprochen wird, dann wird vor allem die Frage der Finanzierung unterschlagen. In dieser Zeit hatte jeder Dragoner sein Pferd sowie einen grossen Teil seiner Ausrüstung selber zu stellen. Das erklärt auch die geringe Zahl der Kavalleristen. Das System der Bundespferde oder eben „Eidgenossen“ lag damals noch in weiter Ferne. Die hohen Kosten einer schlagkräftigen Reitertruppe stiessen in der föderalen Schweiz auf Ablehnung. Erst die Einführung der Bundespferde schuf hier Abhilfe. Ausserdem wurden die Dragoner so zum wohl ausgeprägtesten Mitglied der Miliz, weil sie ja verpflichtet wurden, die Dienstpferde jeweils nach Hause zu nehmen. Mit Recht wird in Ihrer Jubiläumschronik darauf hingewiesen, dass dies für die Armee auch eine Verpflichtung bedeutete: Sie musste sich das Wohlwollen der Vereine und Verbände sichern, weil diese wegen ihrer breiten gesellschaftlichen Verankerung ein hohes politisches Mobilisierungspotenzial besassen. Man kann diese Rücksicht für schädlich halten. Ich erachte sie für äusserst positiv. Es war immer ein Plus der Milizarmee, dass sie von Menschen geprägt wurde, die sonst in einer ganz anderen Lebenswelt standen. Dieser Umstand führte zu einem wohltuenden Ausgleich zwischen zivilen und militärischen Interessen. 5. Die Bedeutung der Vereine Dass sich 1856 die Reitfreunde in Vereinen zusammenfanden, entsprach dem Geist der Zeit, speziell dem Geist der Schweizer. Es gibt kaum ein Land, das eine derart grosse Vereinsdichte aufweist wie das unsrige. Laut einer Umfrage bezeichnen sich 41 Prozent der Befragten als aktives Mitglied eines Vereins. Allein im 19. Jahrhundert wurden schätzungsweise 30'000 bis 50'000 Vereine gegründet (und zwar ohne die lokalen Sektionen der grossen kantonalen oder gesamtschweizerischen Verbände). Bekannt sind die vielen Musikvereine, Chöre, Schützen- und Sportvereine. Die Vereine bildeten ein wichtiges Rückgrat für den Bundesstaat, der 1848 entstehen sollte. Denn die gemeinsamen Feste, die nationalen Anlässe, die eidgenössischen Wettkämpfe stärkten den Zusammenhalt und förderten die patriotische Gesinnung. In diese Tradition reihten sich auch die Kavallerievereine ein, denen es ja besonders um die Stärkung des Wehrwillens ging. Sie stehen in dieser Tradition. Ein intaktes Vereinswesen zeugt von einer intakten Gesellschaft. Wo sich die Bürger freiwillig zusammen tun, sich aus Eigeninitiative organisieren, wo mit jungen Menschen gearbeitet wird (sei es im Sport oder in der Musik), wo Frauen und Männer sich engagieren und ihre Freizeit dafür hergeben – dort wirkt die gelebte Gemeinschaft im Kleinen. Und das ist das Entscheidende. Wir sehen, wie der Zusammenhalt in den Dörfern und auf dem Land noch funktioniert und dass diese Bindungen sich in alle Bereiche des Zusammenlebens positiv auswirken. Seit 150 Jahren arbeitet Ihr Verband in diesem Sinn. Und ich hoffe, Sie werden noch lange in diesem Sinn weiterarbeiten. Herzliche Gratulation zu Ihrem Jubiläum.
22.05.2006
Der Unternehmer, die Schweiz und Europa – Ein dreifacher Sonderfall
Rede von Bundesrat Christoph Blocher vor dem Schweizerisch-Deutschen Wirtschaftsclub, am 22. Mai 2006 in Frankfurt am Main 22.05.2006, Frankfurt am Main Frankfurt am Main, 22.05.2006. Bundesrat Christoph Blocher berichtet vor dem Schweizerisch-Deutschen Wirtschaftsclub in Frankfurt am Main über seinen Werdegang, seine Erfahrungen als Unternehmer in der Politik, über die Besonderheiten des schweizerischen Politsystems und die Stellung unseres Landes in Europa. Es gilt sowohl das mündliche wie das schriftliche Wort, der Redner behält sich vor, auch stark vom Manuskript abzuweichen. 1. Kein Unternehmer von Geburt Die Veranstalter des heutigen Anlasses haben mich gebeten, über meinen Werdegang zum Unternehmer und vom Unternehmer zum Politiker zu berichten. Das Interesse zeigt mir, dass es sich offenbar um eine ziemlich exotische Karriere handeln muss. Tatsächlich werden selten mittellose Pfarrerssöhne Eigentümer eines weltweit tätigen Konzerns. Selten sind weltweit tätige Unternehmer in der Politik aktiv. Und selten verkauft ein Unternehmer seine Firma seinen Kindern, um in der Regierung Einsitz zu nehmen. Dass Unternehmer in der Schweiz aber auch auf parlamentarischer Ebene wirken können und es mehr solche gibt als in vergleichbaren Ländern, hat mit der Besonderheit der Schweiz zu tun. Damit habe ich über drei Sonderfälle zu berichten: Über den Sonderfall Unternehmer, den Sonderfall Schweiz als politisches System und über den Sonderfall der Schweiz in Europa. Wenn ich jetzt von „Sonderfall“ spreche, möchte ich gleich anfügen, dass die Bezeichnung keine Wertung beinhaltet, sondern nur einen Umstand beschreibt, dem wir selten begegnen. Ein Sonderfall weicht ab vom Normalen. Er ist deshalb etwas Besonderes oder etwas Abnormales! Wie Sie wissen, gehören die Unternehmer einer eher kleinen Gruppe innerhalb der Gesellschaft an. Der Unternehmer an sich ist also schon ein Sonderfall von einem Menschen. Bei mir kann man sogar von einer glücklichen „Verirrung“ sprechen: Was die familiären Voraussetzungen betrifft, würde es kaum verwundern, wenn ich Schulmeister oder Theologe geworden wäre. Denn ich bin, wie bereits erwähnt, in einem protestantischen Pfarrhaus mit 10 Geschwistern aufgewachsen. Mein Sinn für die Wirklichkeit und somit für das Greifbare, Sichtbare und folglich auch Machbare war jedoch schon sehr früh sehr ausgeprägt, so dass mich die berufliche Betätigung in der geistigen Welt des Pfarrhauses nicht anzog. Erklären kann und muss ich mir diese Veranlagung nicht. Jedenfalls begann ich unmittelbar nach der obligatorischen Schulzeit mit einer Ausbildung zum Bauern. Ich bin also ein gelernter Landwirt. Das ist mein erster und bis heute einzig richtiger Beruf. Erst danach holte ich im zweiten Bildungsweg die Matura (vergleichbar mit dem deutschen Abitur) nach, studierte Jurisprudenz und doktorierte über das Bodenrecht. Da mein Vater zwar über viel Literatur, aber wenig Kapital verfügte, war es mir nicht möglich, einen Bauernhof zu erwerben. Das war mit ein Grund, mich doch noch für den universitären Weg zu entscheiden. Die einfachen Verhältnisse zwangen mich auch, die späteren Schulen als Werkstudent zu absolvieren. Wobei die Formulierung jetzt negativer klingt, als es tatsächlich war. Schliesslich lernte ich durch diese Tätigkeit meinen späteren Arbeitgeber kennen. Dies war insofern schicksalhaft, als ich dieses Unternehmen, das in miserablem Zustand war, fast ausschliesslich mit Bankkrediten kaufen konnte – und zwar deshalb, weil das Unternehmen niemand sonst in der Schweiz wollte. Ich führte dann während rund zwanzig Jahren das Unternehmen EMS Chemie. Die Firma – die ich 2003 vor dem Eintritt in die Regierung an meine Kinder verkaufte – beschäftigt heute rund 3’000 Mitarbeiter, erzielt einen Jahresumsatz von ca. 1,2 Milliarden Franken, verkauft über 90 Prozent ihrer Produkte ins Ausland und gilt – im Vergleich zur Konkurrenz – als überdurchschnittlich ertragsreich. Die EMS AG ist vor allem in der Entwicklung und Herstellung von polymeren Werkstoffen tätig. 2. Ein Unternehmer in der Politik Man betreibt in der Schweiz die Politik im Nebenamt. So engagierte ich mich von Anfang an als interessierter Bürger und aktiver Unternehmer gleichzeitig: Nämlich vier Jahre als Gemeinderat (kommunale Exekutive), dann fünf Jahre im Parlament des Kantons Zürich (kantonale Legislative) und schliesslich vierundzwanzig Jahre im Nationalrat (vergleichbar mit dem Bundestag). Es ist klar, dass politisches Engagement und Unternehmertum eine doppelte Beanspruchung bedeuten. Darum ist die Zahl von Unternehmerpersönlichkeiten in der Politik eher gering. Aber der Nutzen Unternehmer/Politiker liegt in dieser oft fast unerträglichen Doppelbelastung. Wie anders könnte der Unternehmer seine wertvolle Erfahrung und Unabhängigkeit in die Politik einbringen? Und wie die politischen Gesetzmässigkeiten in die Wirtschaft einfliessen lassen, wenn er nicht gleichzeitig Unternehmer und Politiker wäre? Oft wird die Frage gestellt: Sind Unternehmer überhaupt gute Politiker? Können sie es überhaupt? Da gab es schon vor meiner Wahl in den Bundesrat die wohlmeinende Stimme eines Politologieprofessors, der warnend anmerkte, Wirtschaft und Politik seien dann zwei Paar unterschiedliche Schuhe und man müsse nicht meinen, wer das eine könne, beherrsche auch das andere Metier. Nun, dieser Professor weiss, wovon er spricht. Er hat Zeit seines Lebens nie ein politisches Amt ausgeübt, war nie im Wirtschaftsleben und hat nie auch nur einen Bleistift selber verkaufen müssen. Wie auch immer. Ich war Unternehmer, Nationalrat, absolvierte jedes Jahr drei Wochen Militärdienst bis ich 55 Jahre alt war, zuletzt im Range eines Oberst, als Regimentskommandant. Aussergewöhnlich schien, dass ich im Dezember 2003 EMS an unsere Kinder verkaufte, um am 5. Januar 2004 in die Schweizer Regierung einzutreten, denn ich wurde zum Bundesrat gewählt. Nach 24 Jahren Nationalrat, in welchen ich zunehmend gegen mehr staatliche Tätigkeit, gegen Steuererhöhungen und für die Wahrung der schweizerischen Unabhängigkeit eintrat, bin ich nun also Mitglied der siebenköpfigen Landesregierung. 3. Der Grundsatz muss stimmen Wer führen will, muss entscheiden. Wer entscheiden will, muss frei sein. Wer frei sein will, muss delegieren. Wer delegieren will, braucht Übersicht. Wer die Übersicht behaupten will, darf sich vom täglichen Kleinkram nicht auffressen lassen. Das gilt überall, wo man führen muss. Sei es im Unternehmen, sei es im Staat. Die schweizerische Verwaltung läuft bestens und vollständig autochthon. Wer will, kann sich in die Verwaltung versenken wie in ein warmes Bad. Termin folgt auf Termin, Sitzung reiht sich an Sitzung, ein Auftritt jagt den nächsten und in zehn Minuten beginnt schon wieder eine Besprechung. Es war also meine dringendste und wichtigste Aufgabe, mich freizuschaufeln, um der bürokratischen Maschinerie zu entkommen. Nur so entsteht der nötige Raum für Führung und Entscheidung. Ein Unternehmer analysiert permanent die Situation, die Konkurrenz, die eigene Arbeit und sucht mit seinen Leuten nach den besten Lösungen. Dann liegt es an ihm, Entscheidungen zu treffen und diese auch durchzusetzen. Sofern das Unternehmen gesund ist, haben alle Beteiligten das gemeinsame Ziel, den einmal getroffenen Entscheid mitzutragen und die Unternehmung zum Erfolg zu führen. In der Politik ist das nicht immer so. Viele Beteiligte sind nicht unbedingt an der besten Lösung interessiert. Das ist mitunter schwer nachvollziehbar, aber es ist so. Schliesslich geht es auch um den Faktor Macht und um den Faktor Mensch in der Politik. Umso wichtiger ist es, dass man sich über das Grundsätzliche im Klaren ist. Ich bin in einem liberalen, freiheitlichen Fundament verankert, das Erfolg und Eigenverantwortung fördert. Nur dieser Weg führt uns weiter. Davon bin ich überzeugt und darum versuche ich dies durchzusetzen. Wer glaubt, mit mehr Staat, mit letztlich sozialistischen Rezepten für mehr Wohlstand und Arbeit zu sorgen, der ist auf dem Holzweg. Der Wohlfahrtsstaat arbeitet strukturell ineffizient, weil er Erfolg mit Steuern und anderen Abgaben belastet, Misserfolg aber durch Transferzahlungen und Subventionen belohnt. Das zeigt nicht nur der Niedergang des Ostblocks, sondern das zeigen auch aktuelle Beispiele westeuropäischer Staaten, deren „Soft-Sozialismus“ (Robert Nef) die Volkswirtschaft schleichend erodieren lässt. Wer das nicht erkennt, hat die Weltgeschichte verschlafen. 4. Der dreifache Sonderfall Aufgrund der thematischen Vorgaben habe ich für heute einen Referatstitel gesetzt, der die spezielle Ausgangslage wie folgt zusammenfasst: „Der dreifache Sonderfall. Der Unternehmer, die Schweiz und Europa.“ Wie gesagt: Der Unternehmer an sich ist ja bereits ein seltenes Exemplar in der Gesellschaft. Unternehmer, die in die Politik wechseln, sind noch seltener. Warum das aber in der Schweiz etwas häufiger vorkommt als in anderen Ländern, hat mit unserem politischen System zu tun – womit wir beim zweiten Sonderfall wären: Das politische System in der Schweiz. Die Schweiz ist föderalistisch aufgebaut, damit ist auch der Aufbau von unten nach oben gemeint. Der Föderalismus schafft derart kleinräumige Strukturen, dass in unserem Land vieles auf der Milizbasis ausgeübt werden kann. Oder etwas weniger theoretisch ausgedrückt: Der Schweizer Parlamentarier ist durchwegs ein Feierabendpolitiker, selbst auf nationaler Ebene. Wir haben kein Berufsparlament. Ein Drittel der Mitglieder unserer Fraktion in Bern – der schweizerischen Volkspartei (SVP) - sind Selbständige. Anwälte und Bauern nicht mitgezählt. Sie können mal nachrechnen, was im Deutschen Bundestag übrig bleibt, wenn Sie die Lehrer und Verbandsvertreter abzählen. Unser Milizsystem ist einer der grossen Pluspunkte. Ohne Föderalismus wäre diese Milizarbeit jedoch nicht denkbar. Ich bin schon deshalb ein grosser Anhänger des Föderalismus. Ich weiss, dass in Deutschland aktuell eine Debatte über die Föderalismusreform geführt wird und viele gebrauchen dabei das Wort „Föderalismus“ mit einem Gesichtsausdruck, als ob es sich um eine gefährliche Krankheit handelte. Alle, die den Zentralstaat als Alternative predigen, tun dies. Denn Föderalismus heisst nichts anderes als Dezentralisation, d.h. so viel Eigenständigkeit, so viel Eigenverantwortung wie nur möglich auf jeder politischen Stufe. Der Föderalismus ist der einzige Weg, so etwas wie Wettbewerb innerhalb eines Staates herzustellen – sofern man nicht bloss von Föderalismus schwafelt, sondern ihn auch konsequent umsetzt. Seine wichtigste Funktion ist, dass er für den Bürger Ausweichmöglichkeiten schafft. 5. Steuerwettbewerb in der Schweiz Ich kann Ihnen das am Beispiel des interkantonalen Steuerwettbewerbs in der Schweiz verdeutlichen. Kürzlich hat ein kleiner, bislang wenig beachteter Bergkanton – er hat wenig reiche Leute, ist klein und abgelegen – ein neues Steuergesetz verabschiedet. Der Clou: Dieses beinhaltet einen degressiven Steuersatz. Das heisst, je höher das Einkommen, desto geringer nicht etwa die Steuer, aber immerhin der Steuersatz. Man muss sich diesen Steuersatz allerdings in Form von Bauklötzchen vorstellen. Alle zahlen den gleichen Prozentsatz für den ersten Bauklotz, sagen wir bis ca. 100'000 Franken Steuereinkommen. Den gleichen Prozentsatz dann für 100'000 bis 200'000 Franken. Ab einem Steuereinkommen von 300'000 Franken wird der Satz für die zusätzlichen Einkommen radikal gesenkt. (Diese Zahlen sind nicht verbindlich. Sie dienen nur der Veranschaulichung.) Was Sie als Wirtschaftsvertreter zusätzlich interessiert: Der besagte Kanton Obwalden hat auch die Bestimmungen für Unternehmenssteuern überarbeitet. Eingeführt wird eine Einheitssteuer von 6,6 Prozent (bisher 16 bis 20 Prozent), die in allen Gemeinden gilt. Für Firmen wird damit – unter Einbezug der direkten Bundessteuer – eine Gesamtsteuerlast von 13,1 Prozent resultieren. Sie können sich den medialen und politischen Aufschrei kaum vorstellen, nachdem das Obwaldner Volk dieses Steuergesetz an der Urne genehmigte. „Egoistisch“ und „verfassungswidrig“ waren noch die höflichsten Kommentare. Der Protest kam vornehmlich von links und von jenen Kantonen, deren Kreativität eher darauf ausgerichtet ist, neue Einnahmequellen zu erschliessen statt die Bürger zu entlasten. Dass sich schlussendlich auch noch die EU bemüssigt fühlte, die tiefen, degressiven Steuersätze als mit dem Freihandelsabkommen unvereinbar zu erklären, war dann doch des Bösen zuviel. Was aber in diesem Fall den Protest erschwerte (und darum habe ich das Beispiel besprochen) war der Umstand, dass dieses neue Steuergesetz nicht etwa von oben verordnet, sondern durch einen Volksentscheid legitimiert wurde. Damit sind wir wieder beim zweiten Sonderfall angelangt. Weltweit einzigartig ist der direktdemokratische Aufbau der Schweiz. Das heisst: Die Bürgerinnen und Bürger können nicht nur wählen, sondern auch über Sachfragen abstimmen. In diesem Fall haben überwältigende 86% der Obwaldner Bevölkerung für dieses neue Steuergesetz votiert. Der Souverän hat entschieden. Punkt. Es ist also so, dass in der Schweiz der Bürger – und damit auch jeder Steuerzahler – über die Höhe der Staatseinnahmen bestimmen kann. Die Tatsache, dass unsere Mehrwertsteuer bei 7,6% liegt, haben wir insofern mehr dieser Kompetenz und nicht etwa der Einsicht von Politikern zu verdanken. Erst kürzlich schickten die Schweizerinnen und Schweizer eine Mehrwertsteuererhöhung von einem Prozent bachab. Und erst noch eine, die zweckbestimmt war für die populäre Alters- und Hinterbliebenenversicherung. Auch einer Mehrwertsteuererhöhung von 0,1% müsste obligatorisch die Mehrheit des Volkes und die Mehrheit der Kantone zustimmen! Sie begreifen den Unterschied, wenn sie sich erinnern, wie leicht und schnell CDU/CSU und SP nach den Wahlen einer Erhöhung um 3% Mehrwertsteuer zustimmten. Das wäre in der Schweiz unmöglich. 6. Die direkte Demokratie Die direkte Demokratie betrifft das eigentliche Wesen der Schweiz. Wenn wir vom Sonderfall Schweiz sprechen, dann ist diese Einrichtung gemeint. Die direkte Demokratie ist die Staatsform des Misstrauens. Und ich muss Ihnen gleich sagen, ich halte das Misstrauen der Bürger gegenüber den Politikern für eine Tugend, ja für eine Notwendigkeit. Mit der direkten Demokratie kann sich dieses Misstrauen eben umgehend äussern: Nämlich in der Möglichkeit, Nein zu sagen. Was schon ganz wichtig sein kann. Es ist ja bereits viel erreicht in der Politik, wenn man Unsinn verhindern kann. Man hat übrigens meine Partei öffentlich gerne als Nein-Sager-Partei abqualifiziert. Dabei zeigte das Etikett bloss, dass wir ordnungspolitisch auf Kurs blieben, wo alle anderen umfielen. Die direkte Demokratie – dazu gehört auch das Initiativ- und Referendumsrecht – fördert die Teilnahme der Bürgerinnen und Bürger an der Politik. Denn jeder sieht, dass es auf ihn ankommt. Insofern führt das auch zu grösserer Selbstverantwortung und Selbstverpflichtung gegenüber der res publica. Ich wäre ohne direkte Demokratie wohl kaum in die Politik gegangen, hätte die Doppelbelastung wegen zu grosser Ineffizienz nicht in Kauf genommen. Mit Referenden und Initiativen ist in grossen Fragen Einfluss zu gewinnen. Die wohl bedeutsamste Entscheidung war das Volks-Nein gegen den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) 1992. Hätte damals der Souverän anders gestimmt, wäre die Schweiz heute wohl Mitglied der EU! 7. Die Seele der Schweiz Ich habe über den Sonderfall „Unternehmer in der Politik“ gesprochen und Ihnen dargelegt, wie speziell die Schweizer Staatsmechanik funktioniert. Somit sind wir bei der dritten Stufe angelangt: Die Schweiz in Europa. Die Schweiz ist – falls es Ihnen entgangen sein sollte – nicht Mitglied der Europäischen Union. Machen wir uns nichts vor: Diese Nichtmitgliedschaft wäre ohne die direkte Demokratie, das heisst ohne ein deutliches Nein der Schweizer Bevölkerung zum Beitritt undenkbar. Zuletzt stimmten 2001 77% gegen einen Beitritt. Umgekehrt wäre aber auch die direkte Demokratie und eine EU-Mitgliedschaft schlicht unvereinbar. Wenn ich heute also von einem dreifachen Sonderfall spreche – vom Unternehmer in der Politik, von den Besonderheiten des schweizerischen Politsystems und der Stellung unseres Landes in Europa – habe ich das Pferd eigentlich von hinten aufgezäumt. Die Schweiz, wie sie heute ist, ist nur als souveränes Konstrukt denkbar. Unsere Nichtmitgliedschaft ist keine generelle Absage an die EU als Gebilde, sondern in erster Linie ein Bekenntnis zu dem, was die Schweiz ausmacht. Ein Beitritt hätte für uns weit substanziellere Folgen als für alle anderen Staates dieses Kontinents – und ich spiele damit nicht nur auf den Wegfall des Bankgeheimnisses an. Es gibt – und das sage ich Ihnen auch als ehemaliger Unternehmer – es gibt Dinge jenseits von Angebot und Nachfrage. Die Schweiz hat ihre Rolle und auch Aufgabe als neutraler Kleinstaat in der Weltgemeinschaft gefunden. Das heisst nicht Abschottung oder Abwehr gegenüber allem Fremden. Wir zählen über 22 Prozent Ausländer. Dies stellt eine der höchsten Quoten in Europa dar. Ungefähr ein Drittel der Bevölkerung hat ausländische Wurzeln. Unsere Wirtschaft ist extrem exportorientiert. Die Schweizerinnen und Schweizer sind mit der Welt verbunden, reisen, reden in verschiedenen Sprachen, wir sind ein Tourismusland – aber wir beharren auf unserer Souveränität. Oder um es auf eine Formel zu bringen: Wir sind weltoffen, ohne uns deswegen einbinden zu lassen. Auch nicht in die Europäische Union. Ich meine, dies sei zukunftsweisend! Föderalismus, Neutralität, direkte Demokratie sind für unser Land mehr als nur schmückendes Beiwerk. Diese politischen Einrichtungen bilden das eigentliche Wesen oder wenn Sie so wollen, sie bilden die Seele der Schweiz. Auf seine eigene Seele sollte aber kein Land freiwillig verzichten. Das sage ich Ihnen als Schweizer in Europa und als ehemaliger Unternehmer, der nun in der Regierung tätig ist.
20.05.2006
Blocher warnt von einem sinkenden Lebensstandard
«Bundesrat Christoph Blocher rät vom Agrarfreihandel mit der EU ab. Mit diesem Schritt sänken nicht nur die Preise, sondern auch die Löhne und die Qualität.» 20.05.2006, TagesAnzeiger, Anetta Bundi und René Lenzin Sind die Schweizer Manager fähige Leute? Bundesrat Christoph Blocher: Im Vergleich zu ihren Kollegen im Ausland schneiden sie gut ab. Das zeigt sich an den Resultaten, die sie mit ihren Unternehmen vorweisen können. Dies hat vermutlich mit dem hohen Stellenwert zu tun, der in der Schweiz der Eigenverantwortung sowie zuverlässiger, seriöser Arbeit eingeräumt wird. Das wird international sehr geschätzt. Früher hat man von Ihnen kritischere Töne vernommen. In der Swissair-Krise haben Sie sich etwa lautstark über den Filz in den Chefetagen beklagt. Ist er verschwunden? Der Untergang der Swissair hat viele Firmen dazu veranlasst, die gegenseitigen Verflechtungen zu lockern. Unternehmen wie die UBS beispielsweise haben zudem fremde Beteiligungen verkauft, jüngst etwa Motor Columbus. Es ist also einiges gegen den Filz getan worden. Leider fängt es jetzt aber wieder an: Meines Erachtens haben Vertreter der Banken in den Verwaltungsräten von Firmen, denen sie Kredite geben, nichts verloren. Das gilt natürlich auch umgekehrt. Das hört Ihr Parteikollege Peter Spuhler, der als Industrieller im Verwaltungsrat der UBS sitzt, vermutlich nicht gern. Ich weiss nicht, ob es überhaupt Kredite braucht. Da es nicht mehr viele Industrielle gibt, ist er natürlich gefragt. Aber auch er muss aufpassen, dass er nicht zuviele Verwaltungsratsmandate annimmt. Mit der Aktienrechtsrevision schlagen Sie vor, dass sich die Verwaltungsräte jedes Jahr einer Bestätigungswahl stellen müssen. Hilft dies gegen Lohnexzesse? In den grossen börsenkotieten Gesellschaften besteht heute tatsächlich die Gefahr, dass sich die Verwaltungsräte und Manager auf Kosten der Aktionäre bereichern. Letztere können ihre Interessen häufig nicht richtig wahrnehmen. Indem ihnen neu das Recht eingeräumt wird, die Verwaltungsräte jedes Jahr einzeln zu bestätigen, wieder- bzw. nicht zu wählen, können sie künftig über deren Leistung und bei Transparenz auch über deren Entschädigungspolitik befinden. Die Rechte der Aktionäre sind zu stärken. Die dazu nötigen Rahmenbedingungen muss der Staat schaffen: Er muss dafür zu sorgen, dass möglichst viele Unternehmen erfolgreich geführt werden und dass dasPrivateigentum – hier der Aktionäre – geschützt wird. Die Wirtschaftsverbände setzen aber lieber auf Selbstregulierung. Die von der Börse und den Wirtschaftsverbänden erlassenen Regeln sind nicht schlecht. Sie können aber jederzeit wieder geändert werden und genügen nicht. Um das Eigentum der Aktionäre zu wahren, braucht es verbindliche Schutzvorschriften. Die Wirtschaftsverbände, die durch die Verwaltungsräte von Firmen bestimmt werden, sind nicht geeignet um die Interessenabgrenzungen zwischen Verwaltungsräten und Aktionären zu lösen. Hier ist der Staat als Beschützer der Freiheitsrechte gefordert. Es wäre den Verwaltungsräten lieber, wenn sie nicht jedes Jahr gewählt werden müssten. Also sind die Verbände dagegen. Sie haben die Wirtschaftsverbände schon früher kritisiert. Was müssen sie ändern? Sie müssen eine radikalere Ordnungspolitik verfolgen. Kompromisse können dann immer noch die Politiker schliessen. Einen strammeren Kurs zu vertreten, ist aber nicht so einfach. Wer vom Staat für die Forschung 30 Millionen Franken offeriert erhält, sagt dazu ungern Nein, obwohl es ordnungspolitisch falsch ist. Hier braucht es von den Verbänden mehr Mut. Als Bundesrat können Sie aber auch nicht immer die reine Lehre vertreten: Der hoch subventionierten Landwirtschaft würde mehr Markt jedenfalls nicht schaden. Die Landwirtschaft untersteht in keinem Land der Welt der freien Marktwirtschaft. Dieser kann man nur Bereiche unterstellen, auf die man verzichten kann. Gemäss Verfassung müssen die Bauern jedoch die Landschaft pflegen, Nahrungsmittel herstellen und für die dezentrale Besiedlung sorgen. Nicht alle diese Aufgaben können im freien Markt erfüllt werden. Deswegen müssen die Bauern dafür vom Staat abgegolten werden. Natürlich kann man zum Schluss kommen, man wolle den Boden lieber verganden lassen. Dann müsste man aber zuerst die Verfassung ändern. Wären Sie dafür? Nein. Als ich vor einer Woche zur Bauernversammlung nach Huttwil gefahren bin, ist mir wieder einmal aufgefallen, wie liebevoll die Landschaft gepflegt wird. Ich finde, wir müssen uns das auch in Zukunft leisten. Aber die Nahrungsmittelproduktion selbst hat sich am Markt zu orientieren. Müsste man aber nicht den Agrarmarkt mit der EU öffnen, damit die Schweizer Landwirtschaft kompetitiver wird? Machen wir uns keine Illusionen: Falls die Marktöffnung auch alle vor- und nachgelagerten Bereiche der Landwirtschaft erfassen soll, werden nicht nur die Preise, sondern auch die Löhne und die Qualität sinken. Es ist dann zwar möglich, billiger zu produzieren. Damit sinkt bei uns aber auch der Lebensstandard. Das wollen wir doch nicht! Letztlich ist es wie beim EWR: Wir müssen uns entscheiden ob wir ein hochqualitatives Land bleiben wollen oder nicht. Wenn wir alles nivellieren, können wir zwar Massenware herstellen wie die anderen. Für Besonderheiten würden wir uns dann aber nicht mehr eignen. Aber dies ist die Stärke und die Chance der Schweiz. Das ist auch der Grund, weshalb ich mich für einen starken Patentschutz einsetze. Der Forschungsstandort Schweiz ist zu erhalten. Also sind Sie gegen den Agrarfreihandel? Es ist ein offenes Geheimnis, das ich im Bundesrat zu den Bremsern gehöre. Der Agrarfreihandel würde nicht nur den Bauern grossen Schaden anrichten. Ich staune etwas, wie oberflächlich die Debatte geführt wird. So auch beim «Cassis de Dijon»-Prinzip. Damit will man ja, dass die in der EU zugelassenen Güter automatisch auch in der Schweiz frei zirkulieren können. Will man dies tun, muss man die Qualitätsvorschriften ändern. Zum Beispiel wieder Käfighühner zulassen, Prüfungserfordernisse beim Joghurt ändern usw. Das kann man tun. Aber will man das? Das ist für die meisten Konsumenten nicht mehr so wichtig. Viele Schweizer fahren Monat für Monat ins Ausland, um billigere Lebensmittel einzukaufen. Ich bin mir nicht sicher, ob wirklich ein Umdenken stattgefunden hat. Die meisten wollen zwar billigere Produkte, sie sind aber nicht bereit, die hohen Qualitätsstandards aufzugeben, sie wehren sich dagegen, zum Beispiel gentechnisch veränderte Lebensmittel ohne Anschreibepflicht zuzulassen. Auch dies müsste geschehen. Nun staunen wir aber doch etwas: Ausgerechnet Bundesrat Blocher, der sonst stets über zuviele Vorschriften klagt, verteidigt jetzt die Schweizer Regulierungswut. Wie ist dieser Gesinnungswandel zu erklären? Selbstverständlich bin ich immer noch für einen radikalen Abbau der Vorschriften. Von mir sie nicht. Aber man kann nicht beides haben: Man kann nicht billiger produzieren und die Qualität auf dem gleichen Niveau halten. Ob beim Joghurt Zusatzstoffe speziell vermerkt sind, ist mir egal. Vielen ist dies aber wichtig, darum wurde es ja beschlossen. Man darf daher nicht so tun, als ob man die Importe über Nacht vereinfachen könnte. Zuerst muss geklärt werden, auf welche Sonderregeln Parlament und Volk zu verzichten bereit sind. Jetzt wird das Wirtschaftdepartement frei. Reizt Sie ein Wechsel - trotz Ihrer Skepsis gegenüber diesem Departement? Ich habe tatsächlich einmal provokativ gesagt, dass es in einem Land mit freier Marktwirtschaft eigentlich kein Departement braucht, das die Wirtschaft reguliert. Auf Exportförderinstrumente und die Unterstützung von Bereichen, die der freien Wirtschaft unterstehen, könnte meines Erachtens verzichtet werden. Also wäre der Wechsel für Sie eine Horrorvorstellung? Sie meinen, der Staat sei für mich an sich eine Horrorvorstellung (lacht), aber Spass beiseite: Ob ich wechsle, wird sich an der Bundesratssitzung vom 16. Juni entscheiden. Im Moment habe ich mit der Revisionsaufsicht, dem Aktienrecht und dem Patentrecht viele wichtige Wirtschaftsvorlagen in meinem Departement. Haben Sie genug Zeit, um sich auch noch mit den Geschäften anderer Departemente zu befassen, wie Sie es sich bei Amtsantritt vorgenommen haben? Ich habe meine Zeit so eingeteilt, dass ich die Hälfte für die anderen Departementsgeschäfte, die im Bundesrat entschieden werden, aufwende. Man wirft mir bisweilen vor, ich mische mich zu fest ein, aber dies ist sehr wichtig. Nehmen Sie das öffentlich bekannte Swisscomgeschäft: Die Intervention hat dazu geführt, dass auf den Kauf der irischen Eircom - und damit auf Milliarden von Fehlinvestitionen - verzichtet wurde, dass man die Strategie geändert und – als Folge davon - das Management ausgewechselt hat. Das wichtigste Ziel ist erreicht. Ob der letzte Schritt, die Verselbständigung gelingt, wird man sehen. Das braucht wohl noch etwas Zeit. Diese Vorlage zeigt aber doch: Letztlich sind Sie ein Oppositionspolitiker geblieben, der Dinge verhindern, aber kaum eigene Projekte durchbringen kann. In einem liberalen Staat ist es häufig das Wichtigste, Fehlentwicklungen zu verhindern. Zum Beispiel eine falsche Strategie wie bei der Swisscom. Zudem habe ich eigene Projekte durchbringen können. Unter vielen sei das Asyl- und Ausländerrecht genannt, das im Parlament neu aufgegleist wurde. Und bei der Verselbständigung der Swisscom ist auch noch nicht aller Tage Abend. So etwas kann vielleicht nicht schon beim ersten Anlauf gelingen. Was der Bundesrat beschlossen hat, war ein Richtungswechsel, und der wirft zunächst einmal alles aus den Geleisen. Das war wie beim Verzicht aufs Kernkraftwerk Kaiseraugst. Früher kämpften Sie allein gegen Regierung und Verbände. Jetzt hat man den Eindruck, Sie seien Teil des Establishments geworden. Gefällt es Ihnen in dieser Rolle? Ich habe eine andere Aufgabe als früher und bin daher zwangsläufig in den Strukturen des Establishments tätig. Mache dort Widerstand und gestalte wo nötig. Im Grossen und Ganzen gefällt es mir. Nicht weil ich viel schöne Arbeit verrichte, sondern weil die bisherige Bilanz stimmt: Politisch habe ich innerhalb der Regierung mehr erreicht als ausserhalb.
18.05.2006